Die „Sprachkritische Aktion“ hat das Unwort des Jahres 2013 bekannt gegeben: Sozialtourismus. Beim Sprachlog sind wir ja notorische Nörglerinnen, wenn es um anderer Leute Wörterwahlen geht, aber an der Arbeit der Unwort-Jury haben wir wenig auszusetzen, seit Nina Janich, Sprachwissenschaftlerin an der TU Darmstadt, den Vorsitz übernommen hat.
Um Unwort des Jahres zu werden, muss ein Wort „gegen das Prinzip der Menschenwürde“ oder „Prinzipien der Demokratie verstoßen“ oder „einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren“, und es muss „euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend“ sein. Auf das unsägliche Döner-Morde (2011), traf das auch aus unserer Sicht klar zu, und auch beim perfiden Opfer-Abo waren wir im Prinzip einer Meinung mit der Jury.
Auch mit dem Wort Sozialtourismus beweist die Unwort-Jury wieder eine gute Hand. Es gab vielleicht offensichtlichere Wörter, wie die vorab hoch gehandelten Wortgetüme Supergrundrecht unseres Ex-Innenministers und Armutszuwanderung der eifrig am rechten Rand fischenden CSU – offensichtlicher, weil in der öffentlichen Diskussion deutlich häufiger. Aber das Supergrundrecht verstößt zwar in der Friedrich’schen Verwendung in eklatanter Weise gegen Prinzipien der Demokratie, aber eigentlich nur, weil er es ausgerechnet auf eine repressive Sicherheitspolitik bezieht. Im Prinzip spräche nichts dagegen, bestimmte Grundrechte – etwa die Menschenwürde – als Supergrundrecht zu bezeichnen.
Einwenden könnte man gegen den Sozialtourismus (wie auch gegen die Armutszuwanderung), dass es im letzten Jahr keine besonders herausgehobene Rolle gespielt hat – im Deutschen Referenzkorpus ist es 2013 nach einem Hoch im Vorjahr klar rückläufig:
Es gelangte eigentlich erst im Januar wieder in die öffentliche Diskussion, weil die EU-Kommission im Januar einen Leitfaden zu Regeln für die Arbeit im EU-Ausland vorlegte, der in der Berichterstattung der Medien als „Leitfaden gegen Sozialtourismus“ bezeichnet wurde (siehe z.B. hier. Die Kommission selbst hat das Wort dabei aber nicht verwendet und hält nach einem aktuellen Bericht der Neue Zürcher Zeitung die gesamte Diskussion um Armutsmigration für verfehlt.
Der Begriff Sozialtourismus wurde von der EU-Kommission selbst ursprünglich verwendet, um einen „für alle zugänglichen und sozial nachhaltigen Tourismus“ zu bezeichnen (z.B. hier (PDF)). Inzwischen wird es auf europäischer Ebene aber gerne von Abgeordneten der Europäischen Volkspartei und der „euroskeptischen“ Fraktion „Europa der Freiheit und der Demokratie“ verwendet, um die EU-Kommission zu fragen, was man gegen dieses (nur in der Vorstellung von EVP-Abgeordneten existierende) Phänomen der Migration zum Zwecke des Sozialbetrugs zu tun gedenke: hier ein Beispiel von 2011 und hier eins von 2013 das eventuell für die aktuelle Verwendung des Wortes in der Presse verantwortlich ist.
Wir halten das Wort trotzdem für eine gute Wahl, da es – anders als das sprachlich eigentlich eher neutrale Armutszuwanderung eindeutig verschleiernd und irreführend ist, da es nicht nur die Behauptung enthält, dass Menschen ihre Heimat verlassen und in ein ihnen fremdes (und häufig feindselig gesinntes) Land auswandern, um dort Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, sondern das ganze auch noch mit dem Wort Tourismus als eine Art Freizeitbeschäftigung darstellt. So wird das Schicksal von Menschen, die tatsächlich aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen, auf eine Stufe mit der Reiselust gelangweilter Wohlstandsbürgerinnen ((Dies ist ein generisches Femininum, Männer sind selbstverständlich mitgemeint.)) gestellt.
Angesichts der sinkenden Häufigkeit des Wortes im letzen Jahr und dem Wiederaufkommen erst in diesem scheint die Wahl von Sozialtourismus zunächst etwas voreilig. Da uns das gesamte unsägliche Thema aber vermutlich im Rahmen des allgemeinen konservativen Backlashes, den wir derzeit erleben, vermutlich noch einige Monate beschäftigen wird, könnte man auch sagen: Die Entscheidung der Jury war vorausschauend.
Manchmal wünscht man sich echt, man hätte die Unendlichkeit zur Verfügung: Unendlich viel Platz und unendlich viele Sozialleistungen und alle größeren Probleme der Menscheit wären gelöst
Wozu unendlich viele Sozialleistungen, wenn endliche Mengen an Rationalität und Empathie auch schon helfen?
Weil das zu unrealistisch ist. Da fällt mir ein, die Wahl zum Wikipedia-Unwort des Jahres ist bald zu Ende. Die Entscheidung wird wohl zwischen “Premiumautor” (Bezeichnung für Wiki-Autoren die wegen jahrelanger Mitarbeit eine inoffzielle Erlaubnis für Verbalentgleisungen haben) und “Gender Gap” (Bezeichnung für den überdurchsnittlich hohen Männeranteil in der Wikipedia; diesen zu verringen muss als Begründung für allerlei Blödsinn herhalten) fallen.
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Und warum soll das unrealistisch sein?
Mit Mindestlohn, aktiver Arbeitsmarktpolitik, finanziert aus der Besteuerung nicht nachfragewirksamen Vermögens sowie staatlicher Investtionen in Zeichen wirtschaftlicher Schwäche etc. ließe sich die Notwendigkeit für Sozialleistungen deutlich reduzieren.
Man müsste es bloß wollen.…
“Im Prinzip spräche nichts dagegen, bestimmte Grundrechte – etwa die Menschenwürde – als Supergrundrecht zu bezeichnen.”
Naja, damit würde ich sehr vorsichtig sein. Das klingt so, als sei die Menschenwürde — und zwar nicht nur zahlen/reihenfolgenmäßig — an erster Stelle und ist wichtiger als die anderen Grundrechte. Als nächstes kann man dann ja mehr und mehr Grundrechte außer Kraft setzen (passiert ja schon), denn die sind dann ja weniger wichtig und dann gehts immer weiter bergab. Zumal sich bspw. die Menschenrechte (auch im Grundgesetz: Art. 1 Abs. 2) dadurch auszeichnen, dass sie unteilbar sind. Und durch die Ähnlichkeit von Grundrechten und Menschenrechten und den expliziten Bezug zu letzteren würde ich da schon Parallelen ziehen.
siehe auch -> https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte#Unteilbarkeit
@Rike: Die Menschenwürde ist laut GG im Gegensatz zu allen anderen Menschenrechten unter die Ewigkeitsgarantie (Artikel 79 Absatz 3) gestellt. Sie nimmt also im Vergleich zu diesen anderen Rechten eine deutlich herausgehobene Stellung ein. Außerdem dient Artikel 1 Absatz 1 als Begründung für Absatz 2 (“bekennt sich darum”); auch hier wird diese herausgehobene Stellung deutlich.
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