Vielleicht erinnert sich ja die eine oder der andere hier noch an die linguistische Weihnachtsliedanalyse anno 2008: Damals habe ich mir angeschaut, warum die Alten sungen und nicht sangen und wieso die Kinderlein kommen sollen, nicht die Kindlein. In der diesjährigen Neuauflage geht es um die Krippen, die uns dann nach einigen Schlenkern auch verraten wird, warum wir Elisenlebkuchen essen:
Ich steh an deiner Krippen hier,
O Jesulein, mein Leben,
Ich komme, bring und schenke dir,
Was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Muth, nimm alles hin,
Und laß dirs wohlgefallen.(Und zum Anhören. Text: Paul Gerhardt, 1656) ((Wer, wie ich, von der Melodie verwirrt ist: Da gibt es zwei.))
Jeder nur eine Krippe!
Ganz offensichtlich ist hier von nur einer Krippe die Rede — trotzdem steht da Krippen! Und beim weiteren Durchforsten des Liedtextes tauchen noch mehr solcher Fälle auf:
Zur Seiten will ich hie und dar / Viel weiße Lilien stecken
Suchst meiner Seelen Herrlichkeit / Durch Elend und Armseligkeit
Was ist da los? Wenn wir die Formen nach der heutigen Grammatik analysieren, ist alles klar: Das müssen Mehrzahlformen sein.
Singular | Plural |
die Krippe (ist da) | die Krippen (sind da) |
(das Stroh) der Krippe | (das Stroh) der Krippen |
(mit) der Krippe | (mit) den Krippen |
(ich sehe) die Krippe | (ich sehe) die Krippen |
Nun macht das aber in den Fundstellen aus dem 17. Jahrhundert so gar keinen Sinn — das n muss sich also auf andere Weise erklären lassen: Da wird wohl irgendeine Art von Sprachwandel stattgefunden haben.
Wir haben bisher nur drei Beispiele, aber wenn man weitersucht, erkennt man schnell, dass das Phänomen besonders bei Substantiven auftrat, die Feminina sind: die Krippe(n), Seite(n), Seele(n) — aber nicht immer, und nicht bei allen: ((Mehr Beispiele für Feminina ohne n:
Es ist voll Labsal, Stärk und Saft, / Der Mark und Bein erquicket.
Schön ist der güldnen Sternen Schaar, / Dies Aeuglein sind viel schöner.
Du bist der Schöpfer aller Ding, / Ich bin nur Staub und Erde.))
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, / Herz, Seel und Muth, nimm alles hin
Die Sonne, die mir zugebracht / Licht, Leben, Freud und Wonne.
Wir bekommen hier ein System im Umbruch zu greifen. Lange, lange Zeit flektierten fast alle femininen Substantive im Deutschen auf eine von zwei Weisen — so wie in dieser Abbildung: ((Das ist natürlich grob vereinfacht, auf die ahd. Klassen gehe ich nicht im Detail ein und natürlich gibt es auch heute noch eine weitere Gruppe: Sie nutzt Umlaut und -e zur Pluralmarkierung, z.B. Kraft — Kräfte, Gans — Gänse usw., das sind aber nur noch so um die 40 Wörter.))
Beide Gruppen waren irgendwie unpraktisch: In manchen Formen hatten sie ein -n, in manchen nicht — aber ziemlich wild verteilt, man konnte das -n (oder seine Abwesenheit) nicht mit einer grammatischen Information verknüpfen.
Und was passierte dann? Es wurde aufgeräumt! Nach und nach vermischten sich die beiden Klassen im Sprachgebrauch und fanden schließlich zu einer neuen Ordnung: So wie in der o-Klasse setzten sich endungslose Singularformen durch, so wie in der n-Klasse setzten sich Plurale auf -n durch:Das neue System war ziemlich praktisch: Mehrzahl wurde direkt durch eine Endung ausgedrückt, das -n hatte also (wieder) eine grammatische Funktion bekommen.
