Als wir in meinem Seminar letztens Methoden der empirischen Sprachwissenschaft besprochen haben, stellte ich ein paar simple Werkzeuge der Korpuslinguistik vor. Zur Illustration habe ich die Bibel in ein sogenanntes Konkordanzprogramm geladen und als Suchwort lord
(‚Herr‘) eingegeben.
Eine Studentin wollte spontan wissen, wie oft in der Bibel über Sünde gesprochen wird (782 Mal). Nun ist die Frage nach Sünde in diesem Kontext aber höchstens dann interessant, wenn man es mit etwas vergleicht — den Vorkommen in einem Vergleichskorpus etwa — und selbst das ist beinahe trivial, weil wir natürlich erwarten, dass Sünde für die Bibel relevanter ist, als fürs BNC ((British National Korpus, ein repräsentatives Korpus britischer Gegenwartssprache.)) (etwa 980 zu 20 Vorkommen pro Million Wörter für sin als Nomen und Verb).
Inspiriert von der Nachfrage der Studentin und um meinen Studierenden zu illustrieren, dass nackte Vorkommensfrequenzen einzelner Wörter nicht wirklich spannend oder besonders aussagekräftig sind, setzte ich mich in der Mittagspause an eine kleine Fingerübung. Statt ein Wort aus der Bibel motivationslos mit seinem Vorkommen in einem Referenzkorpus der Gegenwartssprache zu vergleichen, ist die viel sinnvollere Frage: welche Begriffe tauchen im Alten Testament deutlich häufiger auf, als im Neuen? Mit anderen Worten: vergleiche die Bibel nicht mit dem BNC, sondern mit sich selbst.
Also habe ich Altes und Neues Testament als zwei Korpora behandelt, jeweils eine Wortfrequenzliste erstellt und diese mit der gleichen Methode aufeinander bezogen, die Anatol in der Wahlprogrammlinguistik angewendet hat. Diese Analyse identifiziert diejenigen Begriffe, die signifikant häufiger als erwartet in einem Korpus auftauchen (gegenüber einem anderen) und somit als „Schlüsselwort“ für das eine oder andere Korpus angenommen werden können. Darin kann man dann nach auffälligen Wortfeldmustern suchen. ((Ich habe eine King James Version von 1611 genommen, gebe hier aber überwiegend die deutschen Übersetzungen wider.))
Abzüglich von Eigennamen und Familienbezeichnungen wie Söhne und Töchter stammen viele signifikante Schlüsselwörter für das alte Testament aus dem Wortfeld „Krieg“: geografische Bezeichnungen wie Israel, Land, Ägypten oder Grenze und Mauer lassen genauso gut auf eine stärkere Gewichtung von Kämpfen schließen, wie Armee, Camp, Zelt oder Statuten. Besonders grausam ist die Häufung von explizitem Gewalt- und Waffenvokabular: Opferung, brennen/verbrannt, Schwert, Kampf, Krieg, Feinde, Zufluchtsort/Heiligtum (sanctuary), chariot, (Schlacht-)feld, Gefangenschaft und erschlagen/getötet.
Im neuen Testament geht’s dann eher um die Follower der ganz alten Schule: Jesus und seine Jünger, Glaube und glauben, Juden, Liebe, Predig(t)en, Macht, Himmel, Teufel, ewig(e), Vater, Doktrin, Ehre, Versprechen, Antworten, Wahrheit, Wissen, Heilige, Treue, beten/Gebet, Lehre (teachings), Geister, Autorität und Wunder. Naja und halt im Prinzip alles, was mit Sünde zu tun hat: Sünde, Sünder, sündigen, sündhaft und Satan. Biegen Sie das wieder hin, ist Wiedergutmachung möglich — Gnade, Reue und Vergebung — geht’s schief: Hölle. Ob das weniger gewalttätig sein soll, ist Ihrer religiösen Auslegung überlassen.
Das Ergebnis sollte Ihre Allgemeinbildung nicht sehr überfordern, auch wenn Sie keinen Konfirmations- oder Kommunionsunterricht durchlaufen haben. Aber in den Vorbereitungen für den nächsten Partysmalltalk kommen Sie mit Korpuslinguistik halt etwas flotter und aufwandsärmer zur textstrukturellen Erkenntnis:
Im Alten Testament war mehr Gemetzel.
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Interessante Fingerübung. Zu bedenken möchte ich noch geben, dass die Entscheidung für eine bestimmte Bibelübersetzung (zumindest bei den großen Zielsprachen gibt es ja da jeweils diverse Alternativen mit divergierendem regligionsideologischen Hintergrund) dabei einen gewissen Bias bedingen kann. Wäre also nicht uninteressant, diese Übrung mal für verschiedene Übersetzungen im Vergleich durchzuspielen.
