Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2013: Selfie

Von Susanne Flach

Self­ie, das dig­i­tale Selb­st­por­trait, das sich in den let­zten Jahren auf­grund der tech­nis­chen Ver­füg­barkeit von Smart­phones und sozialen Net­zw­erken als Ver­bre­itungskanäle zu einem Massen­phänomen entwick­elt hat — kul­turell und lin­guis­tisch ist das mal wirk­lich voll 2013.

Die Würdi­gung des Phänomens sollte deshalb auch nicht lange auf sich warten lassen. Nach­dem die Oxford Dic­tio­nar­ies Self­ie in Eng­land zum Wort des Jahres gekührt haben (was auch in Deutsch­land einiges an Presse-Echo nach sich zog), stand es bei der Amer­i­can Dialect Soci­ety vor der Wahl zum Word of the Year gle­ich mehrfach auf der Short­list. Außer­dem wurde Self­ie zum nieder­ländis­chen Woord van het Jaar gewählt. Und Juryvor­stand Ana­tol war sich in einem AdJ-Inter­view mit detektor.fm sich­er, dass Self­ie auch bei uns eine große Rolle spie­len würde. Voilà.

Self­ie wird häu­fig definiert als Selb­st­por­trait, das man mit dem Smart­phone aufn­immt und anschließend in sozialen Net­zw­erken teilt. Self­ies sind aber mehr als klas­sis­che malerische oder fotografis­che Selb­st­por­traits — sie trans­portieren immer auch eine weit­erge­hende Botschaft. Die Insze­nierung des Ichs, des Wirs, des Egos, der Indi­vid­u­al­ität — Kri­tik­erin­nen gehen sog­ar noch weit­er und disku­tieren es im Licht eines mod­er­nen, dig­i­tal­en Narziss­mus. Die kul­turelle Rel­e­vanz des Self­ies rief im Laufe des Jahres 2013 auch Feuil­leton und Kul­turredak­tio­nen auf den Plan. So suchte die FAZ im August unter „Ich knipse, also bin ich“ nach der tiefenpsy­chol­o­gis­chen Aus­sagekraft des Self­ies. In kul­turhis­torischen Blogs wurde disku­tiert, ob die Werke Albrecht Dür­ers, Meis­ter des Selb­st­por­traits, auch als Self­ies durchge­hen (Ergeb­nis: nicht abwegig). Self­ies im dig­i­tal­en Stil sind dem­nach lediglich Aus­druck ein­er neuen Form der Selb­st­präsen­ta­tion, unter Zurhil­fe­nahme tech­nis­ch­er Möglichkeit­en, nicht notwendi­ger­weise Aus­druck ein­er zunehmend egozen­trischeren Gesellschaft.

Vielmehr haben wir irgend­wie ein Kon­tin­u­um von Selb­st­por­trait zu Self­ie, denn let­z­tendlich ist jedes Selb­st­por­trait ein Self­ie und jedes Self­ie ein Selb­st­por­trait (mal ein biss­chen weniger und mal ein biss­chen mehr vom einen oder dem anderen). Und wie blöd klänge es denn, wenn jemand sagen würde: „Kannst mal n Foto von mir machen? Ich brauche ein neues Pro­fil­bild bei $sozialesNet­zw­erk“.

Die Botschaften reichen von ich bin cool, ich bin müde, ich bin spon­tan, ich mit meinem Hund, ich mit meinem neuen Oberteil, ich mit meinem blauen Augeich vor der Basilika|dem weißen Haus|dem Kil­i­mand­scharo, ich hab dasund­da­sundX angestellt oder ich durch den Spiegel (voll meta!). Es ist eine Mis­chung aus das bin ich und XY was here, dem „How are you feeling?“-Generator bei Face­book und dem ich hab euch was mitzuteilenSelf­ies wer­den auch zu gän­zlich une­go­is­tis­chen Protest- und Sym­pa­thiebekun­dun­gen einge­set­zt (krake­lige Botschaft auf weißem Zettel, oft mit entsprechen­der Gestik und Mimik), wie jüngst unter #Protest­Selfie im Zusam­men­hang mit #NotA­Mar­tyr, dem Protest gegen die poli­tis­che Auss­chlach­tung des Tods eines Syrischen Jugendlichen. Was Fotos auf dem Kon­tin­u­um von Selb­st­por­traits und Self­ies in ihren bun­ten Erschei­n­ungs­for­men eint, ist die Doku­men­ta­tion ein­er selb­stre­f­eren­ziellen Momen­tauf­nahme — und das ist so alt, wie die Fotograf‑, hm, die Malerei‑, hm, wie die Idee von der Doku­men­ta­tion der selb­stre­f­eren­ziellen Momen­tauf­nahme. Form, Ver­bre­itung, Benen­nung und Masse sind neu.

