In der öffentlichen Diskussion um den Zustand der deutschen Sprache lag die Hoheit lange Zeit völlig unangefochten bei den Sprachnörglern. Wohl wagte sich ab und zu eine einsame Stimme aus der Sprachwissenschaft ins Feuilleton, um an der einen oder anderen Stelle etwas Realität in die Debatte zu bringen, aber insgesamt schien es intellektuell wenig befriedigend, sich in die unweigerlich klamaukhafte Auseinandersetzung mit Anglizismenjägern und Sprachverarmungs-apokalyptikern zu begeben – und vielleicht war man sich auch einfach etwas zu schade dafür.
Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Bücher wie das unglücklich betitelte aber inhaltlich ordentlich gemachte Sick of Sick? Ein Streifzug durch die Sprache als Antwort auf den »Zwiebelfisch« von André Meinunger, Du Jane, ich Goethe von Guy Deutscher oder Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht von Heike Wiese nahmen zu Themen wie dem Verfall von Grammatik, der Entstehung von Sprache(n) u.a. Stellung, und seit 2007 bloggen Kristin (damals noch im Schplock) und ich (damals noch im Bremer Sprachlog) regelmäßig über Sprachwandel, Lehnwörter, Jugendsprache, Sprachpolitik und vieles mehr (später kamen andere junge Sprachbloggerinnen dazu – z.B. unsere Sprachlogkollegin Susanne, Michael Mann vom lexikografieblog).
Über die Jahre ist es uns, denke ich, gelungen, die öffentliche Diskussion zu beeinflussen – zwar haben die Sprachnörgler immer noch die Oberhand, aber vielen interessierten Menschen ist inzwischen klar, dass Sprachnörgelei nicht die einzige Sichtweise auf Sprache ist (und auch nicht die richtige).
Es freut uns, dass nun mit etwas Verspätung (oder, sagen wir, mit ruhiger Würde) auch die institutionalisierte Sprachwissenschaft die öffentliche Diskussion um Sprache sucht. Gestern Abend stellten die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften unter dem Titel „Reichtum und Armut der deutschen Sprache“ ihren „ersten Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ vor. Die Presse berichtet bisher eher zögerlich, aber das kommt hoffentlich noch [→Google News].
Der Bericht, der leider nicht frei verfügbar ist, sondern käuflich erworben werden muss, setzt sich in vier Kapiteln mit vier in sprachnörglerischen Zusammenhängen häufig anzutreffenden Themen auseinander: Der angeblichen Verarmung des deutschen Wortschatzes, der angeblichen Überschwemmung des Deutschen durch Anglizismen, dem angeblichen Verfall der deutschen Grammatik (am Beispiel der Flexion), und dem angeblichen Erstarren der Sprache in einem Behördendeutsch.
Nun könnte man einiges an dem Bericht kritisieren. Zum Beispiel eben, dass er nicht frei verfügbar ist. Zum Beispiel, dass er sich in Stil und Darstellung auch gar nicht an eine breite Öffentlichkeit wendet, sondern an ein Fachpublikum. Zum Beispiel, dass dieses Fachpublikum wenig überrascht von den Ergebnissen sein wird, da es ohnehin nicht von einem Verfall und Überschwemmt-Werden der deutschen Sprache ausging. Zum Beispiel, dass der Bericht zwar von vier außerordentlich ausgewiesenen Kapazitäten der deutschen Sprachwissenschaft verfasst wurde, aber eben nur von vieren – statt jeweils alle wichtigen aktiven Forscher/innen des jeweiligen Themenbereichs einzubinden. Zum Beispiel, dass die in der öffentlichen Diskussion immer wichtiger werdenden Themen Sprache und Sexismus/Rassismus, Sprache und Bildung und Mehrsprachigkeit ausgeklammert wurden.
Aber trotzdem ist der Bericht ein interessanter Versuch, wenigstens einige der zentralen Themen öffentlicher Sprachkritik systematisch aufzugreifen und mit möglichst belastbaren Fakten zu konfrontieren. Diese Fakten können in der Auseinandersetzung mit Sprachnörglern durchaus hilfreich sein. Wir besprechen deshalb über die nächsten Tage die wichtigsten Ergebnisse des Berichts hier im Sprachlog, angefangen mit dem ersten Kapitel.
