Eigentlich nur aus Spaß und/oder Prokrastination habe ich gerade getwittert, dass ich als Anglist natürlich für die schottische Unabhängigkeit sei, da eine größere Anzahl englischsprachiger Länder ja die Wichtigkeit meines Fachgebietes erhöhen würde. Daraufhin kam die Rückfrage, ob sich denn eine Unabhängigkeit Schottlands auf die Sprachentwicklung auswirken würde.
Das ist eine interessante Frage, auf die ich natürlich keine definitive Antwort habe, die mich aber dazu inspiriert, zu Ehren des Referendums wenigstens ganz kurz etwas über die Sprache und Sprachsituation in Schottland zu schreiben.
Zum einen hat das Englische die ursprüngliche Sprache der Region, das schottische Gälisch, fast vollständig verdrängt – nur noch etwas über ein Prozent der Bevölkerung spricht es muttersprachlich, und es ist (anders als das Walisische) keine Amtssprache im Vereinigten Königreich. Es gibt aber seit 2005 mit dem Bòrd na Gàidhlig eine schottische Regierungskommission, deren Ziel die Wiederbelebung dieser Sprache ist. Ein Fernziel ist dabei, das schottische Gälisch zu einer Amtssprache in Schottland zu machen.
Es ist zu vermuten, dass eine schottische Unabhängigkeit diesem Bestreben einen zusätzlichen Impuls verleihen würde, aber auch ohne Unabhängigkeit würde es ein Ziel der schottischen Regierung bleiben. Als Sprachwissenschaftler kann ich das nur begrüßen, denn Sprachvielfalt ist die Voraussetzung für ein umfassendes Verständnis der Funktionsweise menschlicher Sprache, und die keltischen Sprachen (zu denen das schottische Gälisch gehört), sind eine der faszinierendsten Familien innerhalb des Indo-Europäischen. Sie sind so andersartig, dass lange niemand erkannte, dass es überhaupt indo-europäische Sprachen sind, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag.
Zurück zum Englischen. Wer nie in Schottland war und Englisch nur aus Schule, Fernsehen und einem London-Urlaub kennt, weiß es vielleicht nicht, aber die starke kulturelle Eigenständigkeit, die Schottland schon immer hatte, hat sich auch schon immer auf die Entwicklung des schottischen Englisch (oder besser: des Scots) ausgewirkt. Das war und ist nämlich so deutlich anders als das englische Englisch, dass selbst in der Sprachwissenschaft Unsicherheit besteht, ob es als Dialekt des Englischen oder eher als eigene Sprache zu betrachten ist. Von der Sprachgemeinschaft wird es heute als Dialekt betrachtet, aber das hat hauptsächlich politische Gründe – vor dem Beitritt Schottlands zum Vereinigten Königreich im 18 Jahrhundert wurde es eher als eigene, wenn auch eng verwandte Sprache empfunden.
Und tatsächlich unterscheidet es sich so stark von der englischen (oder auch der amerikanischen) Standardsprache, dass eine gegenseitige Verständlichkeit kaum gegeben ist – eine einsprachige Sprecherin des Englischen und eine einsprachige Sprecherin des Scots könnten sich nur sehr mühsam und rudimentär unterhalten. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das eigentlich das Kernkriterium um zwei Sprachsysteme als unterschiedliche Sprachen zu klassifizieren.
Verkompliziert wird die Frage aber dadurch, dass das Scots hauptsächlich eine gesprochene Sprache ist – schriftliche Kommunikation, sei es in der Politik, im Bildungssystem oder in den Medien – findet hauptsächlich im britischen Standardenglisch statt. Das führt dazu, dass auch Muttersprachlerinnen des Scots mit Eintritt in das Bildungssystem das Standardenglische lernen, und das wiederum hat zur Folge, dass sich in Schottland eine Art regionale Variante des Standardenglisch herausgebildet hat, die zwar in ihrer Aussprache und in einigen wenigen Wörtern schottisch angehaucht ist, die aber ansonsten identisch mit dem englischen Standardenglisch ist.
