Der VDS setzt sich neben wenig erfolgreichen Versuchen, Deutsch als Amtssprache im Grundgesetz zu verankern, seit Jahren auch für eine Quote ein, die den Anteil an deutschsprachiger Musik im Radio erhöhen soll. Der neuste Vorstoß kommt jetzt mit einem offenen Brief an die Mitglieder des Rundfunkrats, der auf Grundlage einer VDS-Erhebung die Einführung einer solchen Radio-Quote fordert.
In der Pressemeldung des VDS heißt es:
„Fast die Hälfte unter den 100 bisher meistverkauften Alben des Jahres 2014 bringen deutschsprachige Musik“, erläutert der VDS-Vorsitzende Walter Krämer. „Aber die Amitümler in den Musikredaktionen deutscher Rundfunksender dudeln 90% Stücke mit englischen Texten ab.“
Na? Richtig, die Sache mit den Äpfeln und den Birnen und den Erdnüssen.
Denn was Krämer hier aufeinander bezieht, sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Wenn die Hälfte der 100 meistverkauften Alben Musik in deutscher Sprache enthält, bezieht er sich auf Typen (weil es Verkaufszahlen ignoriert). Er vergleicht es dann mit der Frequenz, mit der Lieder im Radio gespielt werden. Zwar steht nirgendwo, wie der VDS die Titel gezählt hat. Aber wenn die Erhebung durchschnittlich 258 Titel je 24 Stunden ausgibt, dann sind das etwa 37 Minuten Musik pro Stunde (angenommen ein Lied dauert im Schnitt 3′30″). Wenn man noch Zeit für Nachrichten, Verkehr, Werbung, Gesabbel, Themenblöcke und Jingles einkalkuliert, lässt das also vermuten, dass der VDS die einzelnen Token der Musikstücke gezählt hat.
Typen und Token miteinander zu vergleichen ist keine besonders gute Idee. Denn das mit den Äpfeln und Birnen geht so: es wäre theoretisch möglich, dass die 50 meistverkauften Top-100-Alben Musik auf Englisch enthalten und die weniger häufig verkaufte zweite Hälfte auf Deutsch gesungen sein könnte (Typen). Dann würde bei jeden 100 tatsächlich verkauften Tonträgern (Token) aber natürlich auf weit mehr als der Hälfte auf Englisch gesungen. Somit wäre der Umstand realistisch, dass im Radio zu 90% englischsprachige Musik gespielt wird. Krämer würde sich die Diskrepanz zwischen Publikumswunsch und Rundfunkrealität in diesem Fall schlicht zusammenfantasieren.
Nun ist es aber so, dass sich in den aktuellen Albumcharts auf den ersten 15 Plätzen fast ausschließlich deutsch singende Künstler/innen befinden: Helene Fischer, Adel Tawil, Revolverheld, Andreas Gabalier, Oonagh, Peter Maffay, Santiano, Andrea Berg, Unheilig und Marteria (danach dünnt sich die deutschsprachige Vielfalt deutlich aus). Krämer könnte also recht haben — wäre da nicht das mit den Birnen und den Erdnüssen. Denn diese Musiker/innen sind, angeführt von Helene Fischer (Platz 1 & 2), mehrheitlich Schlager- und Volksmusiker/innen, und die sind bekannt dafür, allgemeine Albumcharts zu dominieren.
Die Erhebung des VDS untersucht aber überwiegend das Programm von Radiosendern, die überhaupt keine Schlager spielen. Die Ausnahmen WDR4, MDR1 und SWR4 RP haben dementsprechend einen Anteil von deutschsprachiger Musik von 38%, 42% und 73%. Also selbst wenn der VDS oben tatsächlich Typen gezählt haben sollte (was angesichts des repetitiven Programms der deutschen Radiolandschaft unwahrscheinlich ist), hat der VDS nicht das gemessen, was der VDS glaubt, gemessen zu haben und schon gar nicht das, was der VDS da reininterpretiert.
Für Krämer kommt es noch dicker: im Radio werden nicht Alben gespielt, sondern Singles. Wenn man Publikumswunsch und Rundfunkrealität zueinander in Beziehung setzen will, muss man sich aber auch Singlecharts anschauen. Und dort finden sich auf den ersten 50 Plätzen ganze sechs neun deutschsprachige Lieder.
