Tag der Muttersprache 2014

Von Anatol Stefanowitsch

Heute ist der Inter­na­tionale Tag der Mut­ter­sprache. Anders als der von Sprach­nör­glern erfun­dene „Tag der Deutschen Sprache“ han­delt es sich dabei um einen offiziellen Gedenk­tag, mit dem die UNESCO an das rapi­de fortschre­i­t­ende Sprach­ster­ben erin­nern will: Von den sechs- bis sieben­tausend Sprachen, die derzeit auf der Welt gesprochen wer­den, wer­den mehr als die Hälfte in den näch­sten hun­dert Jahren verschwinden.

Deutsch (genauer: das Stan­dard­deutsche) ist dabei übri­gens nicht bedro­ht: Mit über 100 Mil­lio­nen Muttersprachler/innen und noch ein­mal fast hun­dert Mil­lio­nen Men­schen, die es als Fremd­sprache sprechen, gehört es zu den zehn meist­ge­sproch­enen Sprachen der Welt.

Und hier fünf Fak­ten, mit denen sie auf jed­er Mut­ter­sprach­tagspar­ty glänzen kön­nen (Quelle: Eth­no­logue):

  • In Deutsch­land wer­den neben dem Stan­dard­deutschen siebzig weit­ere Sprachen und Dialek­te gesprochen. Den Sta­tus ein­er Amtssprache genießen neben dem Stan­dard­deutschen aber nur das Sor­bis­che, das Friesis­che und die Deutsche Gebärdensprache.
  • Der größte deutsche Dialekt ist mit etwa 6 Mil­lio­nen Sprecher/innen das Bairische, gefol­gt von Main­fränkisch (knapp 5 Mil­lio­nen) und Säch­sich (ca. 2 Millionen).
  • Die größte Migranten­sprache ist Türkisch, mit über 2 Mil­lio­nen Sprecher/innen, gefol­gt von Ser­bokroat­isch (ca. 650 000) und Ital­ienisch (knapp 550 000)
  • Akut vom Ausster­ben bedro­ht ist von den autochto­nen Sprachen im deutschen Staats­ge­bi­et derzeit das Ost­friesis­che. Mit nur noch etwa zweitausend Muttersprachler/innen ist es eine der oben erwäh­n­ten dre­itausend Sprachen, die so gut wie keine Chance mehr hat, die näch­sten hun­dert Jahre zu überleben.
  • Außer in Deutsch­land, Öster­re­ich und der Schweiz, wo Deutsch Amtssprache ist, gibt es nen­nenswerte deutsche Sprachge­mein­schaften in 15 weit­eren Län­dern, näm­lich Bel­gien, der Tschechis­chen Repu­bik, Däne­mark, Ungarn, Ital­ien, Kasach­stan, Liech­sten­stein, Lux­em­burg, Namib­ia, Paraguay, Polen, Rumänien, der Slowakei, Slowe­nien und der Ukraine.
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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

10 Gedanken zu „Tag der Muttersprache 2014

  1. Rolf

    An ein­heimis­chen Sprachen lis­tet der Eth­no­logue nur 28 für Deutsch­land auf. Das Ost­friesisch wird dort offen­sichtlich mit dem Sater­friesis­chen verwechselt.
    Das, was im Volksmund Ost­friesisch genan­nt wird, heitß nur “Friesisch”, ist aber ein niederdeutsch­er Dialekt, der in Ost­fries­land gesprochen wird. Da kommt man schon in ein­er mit­tleren Kle­in­stadt leicht auf mehr als 2000 Sprecher.
    Sater­friesisch hat nach zahlre­ichen Schätzun­gen um die 2000 Sprech­er und wird oder wurde auch als Ost­friesisch beze­ich­net, obwohl das Sprachge­bi­et — als let­zter verbleiben­der Rest der Ost­friesis­chen Sprache — außer­halb von Ost­fries­land liegt.

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  3. Dilettant

    Deutsch ist, anders als die For­mulierung des let­zten bul­let points zumin­d­est sug­geriert, nicht nur in D, A, CH Amtssprache, son­dern eben­so in Liecht­en­stein und Teil­ge­bi­eten Ital­iens und Bel­giens. Und ja, dort ist es jew­eils voll­w­er­tige Amtssprache und nicht nur anerkan­nte Min­der­heit­en­sprache o.ä. wie Sor­bisch, Friesisch und Dänisch in Teilen Deutsch­lands. (Lux­em­burg wiederum ist ein sehr inter­es­san­ter Spezialfall.)

