Sprachlogleser Kai hat uns drüben auf Facebook einen Link zugespielt, weil ein paar Künstler/innen sich angeblich einer linguistischen Muse bedient und elf „unübersetzbare“ Begriffe illustriert haben. Da stehen jetzt so Dinge drin wie dépaysement, französisch für ‚das Gefühl, nicht im eigenen Land zu sein‘ (wörtlich: ‚Fremdheit‘) oder pochemuchka, angeblich russisch für ‚eine Person, die viele Fragen stellt‘. Immerhin hat das Beispiel für Deutsch, Waldeinsamkeit, einen Wikipedia-Eintrag und wir wissen jetzt glücklicherweise um seine gewisse kulturhistorische und diachrone Relevanz.
Diese Art von Lexikon- und Kulturverständnis ist natürlich nicht neu, sprachlich interessanter macht es solche Einwürfe aber nicht. Listen „unübersetzbarer Wörter aus anderen Kulturen“ und vergleichbare Meme enthalten auffällig häufig quellenlose Beispiele aus exotischen Sprachen, die niemand verifizieren kann. Wahlweise sind die Begriffe so selten, dass sie den Sprecher/innen überhaupt nicht bekannt sind. Mir ist das für einen ernsthaften linguistischen Kommentar mittlerweile eher zu lahm. ((Zur Einführung: ich hatte mal was zum albanischen Bartwuchs geschrieben, Anatol zu Wortschatzerweiterungen und Katastrophen im Japanischen. Ben Zimmer bietet im LanguageLog eine allgemeine Übersicht zu dieser Art der Kultur„forschung“.)) Deshalb warte ich bis auf weiteres erstmal geduldig auf eine Illustration zu Labersack, ‚German for a person who labers too much‘.
Etwas neuer — aber irgendwie besonders skurril — in diesem Fall ist: die Macher/innen berufen sich auf Through the Language Glass (dt. Im Spiegel der Sprache), ein exzellentes populärwissenschaftliches Buch des Linguisten Guy Deutscher. Zwar trägt dieses den Untertitel „Why the World Looks Different in Other Languages“, aber wer auch immer den digitalen Griffel geschwungen hat, kann das Buch nicht gelesen haben. Nicht nur, dass keines der Wörter von Deutscher auch nur erwähnt wird. ((Zur Überprüfung reicht bereits die Suchfunktion der Textvorschau bei Amazon.)) Es geht bei Im Spiegel der Sprache überhaupt nicht um löchrige Lexikonunterschiede, sondern um völlig andere, linguistisch wirklich relevante Fragen.
Nun könnte man sagen, dass man sowas nicht ernst nehmen darf (lieber solle man Kunst dahinter vermuten). Kann man echt nich ernst nehmen, tun wir auch nicht. Aber der antizipierte Schmunzeleffekt ist im Vorurteilskaraoke auf einer nicht-trivialen Ebene Ausdruck unserer Weltsicht: die Eskimo hocken den ganzen Tag mit Robbe am Stiel vor der Eishütte und warten in ihrem eintönigen Leben sehnsüchtig auf Besuch, weil ihnen für die vielen Wörter langsam die Aggregatzustände für gefrorenes Wasser ausgehen.
Glauben Sie nicht? Dann lesen Sie diese Umsetzung.
Ehrlich gesagt, finde ich es schon schwierig, “Waldeinsamkeit” überhaupt zu definieren. Was genau soll denn dass sein?
@requin: Im Zweifelsfall ist es ein Fachbegriff aus der Kultur-/Literaturgeschichte. Ich hab das vorher noch nie gehört, die gemeinsprachgesellschaftliche Alternative dürfte eine Umschreibung sein: „die Einsamkeit des Waldes“ oder soetwas in der Art. Aber zu sagen, dass es nicht-existent ist (wie bei ganz, ganz vielen ähnlichen Einwürfen), würde der Waldeinsamkeit nicht gerecht werden, denn dafür gibt es doch eine erstaunliche Menge Treffer in einschlägigen Korpora, z.B. etwa 18 im DWDS-Kernkorpus (überwiegend aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), und immerhin etwa 50 aus dem ZEIT/ZEIT ONLINE-Korpus (darunter ne ganze Menge für die 1990er/2000er), was auf eine eher literarische/feuilletonistische Verwendung schließen lässt.