Der offene Brief tritt mit dem Argument an, der Rundfunk verweigere sich dem Wunsch des Publikums nach deutschsprachiger Musik. Dieser Zusammenhang ist mit den VDS-Daten aber mutwillig falsch hergestellt. Man könnte natürlich darüber diskutieren, was was bedingt (also ob wir kaufen, was das Radio spielt, oder ob das Radio spielt, was wir kaufen), oder sich mal allgemein über die Qualität des Rundfunks unterhalten. Man könnte aber auch sagen: die große Vielfalt an Radiosendern spielt das, was ihr jeweiliges Publikum gerne hört — weil, mal ehrlich, werden Sie zum Hören gezwungen oder schalten Sie bei Nichtgefallen aus, um oder gar nicht erst ein? Wenn ich Helene Fischer nicht hören will, höre ich auch keinen Sender, der Helene Fischer spielt (zum VDS-Quotengeschmack hat Anatol schon 2008 was geschrieben). Man könnte auch sagen: Die Hörer/innen bleiben dort, wo’s ihnen gefällt. Welchen Kulturauftrag würde „der Rundfunk“ erfüllen, wenn er mir von morgens bis abends Andreas Gabalier & seine wenigen hochfrequenten Typen reinquotieren müsste?
Krämer und der VDS reduzieren mit erstaunlichem statistischen Missverstand einen bunten Obstsalat auf einen kargen Erdnusskrümel. Aber das mit der Typen-Token-Unterscheidung hat man beim VDS ja schon mit Anglizismen nicht verstanden. Würden wir Krämers Logik auf Anglizismen anwenden, müsste er eine Anglizismenquote für den deutschen Sprachgebrauch fordern, weil die Abspielfrequenz von Anglizismen (ca. 2–3%) ihren Anteil am Lexikon (ca. 3–6%) nicht adäquat widerspiegelt.
Was macht Herr Krämer eigentlich beruflich? 😉
Kleine Korrektur: ich komme in den verlinkten Top 50 (Stand 21.11., 9:42) nicht auf sechs deutschsprachige Stücke, sondern auf neun — Atemlos durch die Nacht (1), Auf uns (9), Ich lass für dich das Licht an (10), Au revoir (11 — ja, trotz des französischen Titels 😉 ), Lieder (12), Traum (18), Liebe (31), Kids (2 Finger an den Kopf) (40), Willst du (42). Was die Argumentation des VdS natürlich kein bisschen weniger absurd macht.
Ich mag übrigens auch die Referenz in der Überschrift. Hihi.
Sehr unterhaltsam, vielen Dank dafür! Man beachte dabei, dass Herr Krämer Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik ist. Auch ich habe ihn schon im Namen des VDS mit “Zahlenspielereien” ertappt: http://spraachenblog.wordpress.com/2012/08/09/wer-wird-sprachpanscher-des-jahres-2012-und-vor-allem-wen-interessiert-das-uberhaupt/
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Herr Krämer den Zahlentopos für sich entdeckt hat und dann die Pferde mit ihm durchgehen …
Ich stelle die Syntax im 3. Satz besser um: Auch ich habe ihn schon mit “Zahlenspielereien” im Namen des VDS ertappt.
Schöner Vergleich von Musik-Rotation und Korpuslinguistik. Ich würde da noch einen Aspekt erwähnen wollen: Ist denn das “Korpus” überhaupt repräsentativ? Wobei man sich fragen muss, wie Adam Kilgarriff mal schrieb: “Representative of what?”
Beispiel: Dota Kehr schreibt, singt und spielt deutschsprachige Lieder. Sie hat ihre eigene Plattenfirma. Beim Tourauftakt in Tübingen war das örtliche größte Kulturhaus restlos ausverkauft, bei fast 20€ Eintritt. Im Radio läuft Dota Kehr höchstens ganz am Rande in einer Sparte oder in den freien Radios. Ob sie mit ihrer eigenen Plattenfirma in den Verkaufscharts überhaupt vertreten sein kann, entzieht sich meiner Kenntnis.
Für mich ist Dota Kehr mit Band jedenfalls eine der seltenen perfekten Symbiosen von (deutschsprachigen) Worten und Musik. Schade, dass nichts davon in den Überlegungen selbsternannten Sprachretter des VDS aufzutauchen scheint?
Oder vielleicht auch nicht schade, sondern schlicht egal?
@ospero: Danke!
@Peter: tja, das hab ich mich auch gefragt.
