Heute ist der Internationale Tag der Muttersprache. Anders als der von Sprachnörglern erfundene „Tag der Deutschen Sprache“ handelt es sich dabei um einen offiziellen Gedenktag, mit dem die UNESCO an das rapide fortschreitende Sprachsterben erinnern will: Von den sechs- bis siebentausend Sprachen, die derzeit auf der Welt gesprochen werden, werden mehr als die Hälfte in den nächsten hundert Jahren verschwinden.
Deutsch (genauer: das Standarddeutsche) ist dabei übrigens nicht bedroht: Mit über 100 Millionen Muttersprachler/innen und noch einmal fast hundert Millionen Menschen, die es als Fremdsprache sprechen, gehört es zu den zehn meistgesprochenen Sprachen der Welt.
Und hier fünf Fakten, mit denen sie auf jeder Muttersprachtagsparty glänzen können (Quelle: Ethnologue):
- In Deutschland werden neben dem Standarddeutschen siebzig weitere Sprachen und Dialekte gesprochen. Den Status einer Amtssprache genießen neben dem Standarddeutschen aber nur das Sorbische, das Friesische und die Deutsche Gebärdensprache.
- Der größte deutsche Dialekt ist mit etwa 6 Millionen Sprecher/innen das Bairische, gefolgt von Mainfränkisch (knapp 5 Millionen) und Sächsich (ca. 2 Millionen).
- Die größte Migrantensprache ist Türkisch, mit über 2 Millionen Sprecher/innen, gefolgt von Serbokroatisch (ca. 650 000) und Italienisch (knapp 550 000)
- Akut vom Aussterben bedroht ist von den autochtonen Sprachen im deutschen Staatsgebiet derzeit das Ostfriesische. Mit nur noch etwa zweitausend Muttersprachler/innen ist es eine der oben erwähnten dreitausend Sprachen, die so gut wie keine Chance mehr hat, die nächsten hundert Jahre zu überleben.
- Außer in Deutschland, Österreich und der Schweiz, wo Deutsch Amtssprache ist, gibt es nennenswerte deutsche Sprachgemeinschaften in 15 weiteren Ländern, nämlich Belgien, der Tschechischen Repubik, Dänemark, Ungarn, Italien, Kasachstan, Liechstenstein, Luxemburg, Namibia, Paraguay, Polen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien und der Ukraine.
An einheimischen Sprachen listet der Ethnologue nur 28 für Deutschland auf. Das Ostfriesisch wird dort offensichtlich mit dem Saterfriesischen verwechselt.
Das, was im Volksmund Ostfriesisch genannt wird, heitß nur “Friesisch”, ist aber ein niederdeutscher Dialekt, der in Ostfriesland gesprochen wird. Da kommt man schon in einer mittleren Kleinstadt leicht auf mehr als 2000 Sprecher.
Saterfriesisch hat nach zahlreichen Schätzungen um die 2000 Sprecher und wird oder wurde auch als Ostfriesisch bezeichnet, obwohl das Sprachgebiet — als letzter verbleibender Rest der Ostfriesischen Sprache — außerhalb von Ostfriesland liegt.
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Deutsch ist, anders als die Formulierung des letzten bullet points zumindest suggeriert, nicht nur in D, A, CH Amtssprache, sondern ebenso in Liechtenstein und Teilgebieten Italiens und Belgiens. Und ja, dort ist es jeweils vollwertige Amtssprache und nicht nur anerkannte Minderheitensprache o.ä. wie Sorbisch, Friesisch und Dänisch in Teilen Deutschlands. (Luxemburg wiederum ist ein sehr interessanter Spezialfall.)
Darüber hinaus würde mich ja mal ernsthaft interessieren, wie Ethnolgue zu seinen Daten kommt. Und gerade Angaben wie “6 Millionen Sprecher des Bairischen” kommen mir doch irgendwie zweifelhaft vor angesichts der Tatsache, dass es zumindest im zu Deutschland gehörigen Teil des mittel- und oberdeutschen Sprachraums keine scharfe Trennung zwischen Dialekt und Standardsprache gibt. Gilt jeder, der ein irgendwie bairisch gefärbtes Hochdeutsch spricht, schon als Sprecher das Bairischen?