    Darüber hin­aus würde mich ja mal ern­sthaft inter­essieren, wie Eth­nolgue zu seinen Dat­en kommt. Und ger­ade Angaben wie “6 Mil­lio­nen Sprech­er des Bairischen” kom­men mir doch irgend­wie zweifel­haft vor angesichts der Tat­sache, dass es zumin­d­est im zu Deutsch­land gehöri­gen Teil des mit­tel- und oberdeutschen Sprachraums keine scharfe Tren­nung zwis­chen Dialekt und Stan­dard­sprache gibt. Gilt jed­er, der ein irgend­wie bairisch gefärbtes Hochdeutsch spricht, schon als Sprech­er das Bairischen?

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    1. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

      @ Dilet­tant: Der Eth­no­logue ent­nimmt die Dat­en der wis­senschaftlichen Fach­lit­er­atur, die mal bess­er, mal schlechter und mal älter, mal neuer ist. Ich nehme nicht an, dass ein bairisch gefärbtes Hochdeutsch reicht, um in der Fach­lit­er­atur als Bairischsprech­er zu zählen, denn dann wären sechs Mil­lio­nen Sprecher/innen erstaunlich wenig angesichts ein­er Bevölkerung von über 12 Mil­lio­nen. Aber auf welch­er Stufe zwis­chen Stan­dard­deutsch und bairischem Basilekt die Gren­ze gezo­gen wird, kann ich nicht ein­mal vermuten.

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  5. Dilettant

    @ Ana­tol Ste­fanow­itsch: Danke. So ganz überzeugt bin ich aber noch nicht. Um beim Beispiel Bairisch zu bleiben: Der Freis­taat Bay­ern hat laut Wikipedia 12,5 Mio. Ein­wohn­er, da sind aber auch Franken und Bay­erisch-Schwaben enthal­ten. Zum bairischen Sprachge­bi­et gehören (die Sprach­gren­zen deck­en sich nicht hun­dert­pozentig mit den admin­is­tra­tiv­en, aber für eine unge­fähre Plau­si­bil­ität­skon­trolle sollte es reichen) die Regierungs­bezirke Ober­bay­ern, Nieder­bay­ern und Oberp­falz (i.e. “Alt­bay­ern”); der Rest des bairischen Sprachraums liegt jen­seits der deutschen Gren­zen. Die drei genan­nten Regierungs­bezirke haben zusam­men 6,7 Mio. Ein­wohn­er, wovon wiederum 1,4 Mio. auf dem Stadt­ge­bi­et von München leben. Angesichts der Tat­sache, das ger­ade in München und Umge­bu­gung recht viele (Zahlen habe ich keine zur Hand) Zugereiste und deren Nach­fahren leben, deren Deutsch noch nicht ein­mal bairisch einge­färbt ist, (vul­go: Preußen) sowie angesichts der Tat­sache, dass Bairisch in Deutsch­land außer­halb Alt­bay­erns kaum ver­bre­it­et ist, scheint mir die Sprecherzahl von 6 Mio., nun, sagen wir, sehr großzügig gerech­net. IMHO kann das nur funk­tion­ieren, wenn man da auch die Sprech­er eines (nur in der Aussprache, nicht in Wortschatz und Gram­matik) leicht bairisch gefärbten Hochdeutsch dazurech­net. Was wiederum zumin­d­est mich fra­gen lässt, was mit ein­er der­art bre­it­en Def­i­n­i­tion gewon­nen ist. Der Bewahrung der tat­säch­lichen Dialek­te dürfte damit kaum gedi­ent sein, der lin­guis­tis­chen Forschung ebensowenig.

    Und was Eth­no­logues Daten­er­heb­nung anlangt: Ich bin ja nur dilet­tieren­der Freizeitlin­guist (wenn über­haupt) und kann mir nicht anmaßen, die Fach­lit­er­atur überse­hen zu kön­nen. Aber wenn in den let­zten 20–30 Jahren jemand in Deutsch­land (oder Teilen davon) die Zahl der Dialek­t­sprech­er sys­tem­a­tisch erfasst (oder nachvol­lziehbar hochgerech­net) haben sollte, würde mich das tat­säch­lich sehr inter­essieren. Eth­no­logue gibt ja, soweit ich sehe, seine Quellen nicht im Detail an.

    Was ich damit sagen will: Ich habe den starken Ein­druck, dass die Dat­en von Eth­no­logue einen starken ide­ol­o­gis­chen Bias haben: Man will eine möglichst große Sprachen­vielfalt haben, deswe­gen greift man a) zur aus­d­if­feren­ziertesten aller möglichen Abgren­zun­gen von Sprachen und Dialek­ten, egal wie sinnvoll/anerkannt die im Ver­gle­ich zu anderen ist, nimmt b) höch­st­mögliche Sprecherzahlen an und peilt c) die Sprecherzahlen großzügigst über den Dau­men, wenn keine brauch­baren Dat­en zur Ver­fü­gung ste­hen, weil Daten­lück­en nicht vorkom­men dürfen.