Eine schottische Unabhängigkeit könnte zu mehr sprachlichem Selbstbewusstsein und damit zu einer stärkeren Verwendung des Scots auch in der schriftlichen Kommunikation führen. Anders gesagt, es könnte eine nationale Standardvarietät des Scots entstehen, die das Englische als Standardsprache irgendwann ersetzen würde.
Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie das sich anhören würde, hier zum Abschluss ein paar Beispiele aus Wortschatz und Grammatik.
Nehmen wir folgenden Satz aus einem Plädoyer für die Verwendung des Scots als Standardsprache (verfasst natürlich auf Scots):
As they gaed thair wey throu eddication on the gate tae professionalism, they got better an better at no yaisin thae words that thair forbeirs kent as freends.
Zunächst sehen wir hier ganz eigene Wörter, z.B. gate („Straße“, statt engl. road) in gate tae professionalism oder ken („kennen“, statt engl. know) in kent as freends. Weitere Beispiele für schottische Wörter, die man ab und zu auch im schottischen Standardenglisch hören kann, sind kirk („Kirche“, statt church), loch („See“, statt lake) und leid („Sprache“, statt language).
Außerdem sehen wir eigene Formen von Wörtern, die wir mit etwas Mühe als mit dem Englischen verwandt erkennen können, z.B. gaed als Vergangenheitsform von gae („gehen“, vgl. engl. go mit der Vergangenheitsform went) oder yaise („benutzen“, engl. use).
Schließlich sehen wir auch einen grammatischen Unterschied: no als Negativpartikel (statt engl. not) in to get better at no yaisin thae words. Die Negativpartikel kann auch die Form nae haben der zusammengezogenen Form (als sogenanntes Klitikum) wird daraus übrigens nae, wie in things widnae be sae fykie (engl. things wouldn’t be so complicated aus demselben Text). Das Wort fykie ist übrigens ein weiteres schönes Beispiel für ein genuin schottisches Wort dessen genaue Bedeutung gar nicht leicht zu beschreiben ist.
Ein weiterer deutlicher grammatischer Unterschied zwischen Scots und Englisch besteht darin, dass im Scots mehrere Modalverben kombiniert werden können z.B. will und can in Thay’ll no can come (engl. They’ll not be able to come), oder might und could in A micht could come (engl. I might be able to come).
Wer einen besseren Eindruck vom Scots bekommen möchte, dem sei als Einstieg die Scots Wikipedia empfohlen. Leicht ist es nicht, aber mit etwas Mühe und viel Raten kann man sich einlesen. Anfangen könnte man mit dem Eintrag über die schottische Unabhängigkeit, oder, wie die Scots-Sprecherin sagt, the Scots unthirldom.
Ist Scots in Hinsicht auf den Status als Sprache/Dialekt vielleicht mit Schweizerdeutsch vergleichbar? Auch in der Schweiz wird ja im Schriftlichen hauptsächlich Hochdeutsch verwendet, und die weitaus meisten (Deutsch-)Schweizer sprechen beides (gibt es eigentlich reine Scots-Sprecher, oder war das nur als Beispiel zu verstehen?).
Davon abgesehen: Die Frage “Sprache oder Dialekt?” hat natürlich immer auch eine politische Dimension. Kroatisch, Bosnisch und Serbisch als jeweils eigene Sprachen zu definieren, hat sicherlich mehr mit Politik als mit linguistischen Kriterien zu tun, ebenso wie die Einstufung von Mandarin und Kantonesisch (die meines Wissens deutlich weiter auseinander sind als Englisch und Scots) als Dialekte der gleichen Sprache.
Ja, das sind gute Beispiele – Kroatisch, Bosnisch (i.S.v. bosnischem Serbisch) und Serbisch würde nach sprachwissenschaftlichen Kriterien niemand als unterschiedliche Sprachen definieren (außer vielleicht ein paar politisch motivierte kroatische, bosnische und serbische Sprachwissenschaftler/innen). Mandarin und Kantonesisch sind dagegen zwei zwar verwandte, aber völlig unterschiedliche und gegenseitig nicht verständliche Sprachen, die sogar weiter auseinanderliegen als Französisch und Italienisch.