Im ersten Kapitel ((KLEIN, Wolfgang (2013) Von Reichtum und Armut des deutschen Wortschatzes. In Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.), Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, S. 15–56. Berlin: De Gruyter.)) befasst sich Wolfgang Klein vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen mit der Frage, ob das Deutsche an Ausdruckskraft verliert – was für ihn insbesondere bedeutet, ob der Wortschatz des Deutschen schrumpft.
Er diskutiert zunächst ausführlich die Probleme bei der Beantwortung dieser Frage. Zum Beispiel muss unterschieden werden zwischen dem potenziellen Gesamtumfang aller Wörter, die mindestens ein Mitglied der Sprachgemeinschaft kennt, und dem Gesamtumfang aller Wörter, die tatsächlich eine gewisse Verbreitung haben. Ebenso muss unterschieden werden zwischen Wörtern, die tatsächlich verwenden und solchen, die wir zwar kennen aber nicht (mehr) aktiv verwenden. Dann gibt es Probleme mit der Definition des Wortes Wort selbst. Zählen wir unterschiedliche Formen desselben Wortes separat (z.B. Singular und Plural von Substantiven oder die verschiedenen Zeit- und Personalformen von Verben)? Wenn ein Wort mehrere Bedeutungen hat, zählen wir die dann als separate Wörter (aus der Sicht der Ausdruckskraft der Sprache müssten wir es ja eigentlich)?
Auf keine dieser Fragen gibt es eine „richtige“ Antwort, und es sind nicht alle Antworten hinterher methodisch gleichermaßen umsetzbar. Klein entscheidet sich deshalb relativ pragmatisch für den Mittelweg, Wortformen jeweils zu einer Grundform zusammenzufassen und unterschiedliche Bedeutungen desselben Wortes nicht zu erfassen. Was den Gesamtumfang des Wortschatzes angeht, berechnet er diesen auf der Grundlage dessen, was in zehn Millionen Wörtern laufendem Text aus den Bereichen Belletristik, Zeitung, Gebrauchstexte und wissenschaftliche Texte an unterschiedlichen Wörtern vorkommt. Das ergibt natürlich keine realistische Zahl bezüglich der Gesamtgröße des Wortschatzes, aber es müsste eine halbwegs repräsentative Stichprobe sein. Vergleicht man nun drei solcher Korpora aus drei verschiedenen Zeiträumen, müsste dabei zumindest klar werden, ob der Wortschatz wächst oder schrumpft – und darum geht es Klein ja.
Die Ergebnisse sind dann doch sehr eindeutig:
Der Wortschatz des Deutschen (und damit auch die Ausdruckskraft) wächst kontinuierlich, und zwar in allen vier Textsorten. Besonders interessant sind für mich dabei noch zwei Aspekte: Erstens ist der Wortschatz in der Belletristik in allen Zeitabschnitten am kleinsten und der Zuwachs ist insgesamt am geringsten. Das widerspricht ganz klar der Idee, dass Schriftsteller/innen in der Entwicklung von Sprachen eine besonders herausragende Rolle spielen. Zweitens scheinen es stattdessen die viel gescholtenen Journalist/innen und Autor/innen von Gebrauchstexten zu sein, bei denen es den größten Zuwachs gibt – und vielleicht ist das auch gar nicht überraschend, denn anders als Schriftsteller/innen sind sie ja gezwungen, sich mit der Welt und den Veränderungen darin immer direkt auseinanderzusetzen und für jede neue Entwicklung eben auch neue Wörter zu finden (bzw. aus dem Sprachgebrauch aufzugreifen).
Aber in allen Bereichen gilt: Der Wortschatz der deutschen Sprache verkümmert nicht, er wächst und gedeiht ganz hervorragend.
Bei der Zählung von Wörtern muss noch ein Teil der Sprache berücksichtigt werden, der üblicherweise nicht schriftlich festgehalten wird: die Betonung!
Das wichtigste Beispiel dafür ist die Unterscheidung zwischen trennbaren und untrennbaren Vorsilben, die sich im Infinitiv nicht bemerkbar machen:
Man kann eine Sprache “übersetzen” oder mit einem Schiff “übersetzen”. Beim zweiten Wort ist das “ü” betont.
