Die häufigsten Beschwerden, die wir von den Sprachlogleser/innen zu hören bekommen, sind erstens, dass wir nicht kleinlich und besserwisserisch genug sind, und zweitens, dass wir häufige Beschwerden oft einfach erfinden. Wenigstens bezüglich des ersten Problems wollen wir gerne an uns arbeiten, und ab jetzt regelmäßig kleinliche Besserwissereien anbieten.
Die Qualitätsmedien liefern ja täglich Anlass dazu. Zum Beispiel schrieb die WAZ diese Woche:
Die Hand saust nach unten. Baowen Shis Handkante schneidet die Luft wie ein Schwert. Immer wieder. Zack. So zeigt die Lehrerin ihren Schülern, in welche Richtung die Betonung geht: Tang – Betonung nach unten. Denn die Melodie macht den Unterschied. In diesem Fall zwischen: super, Zucker, liegen oder heiß. Willkommen in der ersten Stunde Chinesisch. Die Sprache mit 1000 Teekesselchen. (WAZ, 26.9.2013)
Das Chinesische (besser, gesagt, das Mandarin) wird hier gleich mehrfach falsch charakterisiert. Erstens: Die genannten Wörter sind natürlich keine „Teekesselchen“ (so der volkstümliche Name für Homophone, also gleichlautende Wörter), denn sie lauten eben nicht gleich. Das Mandarin ist eine sogenannte Tonsprache, bei der neben den Sprachlauten und ihrer Abfolge auch die Melodie, mit der sie ausgesprochen werden, zur Unterscheidung beiträgt (genau darum geht es ja in der zitierten Passage).
Das Mandarin hat vier solche Melodien (sogenannte „Töne“): steigend, fallend, fallend-steigend und gleichbleibend. Im Fall von tang ergeben diese Töne tatsächlich beinahe die genannten Wortbedeutungen: táng bedeutet „Zucker“ (chin. 糖), tàng bedeutet „heiß“ (chin. 燙), tǎng bedeutet „liegen“ (chin. 躺) und tāng bedeutet „Suppe“ (chin. 湯) (nicht „super“, womit wir bei der zweiten Fehlcharakterisierung wären – da hat wohl jemand nicht genau hingehört).
Diese Töne sind untrennbarer Teil der Aussprache, sie zu ignorieren und zu behaupten, táng, tàng, tǎng und tāng seien „Teekesselchen“ ist ungefähr so, als ignoriere man die Reihenfolge von Lautsegmenten und behaupte, Maus und Saum oder Fisch und Schiff seien „Teekesselchen“. Oder, als ignoriere man die Laute ganz, und behaupte, Katze und Adler seien Teekesselchen, weil sie beide aus einer betonten und einer unbetonten Silbe bestünden.
Drittens hat das Mandarin natürlich trotzdem weit mehr als 1000 Homophone: Da es eine Präferenz für einsilbige Bedeutungseinheiten, eine sehr einfache Silbenstruktur und eben nur vier Töne hat, kann nicht jede Bedeutung eine eigene Kombination bekommen. So bedeutet táng neben „Zucker“ noch „Halle“ (堂), „übertreiben“ (唐), „Brustkorb, Kehle, Hohlraum“ (膛), „Kirschapfel“ (棠), „Deich,Ufer, See“ (塘), „Kohlehydrat“ (醣) und „abwehren/meiden/beschmieren“ (搪); tàng bedeutet außerdem „Reise, Mal, rundes Ding“ (趟); tǎng bedeutet auch „falls“ (倘) und „tropfen, weinen“ (淌); tāng bedeutet neben „Suppe“ noch „waten, trampeln, pflügen“ (趟) und „Trommellärm“ (鏜). Und das ist jeweils nur eine Auswahl.
In China könnten die Menschen also tatsächlich sehr, sehr ausgiebig „Teekesselchen“ spielen, wenn sie wollten. Die massive Homphonie in der Sprache ist nach Meinung vieler Sprachwissenschaftler/innen übrigens einer der Gründe, warum das etwas umständliche logografische Schriftsystem des Chinesischen, bei dem jedes Wort (eigentlich: jedes Morphem) sein eigenes Schriftzeichen hat, sich so erfolgreich halten kann. Es ist schwer zu lernen, aber es erleichtert die Lektüre sehr.
Das war mir jetzt aber zu kleinlich und besserwisserisch! 😀
Besserwisserei kann auch sehr lehrreich sein. Ich nehme mal an, dass ein Großteil der WAZ-Leser keinen der enthaltenen Fehler bemerkt hat. In diesem Sinne: Herzlichen Dank!
Mir gefällt die Besserwisserei. Eignet sich sehr gut als kleines Sprachhäppchen für zwischendurch.
Teekesselchen sind Homonyme, nicht Homophone.
Homophone sind Homonyme.
Vielen Dank für den letzten Absatz! Ich hatte mich immer gefragt, wieso die Chinesen sich dieses Schriftsystem antun, das ist ja megaumständlich, sehr aufwändig zu lernen und eine Riesenhürde für das Erlernen der Sprache (auch wegen der Schwierigkeiten, ein Wort im Wörterbuch zu finden). Aber wenn das Schriftsystem sicherstellt, dass ein geschriebenes Wort präzise einer bestimmten Bedeutung zugeordnet werden kann (anders als eine lateinische Transkription), dann leuchtet es ein.
Wieder was gelernt. Nur weiter so mit der Besserwisserei 🙂
“Drittens hat das Mandarin natürlich trotzdem weit mehr als 1000 Homophone: …”
Also dann stimmt der Satz “Die Sprache mit 1000 Teekesselchen.” ja doch. 😛
Ist mir zu kleinlich das Ganze. Der Artikel in der WAZ beschreibt in seiner Kürze eine der Schwierigkeiten mit der chinesischen Sprache – für Leute, die nicht Linguistik studiert haben. Simplifizierung bleibt da erstens nicht aus und macht zweitens auch Sinn.