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  6. Rolf

    @Dilettant

    Hier: http://www.goethe.de/ges/spa/sui/de6250720.htm wird von ein­er Umfrage aus dem Jahre 2009 gesprochen; ob die sich noch find­en lässt, weiß ich nicht.

    Ins­ge­samt ist die Abgren­zung von Dialekt — Regi­olekt — Akzent sehr prob­lema­tisch. So ist bei ein­er Unter­suchung in Bran­den­burg fest­gestellt wor­den, dass Jün­gere Sprech­er das Berlin­is­che als “Dialekt” beze­ich­neten, Ältere aber das Niederdeutsche. Dadurch kamen dann sehr hohe Anteile an jun­gen Dialek­t­sprech­ern zus­tande, die die Tat­sache ver­schleierten, dass ein Sprach­wech­sel stattge­fun­den hatte.

    Nochmal zum Ostfriesischen:
    Der Eth­no­logue sagt zum Sater­friesis­chen, dass es gesprochen wird in “Sater­land, East Frisia, Strück­lin­gen, Ram­sloh, and Schar­rel towns”. Falsch daran ist, dass das Sater­land gar nicht in Ost­fries­land liegt.
    Dann wird gesagt: “Not intel­li­gi­ble of (sic!) East­ern Frisian [frs]. Relat­ed to West­ern Frisian [fry] and North­ern Frisian [frr].
    Lan­guage Use
    Most­ly mid­dle-aged or old­er (2007). Almost all also use East­ern Frisian [frs] or Stan­dard Ger­man [deu] for offi­cial purposes.”

    Es soll also nicht wech­sel­seit­ig ver­ständlich sein mit Ostfriesisch.

    Zu Ost­friesisch wird als Ver­bre­itungs­ge­bi­et angegeben:
    “Ost­fries­land, Low­er Sax­ony, Emden and Old­en­burg towns area; Sater­land, Jev­er­land, and But­jadin­gen. Used only in Sater­land, East­ern Frisia (1998).”

    Das heißt, es wird, genau wie das Sater­friesis­che, auss­chließlich im Sater­land gesprochen.

    Nun kann man im Hand­buch des Friesis­chen nach­le­sen, dass das Ost­friesis­che ursprünglich in den Gebi­eten gesprochen wurde, die der Eth­no­logue auch auflis­tet. Es ist allerd­ings dort über­all aus­gestor­ben, war Anfang des 20. Jh. auf das Sater­land und einzelne Sprech­er auf Wangerooge beschränkt (bei­des übri­gens außer­halb Ost­fries­lands). Heute existiert es nur noch im Sater­land und wird … Sater­friesisch genannt.

    Wieso hier dieselbe Sprache zweimal auf­taucht, ist das Geheim­nis des Eth­no­logue. Es ist aber beze­ich­nend für die Willkür und man­gel­nde Sorgfalt, mit der dort gear­beit­et wird.

    Geht man Namen und nähere Angaben zu den übri­gen “Sprachen” in Deutsch­land durch, erlebt man fast über­all ähn­liche Überraschungen.

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  7. Rolf

    Nach­trag:
    “Wieso hier dieselbe Sprache zweimal auf­taucht, ist das Geheim­nis des Ethnologue.”

    Und wieso diese Sprache mit sich selb­st (?) nicht wech­sel­seit­ig ver­ständlich sein soll, ist gän­zlich unerfindlich.

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  8. Dilettant

    @Rolf: Danke für den Kom­men­tar. Ich füh­le mich in meinem Mis­strauen gegenüber Eth­no­logue bestätigt. 

    Darüber hin­aus wage ich stark zu bezweifeln, ob eine Umfrage eine geeignete Meth­ode zur Fest­stel­lung der Zahl der Dialek­t­sprech­er ist, wenn Sie die Def­i­n­i­tion dessen, was als Dialekt gilt, den Befragten überlässt.

    In der deutschsprachi­gen Schweiz mag das funk­tion­ieren; dort gibt es eine scharfe Gren­ze zwis­chen Dialekt und Hochdeutsch, und jed­er weiß, was mit den bei­den Beze­ich­nun­gen gemeint ist. In Deutsch­land (zumin­d­est im ober- und mit­teldeutschen Sprachraum) und, soweit ich sehe, auch in Öster­re­ich, haben wir hinge­gen ein Kon­tin­u­um zwis­chen Dialekt und Hochsprache. Für eine valide Erfas­sung der Dialek­t­sprech­er müsste man also von ein­er repräsen­ta­tiv­en Stich­probe von Men­schen Sprach­proben erfassen (wird so etwas ähn­lich­es nicht beim Sprachat­las oder wie das heißt gemacht?) und außer­dem definieren, wo “Dialekt” beginnt.

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