Wolfgang Klein war gestern anlässlich besagter Studie im Deutschlandradio zu Gast, wo er auf einen schlimm sprachnörglerischen Moderator traf, der “liken” für Quatsch hielt und “mögen” als Alternative vorschlug, wieder einmal (gähn!) die Académie Francaise ins Feld führte und irgendwas von einem “donnernden Bannstrahl” dahermetapherte. Leider bot Klein da kein Paroli, pflichtete dem Moderator tendenziell eher noch bei und vertrat außerdem die in meinen Augen sehr diskusssionsbedürftige These, es gäbe keinen Sprachverfall (ok), “die Leute” würden nur “einen unguten Gebrauch” von ihr machen (wtf?) — was ja insinuiert, Sprache existiere irgendwie losgelöst von ihren Sprechern.
Dies aber nur nebenbei als Ergänzung zu diesem Beitrag.
http://www.deutschlandradiokultur.de/gutes-deutsch-nicht-die-sprache-wird-schlechter-sondern.954.de.html?dram%3Aarticle_id=269316
@ amfenster: Ja, leider finden sich derartige, den Sprachnörglern halb-beipflichtende Bemerkungen auch im Bericht selber an verschiedenen Stellen. Das wundert auch nur bedingt, weil die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (eine der Auftraggeberinnen des Berichts) eine gewisse Nähe zum Sprachnörglertum nicht immer vermeidet. (Im Anglizismenkapitel des exzellenten Peter Eisenberg, das Susanne in den nächsten Tagen rezensiert, finden sich solche beipflichtenden Bemerkungen übrigens nicht).
Schade, daß er unterschiedliche Bedeutungen nicht erfassen konnte. Hier gab es bestimmt einen großen Zuwachs. Wäre interessant gewesen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wie man das untersuchen könnte. Oder gibt es eine Methode, mit der das geht?
C.S.Lewis hat die Entwicklung von verschiedenen Wortbedeutungn punktuell untersucht, allerdings fürs Englische (“Studies in Words”, C.S.Lewis, Canto 1990). Sehr lesenswert übrigens. Weiß jemand, ob etwas vergleichbares auch fürs Deutsche gibt?
Als Schriftstellerin bin ich ein bißchen geschockt über den geringen Wortschatz-Umfang in der Belletristik. Der Erklärungversuch ist zwar logisch, aber sollten nicht auch wir Schriftsteller uns mit der Welt und den Veränderungen derselben auseinandersetzen? Ich werde mir die Zahlen zu Herzen nehmen…
Wie sind denn “Gebrauchstexte” in dieser Übersicht definiert?
Das die Belletristik so schlecht abschneidet kann ich mir nur so erklären: Letzendlich arbeiten ja Schriftsteller in den meisten Fällen mit dem vorhandenen Wortschatz und versuchen, wenn man Kinder- und Jugendliteratur außen vor läßt, ihrem Leser das Lesen nicht mit neuen Worten, welche womöglich auch selbsterklärend sind, zu erschweren. Im Zweifel schlägt womöglich dann noch das Lektorat zu nicht und “optimiert” die wortwahl mit Augenmerk auf den Verkauf. Was meines Erachtens noch dazu kommt, ist, das vieles was geschrieben wird eher Fließbandliteratur ist. Wenn ich mir zum Beispiel Hohlbein anschaue, so verwendet er doch häufig die selben Worte und Wortkombinationen. Das soll jetzt nicht abwertetend gemeint sein, ich mag viele Sachen von ihm.
Eine Fragen in die Runde: zählen denn die “Groschen“romane auch ind en Korpus?
Eine Anmerkung zu dem Bericht noch: €29,95 bzw. 42,00 für ein Ebook halte ich gelinde gesagt für etwas weltfremd.
Soweit ich weiß, waren keine „Groschenromane“ im Korpus. Was die Preisgestaltung des Buchs betrifft, die ist leider gar nicht weltfremd, Universitätsbibliotheken (an die sich das letzten Endes richtet) zahlen solche Preise ständig. Tatsächlich ist das für ein wissenschaftliches Werk nicht einmal besonders teuer…
Wie jothaka schreibt, ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass man weniger verschiedene Wörter in der Belletristik als in den Zeitungen findet. Um eine neue Welt zu erschaffen, erfindet man für gewöhnlich keine neuen Wörter, sondern verwendet vorhandene in gelungener Art und Weise.