Was das Schweizerdeutsche angeht, da würde ich aus dem Bauch heraus sagen, dass es sich vom Standarddeutschen stärker unterscheidet als das Scots vom Englischen (exakt zu berechnen ist das natürlich nicht). Die soziolinguistische Situation ist aber durchaus vergleichbar, und zeigt, dass sogar Sprachgemeinschaften, die nie eine Nation gebildet haben, in der Lage und Willens sind, einen gemeinsamen Standard zu pflegen; ehemals in einem Nationalstaat vereinte Sprachgemeinschaften können das natürlich sowieso – das US-amerikanische, britische, australische, irische und südafrikanische Englisch sind einander in ihren schriftlichen Standardvarietäten ja ebenfalls viel näher als in ihren gesprochenen Varietäten. Die sprachliche Auseinanderentwicklung eines unabhängigen englischen und schottischen Standardenglisch würde sich vermutlich ebenfalls in sehr engen Grenzen halten.
Mandarin und Kantonesisch verfügen über die Schrift als gemeinsames Bindeglied. Zwei völlig unterschiedlich benannte Konzepte referieren auf dasselbe Sinogramm. Natürlich ist auch die Einführung eines gemeinsamen Schriftsystems zuletzt politisch bedingt.
Aber an das Schweizerdeutsche musste ich auch sofort denken.
Weiß jetzt nicht mehr, wer das geschrieben hat, aber passt irgendwie.
Eine Sprache ist ein Dialekt mit Armee.
(Den genauen Wortlaut kenne ich leider nicht mehr.
Genau, das ist quasi die politische Definition von „Sprache“ (die z.B. erklärt, warum Niederländisch als eigene Sprache gilt, Niederdeutsch aber als Dialekt des Deutschen). Das Zitat stammt vom Sprachwissenschaftler Max Weinreich der einen anonymen Zuhörer eines seiner Vorträge mit diesen Worten zitiert (auf Jiddisch): „A shprakh iz a dialekt mit an armey un flot“.
Danke!
Ich frage mich gerade, ob die Trennung wirklich so scharf zwischen Schottland und England verläuft oder ob die Nordenglischen Dialekte als Übergang gelten. Mich deucht, ich hätte “might could come” auch in Yorkshire und Newcastle schon gehört.
Interessanter Artikel, der einiges zum Füllen meiner Wissenslücken beitrug.
Das Niederdeutsche hat auch seine schriftlich überlieferten historischen Vorstufen (Altsächsisch und Mittelniederdeutsch) und war im Mittelalter (etwa in Urkunden) durchaus schriftlich “standardisiert”. In
Form der Hanse hatte es ja auch durchaus eine Flotte. Niederdeutsch (von dem es ja auch eine Menge verschiedene Dialekte gibt) wird von der EU als Sprache eingestuft und im Rahmen der Sprachencharta geschützt.
Manchmal können auch “kleinere” Sprachen relativ “problemlos” als solche anerkannt werden, obwohl sie keinen eigenen Nationalstaat haben. So sieht man das mit dem Englischen historisch eng verwandte Friesische schon lange als eine eigene Sprache an, wobei es wohl hilft, dass es in Deutschland und den Niederlanden gesprochen wird, aber auf beiden Seiten der Grenze von Nichtfriesen kaum verstanden wird. Auch dass man in Deutschland das Kaschubische schon lange als eigenständige Sprache betrachtete, während man polnischerseits noch bis ins 20. Jahrhundert insistierte, es handle sich um einen polnischen Dialekt, hängt ja in beiden Fällen mit dem Konflikt von deutschem und polnischen Nationalismus zusammen.
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Weinreichs Definition sollte man wohl mit einem Körnchen Salz genießen.