Vor ein paar Wochen habe ich an einem Sonntagmorgen aus einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Zustand unserer Gesellschaft (und aus etwas Langeweile) den folgenden Satz getwittert:
- La revolución es enferma.
Das ist eine Abwandlung des vor allem in Lateinamerika häufig zitierten revolutionären Sinnspruchs La revolución es eterna – etwa „Die Revolution ist ewig (d.h. geht immer weiter)“ –, ((Es stammt möglicherweise ursprünglich vom mexikanischen Politiker Rodolfo Sánchez Taboda [siehe hier], es findet sich aber häufig, z.B. bei Raúl Castro (im Futur) oder bei Hugo Chávez.)) nur, dass ich eben eterna („ewig“) durch enferma („krank“) ersetzt habe. Zwei meiner Follower/innen waren nicht nur wach, sondern auch spanische Muttersprachler/innen, und beide wiesen darauf hin, dass ich statt es hätte está schreiben müssen:
- La revolución está enferma.
Um diese Kritik, und das, was darauf folgte, ((Die gesamte Twitterunterhaltung ist hier nachzulesen.)) zu verstehen, braucht es etwas Hintergrundwissen.
Die Sätze in (1) und (2) sind sogenannte Kopulasätze – Sätze in denen das Prädikat kein Verb ist, sondern ein Adjektiv (wie in 3), ein Substantiv (wie in 4), ein Adverb oder eine Präposition mit ihrem Objekt (wie in 5) oder ein wie-Attribut (wie in 6):
- Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark. (Rosa Luxemburg)
- Die Revolution ist ein Aufstand, ein Gewaltakt, durch den eine Klasse eine andere stürzt. (Mao Tse-Tung)
- Die Revolution ist überall, in jedem Menschen, in jedem Quartier, in jedem Stein. (Nagib Alam)
- Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eignen Kinder. (Georg Büchner)
Das Verb sein hat in diesen Sätzen nur die Funktion, das Prädikat mit dem Subjekt zu verbinden. Solche Verben, zu denen, je nach Sprache und Auffassung auch Verben wie bleiben, werden, scheinen u.ä. gehören –, nennt man Kopulaverben oder einfach Kopulas („Kopulae“, wenn man Bildungsbürger ist). Die bei weitem wichtigste Kopula ist aber typischerweise ein Verb wie sein, das bloße Existenz oder Identität ausdrückt.
Das Spanische hat nun zwei verschiedene Verben, die beide mit „sein“ übersetzt werden: ser (von dem die Form es in (1) abgeleitet ist) und estar (von dem die Form está in (2) abgeleitet ist). Das Verb ser wird mit Adjektiven verwendet, die einen als dauerhaft wahrgenommenen Zustand ausdrücken, das Verb estar mit solchen, die (potenziell) vorübergehende Zustände bezeichnen. Da die Ewigkeit ein relativ dauerhafter Zustand ist, steht bei eterna/-o deshalb ser. Krankheiten sind dagegen zumindest prinzipiell vorübergehende Zustände, weshalb bei dem Adjektiv enferma/-o, wie von meinen spanischsprachigen Follower/innen angemahnt, estar stehen müsste.
Soweit, so Grundwissen. Nun ist es aber so, dass Sprachen es fast immer erlauben, ihre Konventionen kreativ zu brechen. Wenn ich also eine Krankheit als dauerhaft darstellen will, könnte ich dann nicht statt estar („vorübergehendes Sein“) ser („dauerhaftes Sein“) verwenden? Natürlich könnte ich das, und das war mir trotz meines eingerosteten Intensivkursspanisch aus der typologischen Fachliteratur bekannt. ((Zitiert wird dabei meistens der insgesamt sehr vertrauenswürdige Bernard Comrie, z.B. hier oder hier.))
Obwohl es mir bei meinem ursprünglich getwitterten Satz eigentlich nur um die Parallelität zu dem Originalzitat ging, stellte ich mich also den beiden Follower/innen gegenüber auf den Standpunkt, dass ich die Revolution als dauerhaft krank habe darstellen wollen, weshalb ser die richtige Wahl gewesen sei. Aber während die eine meinen Satz dann als „kreativen Sprachgebrauch“ akzeptierte, stellte der andere sich stur. Weder ein Beleg aus der Überschrift einer Zeitung, noch eine Sammlung von Belegen aus dem Standardkorpus des Spanischen, dem CREA-Korpus überzeugten ihn, dass man in Ausnahmefällen sehr wohl ser enferma/-o sagen könne.