Diejenigen Journalisten, die zurecht viel gescholtenen werden, haben ständig den Eindruck, sie müssten die Welt um sie herum neu benennen, um brisant und exklusiv zu wirken.
Weil ich gerade eben erst (und zu meinem eigenen Schmerz) gelernt habe das Cranberries nichts anderes als Preisselbeeren sind, mal eine Frage: Sind Anglizismen (u.ä.) da auch mit drin? Für die Beurteilung des Zuwachses des Wortschatzes, wäre das ja vielleicht ganz interessant, ob da alle Cranberries, Event-Locations und Wellness-Weekender mit drin sind …
@Thomas 19.11. 20:26
Walter Moers zählt aber zu den “Guten”
@Thomas 19.11. 20:26
man sollte nicht zu schnell abschicken:
Wobei ja dann die Bildzeitung und die TAZ dann relativ viele neue Worte in den Wortschatz einbringen dürften, wenn man, bei der Bild nur, von den Schlagzeilen ausgeht.
Cranberries sind keine Preisselbeeren. Zitronen sind ja auch keine Apfelsinen.
Sehr gut, dass Ihr Euch den Bericht hier im Sprachlog genauer anschaut und die Ergebnisse öfdentlich macht! Hätte dennjemand von Euch Lust, den Bericht für die ZRS zu besprechen? Würde mich freuen! Wenn Interesse besteht, schreibt mir bitte. Danke und herzlich
Alexander
Im Grunde ist das eine sehr schöne Parallele zu Themen wie Homophobie. Da wird auch unterstellt, Kultur ginge kaputt, irgendwas verarme usw. usw., dabei wird alles mit der Zeit nur vielfältiger. Wenn man das weiterdenkt, ist es erstaunlich, wie gut das auf sehr viele emanzipatorische Themen passt. Das hat zwar jetzt mit dem Sprachlog nichts zu tun, ist aber vielsagend, wenn ich mir ansehe, mit welchen Themen wir uns sonst so beschäftigen.
Es überrascht mich nicht, dass Belletristik einen geringeren Wortschatz hat (und das würde ich auch nicht als “schlecht abschneiden” bezeichnen). Wenn man sich die Wörter in obigem Text anschaut, sieht man etliche, die man eher nicht in einem Roman antreffen würde, auch wenn es keineswegs unmöglich wäre (ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Doppelzählungsfreiheit):
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1. Welches dieser Wörter genau sollte nicht in einem Roman anzutreffen sein, und warum nicht?
2. Könnte man nicht ähnliche Listen von Roman-typischen Wörtern anlegen, die außerhalb von Romanen eher selten wären?
Wenn im Bereich “Zeitungen” auch Fachzeitschriften erfasst sind, dann wundert es mich eher, dass der Anteil nicht höher ist. Computer‑, Mode- oder Sportblätter enthalten Fachbegriffe, die oft kaum über die zugehörige Subkultur hinaus bekannt sind.
@ Gerald Fix: Der Bereich „Zeitungen“ umfasst keine Fachzeitschriften, sondern Zeitungen (hauptsächlich Tageszeitungen und ein paar Wochenend- oder Wochenzeitungen).
“1. Welches dieser Wörter genau sollte nicht in einem Roman anzutreffen sein, und warum nicht?”
Alle diese Wörter würde ich gar nicht oder nur sehr selten in einem Roman erwarten. Warum? Einfach, weil ich sie für untypisch halte. Ich verfüge leider nicht über einen Romankorpus, um meine Behauptung zu überprüfen.
“2. Könnte man nicht ähnliche Listen von Roman-typischen Wörtern anlegen, die außerhalb von Romanen eher selten wären?”
Ich habe mal meine Nase in JlCs “Verräter wie wir” gesteckt und bin in einem ähnlich langen Textstück auf die Wörter “Pro” (für Profi) und “Bammel” (direkte Rede) gestossen, und selbst diese beiden haben es nur auf die Liste geschafft, damit sie nicht leer bleibt. Ich denke, bei anderen zeitgenössischen Romanen wird die Liste auch kaum länger, ausser vielleicht bei Spezialisten wie Stanislaw Lem, der ja gerne Wörter erfindet.
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