Am Samstag haben Anatol und ich uns an der „Langen Nacht der Wissenschaften“ in Berlin beteiligt. Wer nicht dabei sein konnte — zeitlich (Gesangswettstreit!), räumlich (Dahlem!) oder finanziell (Eintritt zur LNDW!) ((Womit in unterschiedlicher Gewichtungen und Kombination möglicher Abwesenheitsursachen unsere Kritik an der LNDW abgedeckt wäre.)) — dem bieten wir hier einen narrativen Rückblick mit Literaturhinweisen, natürlich auch für unser großartiges Publikum vom Samstag — von dem wir natürlich hoffen, dass einige den Weg zum Sprachlog gefunden haben.
In unserem Vortrag wollten wir einigen Leitfragen zu „Sprache und Denken“ aus linguistischer Perspektive auf den Grund gehen. Wie Anatol hier schrieb:
Bestimmt unsere Sprache unser Denken, und wenn ja, woher wüssten wir das? Was hat George Orwells Dystopie „1984“ mit Eskimos und ihren hundert Wörtern für Schnee zu tun? Und warum brauchen Anatol und Susanne Spielzeugtiere aus Plastik, um zu erklären, wie schwer es ist, Antworten auf diese und andere Fragen zu finden?
Die meisten haben beim Thema „Sprache und Denken“ Bereiche wie 1984 und das Orwell’sche Konzept der Denkmanipulation durch Neusprech im Sinn. Dass die Grundidee gesellschaftspolitisch hochaktuell ist, sieht man heute (natürlich viel moderater dimensioniert als bei Orwell) an Diskussionen um Euphemismen wie Sozialtourismus oder Supergrundrecht und wie damit bewusst oder unbewusst Interpretationsrahmen vorgegeben oder Ideologien transportiert werden. Einen fundamentalen Einfluss auf Denkstrukturen (oder gar „verbotene“ Konzepte) wird es nicht haben.
Anders gesagt: obwohl natürlich verwandt, sind diese Fragen zum Einfluss von einzelnen Wörtern auf das Denken eigentlich nicht das, was man in der sprachwissenschaftlichen Grundlagenforschung meint, wenn man vom Zusammenhang von Sprache und Denken redet. Es geht vielmehr darum, ob das eigene Sprachsystem einen Einfluss auf nicht-sprachliches Verhalten haben kann — abseits der Vermittlung von Informationen und/oder Ideologien (wo der Zusammenhang natürlich offensichtlich ist). Es geht in der linguistischen Perspektive also mehr um Benjamin Lee Whorfs Idee der „linguistischen Relativität“. Die Vorstellung, Sprache könnte unser Denken bestimmen, ist sicherlich falsch und auch nicht Gegenstand der modernen Sprachwissenschaft. ((Obwohl die starke Interpretation der sogenannten Sapir-Whorf-Hypothese manchen Laiendiskussionen innewohnt. In der Sprachwissenschaft spielt sie keine Rolle.)) Bei der Frage nach Relativitätseffekten dreht es sich um sehr viel kleinere Fragen und engere Einflussbereiche. Und: es geht auch nie um einzelne Wörter, sondern um systematische sprachstrukturelle Unterschiede.
Unser Ziel war es also, vier solche sprachstrukturellen Bereiche vorzustellen, in denen sich Sprachen so systematisch voneinander unterscheiden, dass man die Frage nach dem Einfluss dieser Strukturen in diesen kleinen Bereichen auch sinnvoll stellen kann. Dazu haben wir mit unserem Publikum einige Klassiker der experimentellen Psycholinguistik durchgespielt: Farbwörter und Richtungsangaben als Beispiele für Wortfeldstrukturen und im Bereich der grammatischen Struktur die Numeralklassifikation (Form vs. Material) und der mögliche Einfluss von Genusmarkierung auf die Wahrnehmung von Objekten.
Greifen wir zwei davon raus: es gibt Sprachen, wie etwa das Russische, die den Farbbereich, der für uns durch blau beschrieben wird, linguistisch in zwei Bereiche aufteilt, also zwei Grundwörter für blau hat (Links auf Google-Bildersuche): goluboj/голубой ‚hellblau‘ und sinij/синий ‚(dunkel)blau‘ oder ‚kräftiges Blau‘. Wenn die Sprache hier einen Einfluss hat, würde man erwarten, dass Russischsprecher/innen sich bei der Klassifikationen von Farbtönen anders verhalten, als Sprecher/innen von Sprachen, für die das gesamte Spektrum mit einem Begriff abgedeckt ist. Und, siehe da: tun sie nicht. Russischsprecher/innen klassifizieren Farbschattierungen an der Übergangsgrenze genauso, wie Sprecher/innen von anderen Sprachen: ein sehr helles sinij, das dem goluboj-Spektrum näher steht, als einem besonders dunklen sinij wird dementsprechend als „goluboj“-ähnlicher klassifiziert — unabhängig vom linguistischen Farbwörterlexikon der Sprache. Ergo: das Lexikon hat hier keinen Einfluss auf die Wahrnehmung.