Solche Neuordnungen passieren von Zeit zu Zeit und ganz von selbst — weil wir permanent unbewusst nach Mustern suchen. Wer schon einmal länger auf eine Rauhfasertapete geschaut hat, weiß sicher, wovon ich spreche … und mit sprachlichem Material geht das ganz ähnlich.
Unsere Krippe gehörte vormals zur o-Gruppe, war sich dessen aber bereits im Althochdeutschen (500‑1050) nicht ganz sicher und zeigte gelegentlich auch Verhalten, das besser zur n-Gruppe passte — so wie in unseren ersten Beispielen.
Frauen Die auch Feminina Sind
Auch Frauennamen flektierten früher, und zwar nach der n-Gruppe. Ein eindrucksvolles Beispiel steckt in einer Chronik von 1744:
Tobias Besser, ein Stadt-Kind, gebohren 1675 den 15den April. Sein Herr Vater war Weiland Herr Urbanus Besser, Churfürstlicher Sächsischer Amts-Voigt allhier, und die Frau Mutter Anna Dorothea, gebohrne Prätoriußin, studirete zu Bautzen und Wittenberg. Jm Jahre 1704 den 27sten September bekam er die Vocation zum Collaboratore. Er hat sich viermahl verehelichet: 1) im Jahre 1705 den 28sten Julii mit Frau Annen Reginen, verwittibten Schreyerin, gebohrnen Lehmannin; 2) im Jahre 1707 den 18den Januarii mit Jungfer Johannen Magdalenen, gebohrnen Pierschickin, mit welcher er 3 Söhne und 5 Töchter gezeuget; 3) im Jahre 1725 den 25sten September mit Jungfer Annen Dorotheen, gebohrnen Nicolin, mit welcher er 4 Söhne und 3 Töchter gehabt; und 4) im Jahre 1739 den 8ten September mit Jungfer Annen Marien, gebohrnen Panaschin.
Bei Goethe finden sich ebenfalls Reste der alten Formen — da ist im Werther dauernd von Lotten die Rede und bei Wilhelm Meister hat man mit Marianen zu tun.
Auf diese Weise sind auch Komposita wie Elisenlebkuchen, Luisenschule, Marienerscheinung, Elisabethenkrankenhaus, Dorotheenstädischer Friedhof zu erklären: In ihnen sind die alten Genitivformen auf -n erstarrt.
Die Frauennamen klinkten sich aber irgendwann aus und beschritten einen Sonderweg: Ihren Genitiv bilden sie heute auf ‑s, so wie Maskulina und Neutra (Elisabeths (F) Hut, infolge des Unfalls (M), wegen des Attentats (N)). Erste Ansätze dazu sieht man auch bei Goethe schon, als von Marianens Liebe die Rede ist — eine Form, die das Alte und das Neue vermischt. Das ist eine Technik, die eigentlich die Maskulina in der deutschen Sprachgeschichte perfektioniert haben, doch dazu ein andermal.
Exkurs auf die Wiesn
Nun wird es etwas unweihnachtlich, aber Oktoberfest und Dezember lassen sich doch prima verbinden. Wo wir im Standarddeutschen von einer Wiese sprechen würden, hat das Bairische eine Wies(e)n: Dort ist das -n nicht aus dem Singular ausgewandert sondern hat es sich, im Gegenteil, in allen Formen gemütlich gemacht — auch im Nominativ, wo es vorher nicht auftrat.
Damit erfüllt das -n keine grammatische Funktion mehr, denn Singular und Plural lauten ja nun gleich — auch solche Entwicklungen gibt es also.
Mehr Beispiele gefällig? Obwohl man den Satz
Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein allein auszutrinken, du musst erst noch wachsen und größer werden.
auf der Wiesn wohl kaum hören würde, eignet er sich wunderbar zur Illustration des Phänomens — man sagt im Bairischen eine Flaschen.
Warum ich so ein komisches Beispiel auswähle? Das hat sich Georg Wenker ausgedacht, als er im 19. Jahrhundert großräumige Dialekterhebungen im damaligen deutschen Reich unternahm. ((Aus heutiger Sicht ist das auch bei weitem nicht das Absurdeste, schauen Sie mal rein!))