Also fuhr ich schwere Geschütze auf, in dem ich eine eindeutige Sprachexpertin und spanische Muttersprachlerin zu Wort kommen ließ. Die guatemalische Schriftstellerin und Journalistin Maria del Rosairo Molina schreibt eine regelmäßige Sprachkolumne, „Horrores idiomáticos y algo más“, und in einer Folge beschäftigt sie sich mit ser und estar. Darin gibt sie eine Reihe von Beispielen, bei denen die Wahl der Kopula die Bedeutung verändert, darunter eines, in dem sie dankenswerter Weise genau das Adjektiv enferma/-o verwendet:
Otros pueden utilizarse con los dos verbos dependiendo del caso: Lázaro es enfermo indica una situación permanente, en tanto que Lázaro está enfermo es una circunstancia pasajera.
(Andere [Adjektive] können mit beiden Verben verwendet werden, abhängig vom Einzelfall: Lázaro es enfermo weist auf eine dauerhafte Situation hin, während Lázaro está enfermo ein vorübergehender Zustand ist.)
Nicht einmal das überzeugte ihn, sodass ich mich gezwungen sah, die Diskussion an der Stelle markig zu beenden.
Interessant ist für mich nicht, dass ich einen Muttersprachler bezüglich seiner Muttersprache mit linguistischem Fachwissen in die Ecke diskutieren kann. Das ist eigentlich selbstverständlich, denn über unsere Muttersprache wissen wir ja normalerweise nichts – wir sprechen sie einfach. Unser Sprachwissen ist prozedurales Wissen („wissen, wie“), kein deklaratives („wissen, was/warum“). Ich habe einmal meiner Swahili-Dozentin in der zweiten Unterrichtsstunde einen Aspekt des Verbsystems erklärt, der ihr bis dahin nicht klar war – das konnte ich nicht, weil ich besonders klug oder sprachbegabt bin, sondern, weil ich mich mit dem Verbsystem von Bantu-Sprachen beschäftigt hatte (sie hat sich übrigens sehr gefreut). Das ist kein Kunststück, sondern bestenfalls ein Partytrick – man muss dazu nur die Fachliteratur kennen.
Interessant ist, dass der Muttersprachler meinen Gebrauch nicht akzeptieren wollte, obwohl er (vermutlich) die Korpusbelege und die Aussagen von del Rosario Molina akzeptiert hat (oder hätte, wenn sie ihm vor unserem Twittergespräch untergekommen wären. Das liegt meiner Meinung nach eben genau daran, dass ich kein Muttersprachler bin – wenn Menschen, die eine Sprache erkennbar als Fremdsprache sprechen, diese kreativ verwenden, kategorisieren wir wohl ganz allgemein Dinge als Fehler, die wir Muttersprachler/innen ohne Wimpernzucken als Kreativität durchgehen lassen.
Ich frage mich, warum das so ist. Es könnte darauf hindeuten, dass wir als Muttersprachler/innen eine vereinfachte Alltagstheorie von Sprache haben, in der es „richtig“ und „falsch“ gibt. Obwohl diese Theorie im Sprachalltag keine Rolle spielt — dort richten wir uns stattdessen nach „gewohnt/normal“ und „ungewohnt/kreativ“ – kramen wir sie in bestimmten Situationen (z.B. Fremdsprachler/innen gegenüber) hervor. Diese Alltagstheorie wird möglicherweise durch schulischen Sprachunterricht bestärkt – vor allem im Fremdsprachenunterricht, aber auch im muttersprachlichen Unterricht, tun Lehrkräfte und Lehrwerke häufig so, als sei „richtig/falsch“ der Normalfall in menschlichen Sprachen. Ist er aber nicht. Sprache ist kein Betonkopf mit einem Rohrstock und einem dicken Regelwerk. Sprache ist ein Formwandler mit einem merkwürdigen Sinn für Humor.
La evolución (de la lengua) es eterna.
Um den evolutionären Vorteil der Menschheit — die Sprache — aufrecht zu erhalten, brauchen wir bestimmt nicht nur angeborene Fähigkeiten zum Sprechen, sondern auch zur Weitergabe der Sprache.
Deshalb reagieren die meisten Menschen auf die “Fehler” von Kindern und Ausländern so besonders stark.
Andererseits übernimmt die Mehrheit sehr schnell Formulierungen von Politikern und anderen Meinungsmachern.