Ein Beispiel für eine sprachstrukturelle Eigenheit, bei der durchweg signifikante Unterschiede gemessen werden, ist dieses: es gibt Sprachen, die keine Wörter für links und rechts haben. Um die Lage von Objekten im Raum zu beschreiben, nutzen sie absolute, d.h. geografische Referenzpunkte wie Norden, süd(lich) oder flussaufwärts. Diese Möglichkeit haben wir im Deutschen zwar auch (Fahren Sie 20km nach Norden), aber um unsere direkte Umgebung zu beschreiben, präferieren wir das sogenannte relative System Der Tisch steht links neben dem Stuhl gegenüber Der Tisch steht östlich|westlich|kanalwärts neben dem Stuhl. Sprachen mit absoluten Angaben haben aber diese Wahl üblicherweise nicht.
Um den möglichen sprachlichen Einfluss zu testen, hat man Proband/innen eine Polonaise aus drei Plastiktieren vorgesetzt und sie gebeten, sich die Szenerie einzuprägen (z.B. Kuh, Schaf, Schwein; von links nach rechts). Anschließend wurden die Proband/innen um 180° gedreht und schauten auf einen ungeordneten Tierhaufen. Sie wurden gebeten, die eben eingeprägte Szene wieder herzustellen. Siehe da: Sprecher/innen von Sprachen mit relativen Richtungsangaben stellten die Tiere in einer links-rechts-Anordnung wieder auf (d.h. wenn die Kuh vorher links gestanden hat, stand sie auch hinterher wieder links); Sprecher/innen, deren Sprachen ein absolutes Richtungssystem haben, präferierten in deutlicher Mehrheit eine spiegelbildliche Anordnung, d.h. stand die Kuh vorher am nördlichen Ende der Reihe, stellten sie sie auch in der Wiederherstellung wieder am nördlichen Ende auf (bzw. rechts aus relativer Perspektive).
(Unser Publikum verhielt sich übrigens thesenkonform, außer als ich ihnen im mittleren der drei Vorträge möglicherweise einen zusätzlichen Referenzpunkt gegeben hatte und 2 von 3 Freiwilligen die absolute Strategie wählten. Das illustrierte gleich drei Dinge: erstens führt eine links-rechts-Präferenz der Sprache nicht automatisch zu einer links-rechts-Lösung, zweitens verdeutlicht es die Notwendigkeit, dass Bedingungen im Experiment gleich gehalten werden müssen und dass man drittens das Verhalten manipulieren kann — je nach Fragestellung kann das natürlich gewollt sein.)
Das war unser erstes Ziel: die Frage nach dem Einfluss von Sprache auf das Denken ist in der Sprachwissenschaft nicht die Frage nach der allgemeinen, großen Weltsicht. Sie fragt aber auch meistens nicht nach einzelnen Wörtern, sondern untersucht den Zusammenhang von systematischen Unterschieden in komplexeren sprachlichen Strukturen (Wortfelder oder Grammatik). Zweitens sind robuste und aussagekräftige Effekte nur unter bestimmten, gut eingrenzbaren Situationen sinnvoll nachweisbar. Und wenn sie es sind, sind sie es auch nie kategorisch (sie „bestimmen“ also unser Denken nicht), sondern deuten auf starke Präferenzen für eine von zwei oder mehreren Alternativen hin. Das führte uns zum dritten Ziel des Vortrags: Wissenschaft geht sehr kleinschrittig vor und untersucht sehr enge Phänomenbereiche. Und, als kleiner Nebeneffekt: was wir für natürlich halten (links und rechts), muss nicht notwendigerweise universal sein. Russ/innen halten es zunächst für ebenso merkwürdig, dass wir nur ein blau haben, wie wir es vielleicht seltsam finden, dass Walisisch oder Japanisch nur ein Wort für grün und blau haben. Das entscheidende ist: sehen und wahrnehmen können alle alle Farben (und noch ein paar mehr), deren „Brille auf die Welt“ ist sozusagen also nicht türkiser, als für Menschen mit anderen Muttersprachen. Das bringt uns zurück zu den hunderten Eskimowörtern für Schnee (es sind nur zwei, btw): das ist lexikalisch und kulturell unspannend, dass man daraus einen kulturellen Unterschied ableitet, nicht haltbar.