Die gesellschaftliche Rel­e­vanz der Self­ies ist offensichtlich:

Ich schweife ab.

Das Wort Self­ie ist eine Verkürzung von self por­trait. In der Lin­guis­tik klas­si­fiziert man solche Bil­dun­gen als Hypoko­ris­ti­ka, wom­it Kurzwörter bzw. Kose­na­men beze­ich­net wer­den; als Unterk­lasse der Verkleinerungs­for­men (Diminu­ti­va). Anders als „nor­male“ Diminu­tive, wie sie etwa mit -chen gebildet wer­den und aus größerem etwas kleineres machen, wer­den Hypoko­ris­ti­ka über­wiegend mit Eigen­na­men in Verbindung gebracht. Im Fall von Self­ie allerd­ings kann die Bil­dung ziem­lich ziel­sich­er auf ein sehr pro­duk­tives Muster vor allem im Aus­tralis­chen Englisch zurück­ge­führt wer­den, wo zweisil­bige Kurzwörtern wie Self­ie meist auf -ie/-o so sys­tem­a­tisch und charak­ter­is­tisch für die Vari­etät sind, dass sich Hypoko­ris­ti­ka deut­lich von reinen Kose­na­men oder Verniedlichungs­for­men abgren­zen lassen: arvo (‚after­noon‘), sick­ie (‚sick day‘), mac­cas (‚McDonald’s‘), pressie (‚present‘), chalkie (,teacher‘) oder journo (‚jour­nal­ist‘), um nur ein paar Beispiele zu nen­nen, ergänzen die Anwen­dungs­bere­iche jen­seits von John­no (‚John‘) oder suz (‚Susanne‘).

So war der Ursprung von self­ie anscheinend auch schnell aus­gemacht: die Oxford Dic­tio­nar­ies, die sich ja tra­di­tionell mit Erst­bele­gen ausken­nen, geben (offen­bar mit Hil­fe eines Mit­glieds der ADS-Mail­ingliste) den Erst­be­leg 2002 in einem Online­fo­rum des Senders ABC, in dem Nutzer „Hopey“ (Nathan Hope, sur­prise!) das Ergeb­nis sein­er nächtlichen Sauf­tour mit einem unschar­fen Selb­st­por­trait in die Welt trug. Daraus wurde Hope im Presse­hype um Self­ie im let­zten Novem­ber schnell zum lin­guis­tis­chen Schöpfer des Self­ie (und, je nach jour­nal­is­tis­ch­er Glan­zleis­tung, Aus­druck nicht von Konzept tren­nen zu kön­nen, sog­ar zu seinem kul­turellem Erfind­er! Ergo I: Aus­druck ≠ Konzept).

Als lin­guis­tis­che Aus­drucks­form ist Self­ie so neu, dass es wed­er im OED, noch in einem Kor­pus verze­ich­net ist. ((Nada in COCA, COW-DE, COW-UK, DeReKo. Twit­ter & Google ≠ Kor­pus.)) Das ist ein­er­seits erstaunlich, zeigt aber auch deut­lich, wie 2013 das Phänomen wirk­lich ist. Im GloWbE-Kor­pus, das aus Web­dat­en von 20 Vari­etäten des Englis­chen zusam­menge­set­zt ist, find­en sich immer­hin 205 Belege für selfie|selfies|selfy, von denen 152 im Aus­tralis­chen Englisch vorkommen:

selfie_glowbe

self­ie im Cor­pus of Glob­al Web-based Eng­lish (GloWbE) http://corpus2.byu.edu/glowbe/

Für GloWbE wur­den die Dat­en 2012–2013 gesam­melt und auf­bere­it­et, allerd­ings ist aus den Meta­dat­en schw­er zu erken­nen, ob auch Texte aus 2013 vorhan­den sind; die Quellen, die sich auf­grund der URL zuord­nen lassen, stam­men ver­mut­lich fast alle von 2012. ((Die Quellen, die 2013 in der URL tra­gen, beziehen sich meist auf Dinge wie Event­plan­er oder Onlinekurskat­a­loge; ver­mut­lich also zukün­ftig.)) Man sieht aber: der sicher­lich immer schon glob­ale Trend zum Self­ie war zumin­d­est lin­guis­tisch in Aus­tralien deut­lich früher Main­stream, als ander­swo. Ich bin entzückt — ein Aus­tral­is­mus! (Wobei der kul­turelle Trend unzweifel­haft ein glob­al­isiertes, geografisch nicht ein­grenzbares Phänomen ist.)