@Toc8: die Repräsentativität ist eine nicht unspannende Frage, indeed. Das Problem des VDS ist ja zunächst, dass zu viele offensichtlich komplexe Abhängigkeiten in eine zweidimensionale Frage reingeworfen werden (die mMn so überhaupt nicht operationalisierbar ist.) Es ist gut möglich, dass die Senderauswahl in der Erhebung des VDS den tatsächlichen Anteil an „Schlager-Sendern“ vernünftig repräsentiert. Die Tatsache aber, dass Schlager in den Albumcharts so stark vertreten sind, in den Singlecharts weniger, könnte auch daran liegen, dass die Zielgruppe des Schlagers halt einfach Alben kauft und zwar zahlreich (aber auch nur von einigen wenigen Szenestars). Es gibt aber wenige® Sender, die überwiegend Schlagermusik & Co spielen. Die Schlager-Zielgruppe würde also vermehrt diese Sender hören. Wie man diesen Umstand in eine „Repräsentativität“ bei der Korpusauswahl mit einbezieht, darüber müsste ich etwas nachdenken (ich bin skeptisch, dass das ohne massive Abstriche möglich ist). Selbst wenn es gelänge, müsste man die Zahlen unter Einbezug der genannten Faktoren sinnvoll auseinanderdröseln und vorsichtig interpretieren.
Beispiele wie Dota Kehr gibt es massenweise in allen Sparten, egal in welcher Sprache gesungen wird. Musikvorliebe ist ja primär eine Geschmacksfrage, weshalb wir vermutlich alle aus unseren jeweiligen Geschmacksperspektiven zustimmen würden, dass die Qualität des Rundfunks verbesserungsfähig ist (siehe verlinkter Beitrag von Anatol). Qualität ist aber natürlich unabhängig von der Sprache der Titel.
“Lügen” ist ein hartes Wort, man kann es aber mal probieren. 😉
Wer noch auf die Zusammenfassungen von Statistiken reinfällt, ist mMn selber schuld.
Mal abgesehen davon, dass die jeweiligen Sender bei der Wahl ihrer Titel wohl eher auf das jeweilige Feedback ihrer regelmäßigen Stammhörer hören werden.
@Mycrost: Richtig, ich hatte für den Blogtitel eine stattliche Auswahl.
Aber wenn man das alles ganz korrekt vergleichen würde, hätte man doch keine Argumente für die eigene These. Das bringt mich zu der Frage, ob Krämer bewusst Äpfel mit Birnen vergleicht oder den Unterschied nicht kennt. Und das alles wegen eines gesellschaftlich nicht so relevanten Themas…
@Susanne: Als Inhaber eines Lehrstuhls mit der Zeichenfolge
statistik
in der Bezeichnung an einer Statistikfakultät gehe ich davon aus, dass er [ABSURDITÄTSAUSRUF EINFÜGEN].Diese VDSler erinnern mich an die Flamen, die für die brüsseler U‑Bahn die Parität zwischen französischen und flämischen Liedern forderten (ja, in der brüsseler U‑Bahn wird man aus blechernen Lautsprechern beschallt — eine Qual). Das Ergebnis: Da man nicht genug flämischen bzw. niederländische Lieder auftreiben konnte gibt es nun weder französische noch flämische Lieder mehr zu hören. Jetzt gibt es viel Englisch, manchmal Flamenco und viel Fahrstuhlmusik.
Meine Theorie wäre, dass er zwei Dinge zueinander in Bezug setzt, die schon was miteinander zu tun haben (Musikgeschmack), deren Zusammenhang aber nicht so eng ist, wie er suggeriert, aber nicht explizit behauptet, und darauf vertraut, dass einige Leute darauf reinfallen. “Test mit Hausfrauen haben das bewiesen” und so.
Selbst wenn man die recht freie Interpretation der Statistik außer acht lässt, ist nicht einzusehen, wieso Radiosender sich daran halten müssten. Z. B. gibt es erstmal keinen Grund zu der Annahme, dass Radiohörer und Albenkäufer eine besonders große Schnittmenge besitzen.
Normalerweise bedienen Sender bestimmte Musikgeschmäcker, und die, die die häufigeren Musikgeschmäcker treffen, haben eben mehr Hörer. Oder eben weniger, ist doch deren Problem.
(Mir ist schon klar, dass die VDS keine Unternehmungsberatung im Sinn hat.)
Ich möchte mich an dieser Stelle als Österreicher kurz herzlichst für Gabalier entschuldigen. Wir meinen das echt nicht böse.
@Vilinthril: ich musste mich immer sehr beherrschen, nicht Galabier zu schreiben.
Schöner Spoonerism. ^^
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