Die interessante Frage ist also nicht die nach einzelnen „unsagbaren“ oder „unübersetzbaren“ Konzepten oder zu sagen, dass Sprache X kein Wort für Y hat (oder der umgekehrte Fall: Sprache X hat Y Wörter für Z). Beispiele der Art sind im Laiendiskurs weit verbreitet (dazu demnächst mehr; aber wer’s noch nicht kennt, hier entlang zur Linksammlung Eskimowörter für Schnee oder Bartbeschreibungen im Albanischen). Das ist im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall beinhaltet es einen seltsamen Kulturdeterminismus. Die Frage ist auch nicht, ob wir deshalb die Welt mit anderen Augen sehen. Die Frage ist, ob eine sprachliche Struktur unter einer bestimmten Bedingung Effekte bei nicht-sprachlichen Aufgaben in diesem Bereich auslöst.
Und sonst so: wir sind in drei Durchläufen auf ein fabelhaftes und interessiertes Publikum gestoßen. Die anschließenden Diskussionen waren sehr gut und in der letzten Session sogar so lebendig, dass wir fast eine halbe Stunde überziehen durften. Vor allem haben uns die vielen Nachfragen nach dem Kern des Problems beeindruckt, die uns natürlich auch darin bestärken, unsere Öffentlichkeitsarbeit auch in dieser (oder ähnlicher) Form weiter zu verfolgen. Das hat richtig Spaß gemacht.
Literaturhinweise zu Studien
Aktion „Unwort des Jahres“
Davies, Ian R. L. & Greville G. Corbett. 1997. A cross-cultural study of colour grouping: Evidence for weak linguistic relativity. British Journal of Psychology 88(3). 493–517. [LINK].
Koch, Sabine C., Friederike Zimmermann & Rocio Garcia-Retamero. 2007. El sol — die Sonne. Psychologische Rundschau 58(3). 171–182. [LINK].
Lucy, John A. & Suzanne Gaskins. 2001. Grammatical categories and the development of classification preferences. In Melissa Bowerman & Stephen C. Levinson (eds.), Language acquisition and conceptual development. Cambridge & New York: Cambridge University Press.
Pederson, Eric, Eve Danziger, David Wilkins, Stephen Levinson, Sotaro Kita & Gunter Senft. 1998. Semantic typology and spatial conceptualization. Language 74(3). 557. [LINK]
Bei mir hat’s leider finanziell nicht geklappt. Ich möchte anregen, auch Tickets für Einzelveranstaltungen zu verkaufen, denn 23 Euro (mit Sohn) für 1 Stunde — das war mir bei allem Interesse zu viel. Was ich aber eigentlich sagen will: Eine prachtvolle, sehr gut lesbare, oft witzige Darstellung der sprachwissenschaftlichen Forschung zu diesem Thema gibt Guy Deutscher in seinem Buch “Im Spiegel der Sprache”. Sehr empfehlenswert!
WFHG: Wir waren ähnlich schockiert über die Preisstruktur — die uns noch dazu erst Tage vorher auffiel. Gerechnet haben wir nicht damit und finden es auch aus wissenschaftskommunikativer Perspektive, besonders dort, wo Steuergelder und Freizeit der Vortragenden involviert ist, nicht ganz unproblematisch.
Guy Deutschers Buch deckt diesen Themenbereich ab, ja (hier habe ich eine Rezension geschrieben). Was ich oben als „dazu später mehr“ formuliert habe, deutet darauf hin, dass ich darauf auf jeden Fall in den nächsten Wochen zurückkommen werde, denn dazu ist gerade eine populärwissenschaftliche Antwort geschrieben worden. Wie gesagt, dazu später mehr.
Guy Deutscher hat mich sehr enttäuscht; ich habe dazu im Februar 2011 einen Kommentar geschrieben. (http://www.fembio.org/biographie.php/frau/comments/mubarak-guy-deutscher-und-die-maskulinguistik-ein-vergleich/). Bei uns viel zu wenig bekannt ist die grundlegende Arbeit von Frode J. Stromnes “The Fall of the Word And the Rise of the Mental Model: A Reinterpretation of the Recent Research on Spatial Cognition And Language” (2006). Er vergleicht das Schwedische mit dem Finnischen und kann empirisch nachweisen, dass ihre unterschiedliche Sprachstruktur unterschiedliche Wahrnehmungen, z.B. von Sportereignissen, erzeugt.