@ Dilettant: Der Ethnologue entnimmt die Daten der wissenschaftlichen Fachliteratur, die mal besser, mal schlechter und mal älter, mal neuer ist. Ich nehme nicht an, dass ein bairisch gefärbtes Hochdeutsch reicht, um in der Fachliteratur als Bairischsprecher zu zählen, denn dann wären sechs Millionen Sprecher/innen erstaunlich wenig angesichts einer Bevölkerung von über 12 Millionen. Aber auf welcher Stufe zwischen Standarddeutsch und bairischem Basilekt die Grenze gezogen wird, kann ich nicht einmal vermuten.
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@ Anatol Stefanowitsch: Danke. So ganz überzeugt bin ich aber noch nicht. Um beim Beispiel Bairisch zu bleiben: Der Freistaat Bayern hat laut Wikipedia 12,5 Mio. Einwohner, da sind aber auch Franken und Bayerisch-Schwaben enthalten. Zum bairischen Sprachgebiet gehören (die Sprachgrenzen decken sich nicht hundertpozentig mit den administrativen, aber für eine ungefähre Plausibilitätskontrolle sollte es reichen) die Regierungsbezirke Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz (i.e. “Altbayern”); der Rest des bairischen Sprachraums liegt jenseits der deutschen Grenzen. Die drei genannten Regierungsbezirke haben zusammen 6,7 Mio. Einwohner, wovon wiederum 1,4 Mio. auf dem Stadtgebiet von München leben. Angesichts der Tatsache, das gerade in München und Umgebugung recht viele (Zahlen habe ich keine zur Hand) Zugereiste und deren Nachfahren leben, deren Deutsch noch nicht einmal bairisch eingefärbt ist, (vulgo: Preußen) sowie angesichts der Tatsache, dass Bairisch in Deutschland außerhalb Altbayerns kaum verbreitet ist, scheint mir die Sprecherzahl von 6 Mio., nun, sagen wir, sehr großzügig gerechnet. IMHO kann das nur funktionieren, wenn man da auch die Sprecher eines (nur in der Aussprache, nicht in Wortschatz und Grammatik) leicht bairisch gefärbten Hochdeutsch dazurechnet. Was wiederum zumindest mich fragen lässt, was mit einer derart breiten Definition gewonnen ist. Der Bewahrung der tatsächlichen Dialekte dürfte damit kaum gedient sein, der linguistischen Forschung ebensowenig.
Und was Ethnologues Datenerhebnung anlangt: Ich bin ja nur dilettierender Freizeitlinguist (wenn überhaupt) und kann mir nicht anmaßen, die Fachliteratur übersehen zu können. Aber wenn in den letzten 20–30 Jahren jemand in Deutschland (oder Teilen davon) die Zahl der Dialektsprecher systematisch erfasst (oder nachvollziehbar hochgerechnet) haben sollte, würde mich das tatsächlich sehr interessieren. Ethnologue gibt ja, soweit ich sehe, seine Quellen nicht im Detail an.
Was ich damit sagen will: Ich habe den starken Eindruck, dass die Daten von Ethnologue einen starken ideologischen Bias haben: Man will eine möglichst große Sprachenvielfalt haben, deswegen greift man a) zur ausdifferenziertesten aller möglichen Abgrenzungen von Sprachen und Dialekten, egal wie sinnvoll/anerkannt die im Vergleich zu anderen ist, nimmt b) höchstmögliche Sprecherzahlen an und peilt c) die Sprecherzahlen großzügigst über den Daumen, wenn keine brauchbaren Daten zur Verfügung stehen, weil Datenlücken nicht vorkommen dürfen.