Und auch bei der lin­guis­tis­chen Verzück­ung über Self­ie mah­nte Ben Zim­mer die Jour­nal­istin­nen dann auch (verge­blich, offen­bar) zur Vor­sicht — die Tat­sache, dass wir etwas irgend­wo zuerst belegt sehen, heißt keines­falls, dass wir die Schöpferin gefun­den haben. Vielmehr ist die Ver­schriftlichung qua­si die Zeu­g­in eines bere­its gesprochen­sprach­lich etablierten Gebrauchs im weit­eren Umfeld des Erst­belegs — was Hopey bestätigt (Ergo II: Erst­be­leg ≠ Urheberin):

It was not a word I coined. It was some­thing that was just com­mon slang at the time, used to describe a pic­ture of yourself.

(‚Ich habe das Wort nicht erfun­den. Es war etwas, was damals ein­fach eine gebräuch­liche Beze­ich­nung für ein Bild von sich selbst.‘).

Wenn also bere­its das Feuil­leton und die Kul­turkri­tik sich dem Self­ie annimmt, jede von uns bes­timmt schon mal eins gemacht hat (es geht ja nicht ums ob, son­dern ums wie und ums wie oft), wir aber vor Mitte 2013 kaum Belege find­en, muss es ja total 2013 sein. Suchan­frages­ta­tis­tiken bele­gen dies. Auch die Jury für das englis­che Wort des Jahres ver­meldet, dass die Fre­quenz von Self­ie in ihrem Kor­pus im Jahr 2013 um 17.000% (sic) zugenom­men hat. (Wobei Self­ie, im Gegen­satz zu Thigh Gap, als Konzept schon sehr lange beste­ht und nicht erst 2013 oder kurz davor qua­si aus dem Nichts ent­standen ist.)

Es fall­en lin­guis­tisch fürs Deutsche (wie aber auch in anderen Sprachen) zwei Dinge auf: Self­ie ist in den Sprachge­brauch inte­gri­ert. Soll heißen: es bildet pro­duk­tiv Kom­posi­ta (Self­ie-Kanal Insta­gramm, Self­ie-Hype oder Self­ie-Protest) und Ableitun­gen (Shelfie ‚Bild meines Buchre­gals‘ oder Legsie ‚Beine vor einem irgend­wie rel­e­van­ten Hin­ter­grund‘ oder Belfie ‚Bild vom ver­längerten Teil des Rück­ens‘). Es wird auch über­wiegend nicht (mehr) in ein­er Metaver­wen­dung oder als Hash­tag gebraucht — das unter­schei­det es von Ableitun­gen wie Legsie oder Belfie — man hat wirk­lich eine Beze­ich­nung für einen kul­turellen Trend.

Faz­it

Heiß bleibt heiß.

Self­ie kön­nen wir dementsprechend und unzweifel­haft und hier­mit offiziell zum Welt­wort des Jahres 2013 erk­lären (die Prophezeiung äußerte ich bere­its im BS51/2013). Für unsere Wahl hat es auch das gewisse Etwas, die kul­turelle Bedeu­tung, die Ver­bre­itung im Sprachge­brauch, den Fre­quenz­zuwachs für 2013, die lin­guis­tis­che Verzück­ung bei self por­trait > self­ie, die Pro­duk­tiv­ität bei der Bil­dung von Ableitun­gen und Kom­posi­ta, und natür­lich die Benen­nung eines Konzepts, was schon alt ist, aber bish­er keinen eige­nen Begriff hat­te. Alles halt.

Aber — es fehlt ein wenig der Beitrag spez­i­fisch fürs Deutsche, wie Ana­tol im detektor.fm-Interview schon fest­gestellt hat. Self­ie ist kul­turell und lin­guis­tisch ein Phänomen, was wir mit der ganzen Welt teilen dür­fen (ob wir Phänomen und/oder Aus­prä­gung im Einzelfall nun lustig find­en wollen oder nicht), was es aber lin­guis­tisch deut­lich von seinen Mitkonkur­rentin­nen in diesem Jahr abgren­zt. Wir haben bei Self­ie keine nen­nenswerte Bedeu­tungser­weiterung oder ‑veren­gung als in anderen Sprachen, keine sys­tem­a­tisch unter­schiedliche Pro­duk­tiv­ität und auch keine offen­sichtliche Bedeu­tungsver­schiebung, die sich durch die Ver­wen­dung in der deutschen Sprachge­mein­schaft ergeben hätte. Aber soweit mich meine Inter­pre­ta­tion­skün­ste der Nominierungskri­te­rien tra­gen, spielt das keine Rolle.

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