@Dilettant: Ja, könnte man machen, aber es würden vermutlich keine besonders grundlegenden Unterschiede zu Tage fördern. Klar, die Rangfolge der einzelnen Wörter (und deren Assoziationsstärke) würde sich verändern, wenn man etwa statt Gott häufiger Herr in der einen gegenüber der anderen Übersetzung hat. Aber diese Unterschiede würde es ja auch offenlegen, wenn man Rangfolge & Assoziationsmaße mit anderen Verfahren ermitteln würde (in diesem Fall war es ein pFYE-Wert, hätte aber auch MI nehmen können). Weil diese Verfahren aber überwiegend auf Themen (Wortfelder) und nicht auf einzelnen Lexeme fokussiert, bliebe die Schlussfolgerung die gleiche.
Da nicht von “Studenten” sondern von “Studierenden” geschrieben wird, sollte konsequenterweise auch nicht “eine Studentin” sondern “eine Studierende” verwendet werden.
@Carsten: Warum? Studierende ist generisch, Studentin spezifisch. Es gibt hier und anderswo keinen Grund, eine „Konsequenzregel“ zu postulieren. Entscheidend ist, dass die Bezeichnungen eindeutig und inklusiv sind.
Dass im Alten Testament mehr Gemetzel war, überrascht mich nicht wirklich. Nicht umsonst wurde die alttestamentarische Aussage “Auge um Auge” zu der neutestamentarischen Aufforderung, dass man auch noch die andere Wange hinhalten soll. Was mich interessieren würde, ist, ob die positiv besetzten Begriffe (wie z.B. Gott, Liebe, Himmel) im Neuen Testament deutlich häufiger sind als die negativen (wie Teufel, Hass, Hölle). Ich würde vermuten, dass es so ist, aber vielleicht täusche ich mich auch. Eventuell wird nämlich das Positive erst durch die Gegenüberstellung mit dem Negativen wirklich interessant.
@Susanne: Sie sind in der Tendenz häufiger. Aber das sagt relativ wenig aus, weil man hier rein von der Themen-Frequenz nichts über die „Positivität“ ihrer Verwendungskontexte sagen kann. Angenommen vor jedem Gott würde grausam stehen (oder vor Liebe halt mangelnde oder missverstandene), ist die Frequenz wenig aussagekräftig. Das heißt, dass im einen Fall (wie im Beitrag) die reine Themen-/Topic-Wahl untersucht wird; worauf Ihre Frage abzielt, ist die „Evaluation“ nach schwer messbaren Kriterien (und einzelne Wörter sind schlicht nicht als „positiv“ oder „negativ“ bewertbar). Das wäre vielleicht nicht unmöglich, wäre aber unglaublich aufwändig und fraglich ist, ob sie linguistisch plausibel ist. Ich wäre da sehr skeptisch.
Aufschluss über die Verwendungskontexte der ›Schlüsselwörter‹ geben die im Alten und im Neuen Testament jeweils dominierenden Gattungen. Das AT besteht zu einem großen Teil aus historischen Sagen und Chroniken sowie Gesetzessammlungen. Im NT sind es fast ausschließlich Briefe und Evangelien, die einen lehrhaften Charakter haben und sich an frühchristliche Gemeinden richten. Klar, dass es da ein unterschiedliches Vokabular gibt. In historischen Chroniken geht es nun mal häufig um Krieg und in Gesetzestexten um Gewalttaten. Dementsprechend ist der »Auge um Auge«-Spruch im AT (anders als seine heutige Verwendung vermuten lässt) keine Aufforderung zum Gemetzel, sondern ein Rechtsgrundsatz.
Ganz sicher lässt sich aus dem Vokabular allein nicht ableiten, das AT habe eine blutrünstige Ethik vertreten, die dann durch eine friedliebende neutestamentliche Ethik abgelöst worden sei. Das mag zwar eine verbreitete, für christlich sozialisierte Menschen sehr schmeichelhafte Auffassung sein, sie stempelt aber das Judentum zu einer im Vergleich mit dem Christentum brutalen, atavistischen und rachsüchtigen Religion ab – was bis heute ausgesprochen üble Folgen für jüdische Menschen hat.
@Anubis: Hat auch niemand behauptet. Es wurde nur mehr drüber gesprochen. Klar, dass das niemanden überraschen wird. War auch nicht das Ziel. (Nur, dass ich die Themen in zehn Minuten identifiziert habe, nicht über ein jahrelanges Bibelstudium.)
Ups, mein Kommentar war auf den Kommentar Nr. 6, von der anderen Susanne bezogen. Sorry, hätte ich deutlich machen müssen. Im Blogpost selber habe ich das, was ich in meinem Kommentar bekrittele, nicht gesehen.
Na dann 🙂
Wie wäre es denn mit einem Vergleich zwischen der dritten aus Vorderasien stammenden Weltreligion?
Also den Koran mit dem Alten oder Neuen Testament zu vergleichen.