@Dilettant
Hier: http://www.goethe.de/ges/spa/sui/de6250720.htm wird von einer Umfrage aus dem Jahre 2009 gesprochen; ob die sich noch finden lässt, weiß ich nicht.
Insgesamt ist die Abgrenzung von Dialekt — Regiolekt — Akzent sehr problematisch. So ist bei einer Untersuchung in Brandenburg festgestellt worden, dass Jüngere Sprecher das Berlinische als “Dialekt” bezeichneten, Ältere aber das Niederdeutsche. Dadurch kamen dann sehr hohe Anteile an jungen Dialektsprechern zustande, die die Tatsache verschleierten, dass ein Sprachwechsel stattgefunden hatte.
Nochmal zum Ostfriesischen:
Der Ethnologue sagt zum Saterfriesischen, dass es gesprochen wird in “Saterland, East Frisia, Strücklingen, Ramsloh, and Scharrel towns”. Falsch daran ist, dass das Saterland gar nicht in Ostfriesland liegt.
Dann wird gesagt: “Not intelligible of (sic!) Eastern Frisian [frs]. Related to Western Frisian [fry] and Northern Frisian [frr].
Language Use
Mostly middle-aged or older (2007). Almost all also use Eastern Frisian [frs] or Standard German [deu] for official purposes.”
Es soll also nicht wechselseitig verständlich sein mit Ostfriesisch.
Zu Ostfriesisch wird als Verbreitungsgebiet angegeben:
“Ostfriesland, Lower Saxony, Emden and Oldenburg towns area; Saterland, Jeverland, and Butjadingen. Used only in Saterland, Eastern Frisia (1998).”
Das heißt, es wird, genau wie das Saterfriesische, ausschließlich im Saterland gesprochen.
Nun kann man im Handbuch des Friesischen nachlesen, dass das Ostfriesische ursprünglich in den Gebieten gesprochen wurde, die der Ethnologue auch auflistet. Es ist allerdings dort überall ausgestorben, war Anfang des 20. Jh. auf das Saterland und einzelne Sprecher auf Wangerooge beschränkt (beides übrigens außerhalb Ostfrieslands). Heute existiert es nur noch im Saterland und wird … Saterfriesisch genannt.
Wieso hier dieselbe Sprache zweimal auftaucht, ist das Geheimnis des Ethnologue. Es ist aber bezeichnend für die Willkür und mangelnde Sorgfalt, mit der dort gearbeitet wird.
Geht man Namen und nähere Angaben zu den übrigen “Sprachen” in Deutschland durch, erlebt man fast überall ähnliche Überraschungen.
Nachtrag:
“Wieso hier dieselbe Sprache zweimal auftaucht, ist das Geheimnis des Ethnologue.”
Und wieso diese Sprache mit sich selbst (?) nicht wechselseitig verständlich sein soll, ist gänzlich unerfindlich.
@Rolf: Danke für den Kommentar. Ich fühle mich in meinem Misstrauen gegenüber Ethnologue bestätigt.
Darüber hinaus wage ich stark zu bezweifeln, ob eine Umfrage eine geeignete Methode zur Feststellung der Zahl der Dialektsprecher ist, wenn Sie die Definition dessen, was als Dialekt gilt, den Befragten überlässt.
In der deutschsprachigen Schweiz mag das funktionieren; dort gibt es eine scharfe Grenze zwischen Dialekt und Hochdeutsch, und jeder weiß, was mit den beiden Bezeichnungen gemeint ist. In Deutschland (zumindest im ober- und mitteldeutschen Sprachraum) und, soweit ich sehe, auch in Österreich, haben wir hingegen ein Kontinuum zwischen Dialekt und Hochsprache. Für eine valide Erfassung der Dialektsprecher müsste man also von einer repräsentativen Stichprobe von Menschen Sprachproben erfassen (wird so etwas ähnliches nicht beim Sprachatlas oder wie das heißt gemacht?) und außerdem definieren, wo “Dialekt” beginnt.
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