Als das Wort Watergate 1972 ins Deutsche entlehnt wurde, war es nur der Name einer bestimmten politischen Affäre: Der republikanische US-Präsident Richard Nixon hatte das im Watergate Building beheimatete Hauptquartier der gegnerischen Demokraten abhören lassen. Dass er dafür 1974 zurücktreten musste, können wir uns angesichts der politischen Konsequenzlosigkeit des aktuellen Dauer-Abhörskandals kaum noch vorstellen – so wie sich damals niemand hätte vorstellen können, dass die letzte Silbe des Eigennamens Watergate vierzig Jahre später zum deutschen Anglizismus des Jahres gekürt werden würde.
Und um ein Haar wäre es dazu auch nie gekommen, denn zunächst schien es für die deutsche Sprachgemeinschaft keinen Grund zu geben, den Wortbestandteil -gate herauszulösen. Stattdessen sah es eher so aus, als könnte sich das Wort Watergate im Ganzen als allgemeine Bezeichnung für politische Skandale durchsetzen. Frühe Treffer im Deutschen Referenzkorpus beziehen sich zum Beispiel auf ein französisches, philippinisches oder englisches Watergate, ein Hamburger oder Bonner Watergate, und (wohl in Anlehnung an das zum allgemeinen Wort für eine Niederlage gewordenen Waterloo) sogar davon, dass jemand vor seinem Watergate stehe.
Wenn diese Bedeutungsausweitung sich durchgesetzt hätte, hätten wir heute nichts zu feiern, denn dass das Wort Watergate zu alt ist, um Anglizismus 2013 zu werden, ist klar. Aber es kam eben doch anders: Zunächst wurde die englische Sprachgemeinschaft aktiv. Sie erkannte, dass der Wortbestandteil -gate eigentlich ausreicht, um an das Wort Watergate und damit die Bedeutung „Skandal“ zu erinnern. Schon ein Jahr nach dem bekanntwerden des Watergate-Skandals finden sich deshalb Wörter wie Volgagate und Wine-gate. Einige der in den folgenden Jahren immer häufiger werdenden Neuschöpfungen wurden ihrerseits ins Deutsche entlehnt – etwa Koreagate und Infogate (1979) und das Schlagzeilenträchtige Irangate (1986).
Die zunehmende Zahl solcher Lehnwörter trug sicher dazu bei, auch der deutschen Sprachgemeinschaft das kreative Potenzial des Wortbestandteils -gate nahezulegen. Die erste deutsche Neuschöpfung auf der Grundlage von -gate entstand aber 1987 in direkter Analogie zu Watergate. Als sogenannte Kontamination (also Vermischung) dieses Wortes mit dem norddeutschen Wortes für „Küste“, Waterkant, entstand das Wort Waterkantgate. Es bezeichnete den auch inhaltlich Watergate-ähnlichen schleswig-holsteinsichen Abhörskandal um Ministerpräsident Uwe Barschel und seinen Herausforderer Björn Engholm und findet sich erstmals im SPIEGEL 37/1987, wo die Wortschöpfung einem anonymen Mitarbeiter Engholms zugeschrieben wird.
Die nächste deutsche Neuschöpfung folgte drei Jahre später dann ohne Umweg über eine Ähnlichkeit zu Watergate: Das Wort Nersinggate (ein Skandal um die Müllabfuhr des Ortes Nersing.) wurde direkt nach dem im Englischen schon verbreiteten Bildungsmuster [ORT + -gate] gebildet. Danach dauerte es sieben Jahre und eine Reihe weiterer englischer -gate-Lehnwörter (wie Camillagate, Travelgate und Whitewatergate), bis sich die nächsten deutsche Neuschöpfungen finden: Ambrozygate und Börsengate, beide aus der österreichischen Presse. Mit durchschnittlich zwei deutschen Neuschöpfungen pro Jahr stagniert die Kreativität von -gate dann, bis sie 2009 ansteigt und nach einem Durchhänger dann 2013 einen Höchstwert erreicht (siehe unten).
Im Jahr 2013 berichtete die deutsche Presse durchschnittlich über mehr als ein -gate pro Monat, nämlich Dirndl-Gate (ein anderes als 2008), Brüderle-Gate, Eierlikörgate, Fähnchen-Gate, Krümelgate, Stadtwerke-Gate, Reifen-Gate, Handy-Gate, Handtaschen-Gate, Mops-Gate, Krümelmonster-Gate, Klo-Gate und Mutti-Gate. Allein in den letzten drei Jahren gab es so viele deutsche Neuschöpfungen mit -gate wie in der gesamten Zeit von 1972 bis 2010. Das gefällt nicht jedem (Stefan Niggemeier kritisierte das Suffix in seinem Medienlexikon als Anzeichen „alltäglicher Besinnungslosigkeit“), aber es hat uns als Jury davon überzeugt, dass -gate nach einem langen Vorlauf endgültig im Deutschen angekommen ist.