Aber uns interessiert ja daran nur die Flasche(n), und die wurde damals schön kartiert. Sie sehen unten rechts sofort das olivgrün eingrenzte Gebiet mit dem n in der Mitte: Dort übersetzten die meisten Sprecherinnen und Sprecher Flasche mit Flasch(e)n. Das klingt dann zum Beispiel so. ((Mittelbairisch, Quelle.)) Fast überall sonst sagt man dialektal hingegen Flasche oder Flasch und hat noch Material übrig, um die Mehrzahl zu markieren.
Und bei diesem winzigen Einblick in die deutsche Substantivflexion will ich es dann auch für heute belassen — schließlich gilt es panische Einkäufe zu tätigen, Bäume zu schmücken oder den ganzen Spaß angestrengt zu ignorieren. Ganz egal wofür Sie sich entscheiden — haben Sie einen tollen Tag und vergessen Sie nicht, eine Flaschen Wein auszutrinken. Natürlich nur, falls Sie schon groß genug sind!
Quellen:
- Braune, Wilhelm & Ingo Reiffenstein (2004): Althochdeutsche Grammatik. Bd. 1. 15. Aufl. Tübingen.
- Kopf, Kristin (2010): Flexionsklassen diachron und dialektal: Das System der Substantivklassen im Alemannischen. Magisterarbeit. Uni Mainz.
- Nübling, Damaris (2008): Was tun mit Flexionsklassen? Deklinationsklassen und ihr Wandel im Deutschen und seinen Dialekten. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 75.3, 282–330.
Danke für diesen erhellenden Kommentar zu meinem Lieblingslied. Ich übe es gerade auf dem Klavier (die schöne Melodie mit dem chromatischen Schluss, nicht die langweilige).
Jetzt wissen wir also, wie es zu dem Singular “Krippen” gekommen ist. Und wie ist es mit “Weihnachten”? Ist “Frohe Weihnachten” Singular oder Plural oder was? Und — etwas verfrüht gefragt — was ist mit “Ostern” und “Pfingsten”?
Frohe Weihnachten!
Ich übe es grade zu singen 😉 Die Weihnachten sind übrigens hier zu finden, zu Ostern habe ich hier mal was geschrieben. Nur Pfingsten habe ich bisher noch nicht flexionsmorphologisch, sondern nur lautlich betrachtet. Viel Spaß beim Lesen also — und auch Ihnen schöne Feiertage!
Danke für die Links — wieder viel gelernt! Und dann noch viel Spass beim Singen — das Lied ist so schön, Text wie Musik.
Stehe ich auf dem Schlauch oder sind die meisten Beispiele für Feminina ohne “en” etwas ungünstig gewählt? “Sonne” im Beispiel im Text ist Nominativ, ebenso “Schaar” und “Erde” in der Fußnote. Im Dativ, wie “Krippen” im Lied, steht keines.
Im Übrigen frohe Weihnachten! Ich will ja nicht nur rummotzen.
@David: Ja, das stimmt. Dative ohne n hat das Lied leider nicht zu bieten, aber man sieht ja an den heutigen Formen, dass sie irgendwann ins Spiel kamen. Ich wollte eigentlich auch noch Fälle raussuchen, bei denen das n auch (wie im Bairischen) im Nominativ auftritt, dachte dann aber, es würde zu komplex. Hier gibt es sowas zum Beispiel. Und ebenfalls frohe Weihnachten! 🙂
Gilt das nicht auch für manche Maskulina? Spontan fällt mir der Mast ein, vgl. “Nein zum Handymasten in Bad Mitterndorf!“
Was mit den Endungen fällt natürlich auch auf wenn sich Opernlibretti anschaut. So gibt es “Paminen” beim Schikaneder und Floristan singt beim Beethoven noch “ein Engel Leonoren zur Seite mir stellet”. 😉
Ad Astra
Mein Mansfelder Opa praktiziert das bei Frauennamen noch: Das ist Ingen ihr Glas. Das ist Julikan ihr Buch.