Schon einige Formulierungen des “maptia”-Artikels machen stutzig. So werden die besagten Wörter als “untranslatable, if slightly elusive” bezeichnet. Sehr seltsam, denn wenn sie wirklich unübersetzbar wären, könnte man sie nicht als “ein bisschen schwer fassbar” beschreiben, sondern sie wären ’sehr schwer zu fassen’, sollte man meinen.
Danke für diesen Artikel!
Ich finde diese Listen mit angeblich unübersetzbaren Wörtern immer ganz amüsant, aber mehr auch nicht. Die meisten Wörter, die dort vorgestellt werden, sind wahrscheinlich in der Herkunftssprache ähnlich selten wie im Deutschen Waldeinsamkeit oder Kummerspeck, ergo nicht gerade repräsentativ für das jeweilige Lexikon.
“Through the language glass” ist mir vor zwei Jahren in einem Londoner Antiquariat in die Hände gefallen. Es ist wirklich eins der besten populärwissenschaftlichen Bücher zum Thema Linguistik, und es ist schade, dass das Buch im Mapita-Blog auf diesen Firlefanz reduziert wird.
Počemučka ist eine Figur aus der Kindergeschichte „Kak menâ nazyvali“ von Boris Stepanowitsch Schitkow in „Čto â videl?“ (1939). Sie ist verantwortlich dafür, dass man ein wissbegieriges Kind liebevoll „počemučka“ nennt.
http://dic.academic.ru/dic.nsf/ogegova/177146
Das einzige Wort, was ich da bisher tatsächlich gelten lassen würde, wäre Deja-vue, aber auch da hab ich manchmal das Gefühl, das benutzen wir häufiger als die Franzosen.
Waldeinsamkeit heißt auf Englisch eher vorhersagbar forest solitude mit über 6000 Treffern in Google Books und auf Französisch solitude en forêt (mit nur 75 Treffern, weil französische Literatur-/Kultur-/Kunstwissenschaftler/innen tatsächlich gerne das deutsche Wort verwenden).
Ich gestehe, mir wird die Intention des Artikels nicht ganz klar. Dürfte ich um eine Übersetzung bitten? Kleiner Scherz. Aber meine ernst gemeinte Frage lautet: Steckt dahinter die These, es sei alles übersetzbar, was in einer Sprache häufig genug Verwendung findet?
Jein. Die Frage ist weniger, ob etwas übersetzbar ist oder nicht, sondern wie man es in einer anderen Sprache ausdrückt. Was in der einen ein eigenes „Wort“ ist, kann (oder muss) in der anderen phrasal umschrieben werden. Was solche dümmlichen Lexikonlückenlisten häufig eint, ist der latente Kulturdeterminismus, z.B. bei „Sprache X hat kein Wort für ‚Streit‘, also sind diese Menschen besonders lieb“ oder das berühmte Eskimo-Beispiel (weil ist ja wichtig in deren Leben!).
Letzteres bringt mich zur Intention des Artikels. Da werden immer so stereotypische Beispiele ausgewählt.
Ich danke für die Präzisierung.
In einer “deutschstämmigen Kneipe”, die in einem us-amerikanischen Flächenstaat steht, ist als große Wandbemalung in deutscher Sprache zu lesen: “Unser höchstes Ziel ist Gemütlichkeit.”
Danke für das Wort “Vorurteilskaraoke” — hach, wie das perlt. Biete im Austausch eventuell dazu passend “bonsaiintellektuell” an.