In seiner Bedeutung hat es (noch stärker als seine englische Entsprechung) einen Beiklang des Trivialen, schnell Vergessenen. Das gilt auch für potenziell schwerwiegende Skandale wie das Abhören des Handy der Bundeskanzlerin durch amerikanische Geheimdienste. Wäre Willy Brandt ausspioniert worden (nur mal hypothetisch), hätte das zu einer schweren Vertrauenskrise geführt, die nicht nur diplomatische Beziehungen gefährdet, sondern auch den Rücktritt des Ausspionierten erfordert hätte. Bei Angela Merkel wird es ein Skandälchen ohne die geringste Konsequenz für sie oder die Spione – heute gut für atemlose Empörung, morgen vergessen. Nur ein Gate eben. -gate ergänzt den deutschen Wortschatz damit um eine Bedeutung, die in unserer Zeit einer immer schnelleren und folgenloseren medialen Diskussion über Fehltritte von Personen und Organisationen des öffentlichen Interesses dringend gebraucht wird.
[Zur Pressemeldung der Aktion Anglizismus des Jahres]
Deutsche „-gates“ (Daten aus dem Deutschen Referenzkorpus, von Google News Deutschland und von Spiegel Online. Die verlinkten Zeitungsartikel dienen der Orientierung und stellen nicht die Erstbelege dar.)
1998 | Mediengate, Möbelgate |
1999 | Bimbesgate Gießengate, Russlandgate |
2003 | Bensheim-Gate |
2004 | Moni-Gate, Lippen-Gate |
2005 | — |
2006 | Grabschgate, Pauligate |
2007 | Alstergate Berchtesgaden-Gate, Händelgate, Höschen-Gate |
2008 | Dirndlgate, Flaggengate, Telekom-Gate |
2009 | Beratergate, Diekmanngate, Kundusgate, Pornogate, Rüttgers-Gate, Schramma-Gate, Ulla-Gate, Flugi-Gate |
2010 | Gletschergate, Rheinland-Pfalz-Gate, Schrippen-Gate, Watschn-Gate, Wintergate |
2011 | Hymnengate, Krawatten-Gate, Scheiße-Gate |
2012 | Bayer-Gate, Jogi-Gate, Klimagate, Kraftgate, Krippengate, LAN-Kabelgate, Geiz-Gate, Nasen-Gate, Schmuddel-Gate, Teppichgate, Skateboard-Gate, Prantl-Gate |
2013 | Dirndl-Gate, Eierlikörgate, Fähnchen-Gate, Krümelgate Stadtwerke-Gate, Reifen-Gate, Handy-Gate, CO2-Gate, Handtaschen-Gate, Mops-Gate, Krümelmonster-Gate, Toiletten-Gate, Mutti-Gate, Brüderle-Gate |
Ich war zwar für den Whistleblower, aber trotzdem eine gute Wahl, Glückwunsch!
[…]
Ich wäre zwar für Selfie gewesen, finde aber auch ‑gate keine schlechte Wahl. Für mich ist es zwar kein Wort, sondern nur ein Sufix, aber sei´s drum, es hat eine eigene Bedeutung, also gut ist.
Off-topic: Wusstet Ihr, dass Euer Blog unter http://www.sprachlog.de/ samt sämtlicher Unterseiten im W‑Lan des Europäischen Parlaments in Brüssel blockiert wird? Ich weiss nicht woran das liegt, ob Ihr als subversiv oder sprachverherrlichend eingestuft werdet, vielleicht habt Ihr den falschen ISP, keine Ahnung, aber es ist mir schon vor Monaten aufgefallen und ich dachte, es wäre endlich Zeit, es Euch zu sagen. Alle anderen Seiten, die ich unter Favoriten abgespeichert habe, sind normal aufzurufen, ebenso die Seiten, auf die diese Seiten verlinken. Möchtet Ihr Euch nicht beschweren? Was habt Ihr böses angestellt?
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Gute Wahl. Ich möchte dazu allen den Mitchell-and-Webb-Sketch “Watergategate” ans Herz legen:
http://www.youtube.com/watch?v=vB9JgxhXW5w
Weil ich’s sonst sicher vergesse und ja schon rund ein Zwölftel um ist, nominiere ich schonmal das Akronym TGIF als nächsten AdJ. Das begegnet mir in letzter Zeit gehäuft, vorher nur auf anglophonen Seiten. Ach ja, heißt: „thank god, it’s friday“.
2014: Bombergate
Gute Wahl. Schön auch die Einschätzung “eben nur ein ‑gate.” Wäre schön, würde manchmal noch etwas ein handfester Skandal!
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