Der Unterschied liegt in einem Prozess der unbewussten Abschätzung der Zielperson: Wieviele Äußerungen habe ich schon von dem Sprecher in dieser Sprache gehört? Habe ich bisher schon etwas aus dem Inhalt lernen können?
Das bewirkt eine unterbewusste Entscheidung: Auch wenn ich vielleicht einem Linguistikprofessor in seinen deutschen und englischen Äußerungen vertraue, muss ich misstrauisch werden, wenn er nonkonforme Sätze in anderen Sprachen äußert.
Ich sehe das nicht nur bei Muttersprachler vs. Fremdsprachler, sondern auch bei Fremdsprachler vs. Fremdsprachler — sogar vermehrt und verstärkt. Während z.B. Engländer und Amerikaner kleinere, sprachtypische Fehler durchgehen lassen, und einen kreativen Gebrauch von Grammatik, Semantik, Morphologie goutieren, tendieren Deutsche dazu, dieselben Sachen als ‘Kann kein Englisch/US-Amerikanisch’* abzuqualifizieren.
Ist auch einsichtig, schließlich lernen wir in der Schule eben in den Kategorien ‘richtig’ vs. ‘falsch’. Von einem Kontinuum zwischen ‘üblich/Standard’ und ‘ungrammatisch/unverständlich’ hört man vielleicht mal in einem Nebensatz — aber spätestens zur Klassenarbeit ist das wieder Makulatur.
*leicht verkürzt der Klarheit wegen
Du wurdest gezwiebelfischt
Was dahinter steckt: Sprecher denken nicht über Grammatik nach sondern reden frei Schnauze. Ich denke das läuft eher nach Muster-Nachahmung ab als nach Ableitung grammatischer Regeln. (Gibts dazu fachliteratur? bin ja nicht vom Fach).
D.h. für einen normalsprecher reicht es, dass du gegen die eingeprägten Muster verstößt, um ein Gefühl des “Regelverstoßes” zu bewirken.
“Formale Korrektheit” und “gewohnte Korrektheit” sind nur bedingt Deckungsgleich.
Wenn man nun nicht dem gewohnten Muster entspricht gibts entweder die Möglichkeit, dass das gegenüber einem Zutraut, dass man souverän mit der Sprache umgehen kann (dann bist du Kreativ) wenn man es dir nicht zutraut wird es als Fehler aufgefasst.
Etwa: Es hat geschneit vs. Es hat geschnien. Ich benutze letzte Form häufig, als rest-dialekt-färbung wenn man so will. Einem nicht-Muttersprachler würde man diese Benutzung als Fehler ankreiden.
Meine eigenen Erfahrung zeigt “Keine Kreativität bitte, DU bist KEIN Muttersprachler”. Hätte ein Muttersprachler dieses Satz produziert, so wäre er wahrscheinlich unbemerkt durchgegangen. Bei einem Nichtmuttersrachler kommt aber sofort das Bedürfnis auf, zu korrigieren.
Ich habe oft Menschen aus aller Welt bei mir zu Gast, die Deutsch studieren und nach Berlin kommen, um ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen. Sie kommen an, hungrig auf Erfahrungen und Gespräche und benutzen “ihr” Deutsch sehr offen und kreativ, auf eine schöne, fast elegante Art. Viele ihrer Wendungen und Ausdrücke habe ich so noch nie gehört, werden so nicht benutzt oder gesprochen, machen aber Sinn und — vor allem — großes Vergnügen! Dann beginnt ihr Intensivkurs und von Tag zu Tag werden sie unsicherer, fragen immer öfter nach, suchen nach Vokabeln und Artikeln statt Sprache zu benutzen. Einige verlieren sogar ihre Art, Deutsch zu benutzen und sprechen zwar korrekt aber ohne Farbe, ohne Musik, ohne ihr individuelles Übersetzen. So ist die Verständigung zwar einfach, deutlich und klar, die Lust an der Benutzung von Sprache aber, die Vielfalt an Gedanken nimmt deutlich ab.
In einem Gespräch mit einem Freund, er kommt aus dem Iran, ist mir einmal eine ähnliche Situation untergekommen. Wir unterhielten uns über ein paar sprachliche Phänomene im Deutschen, gerieten in einen kleinen Disput um Nebensächliches und das Ende vom Lied war, dass er mir sagte, er beherrsche die deutsche Grammatik wahrscheinlich besser als ich. Zuerst war ich beleidigt, sprachlos obendrein, bis er mich auf genau den oben genannten Aspekt aufmerksam machte, dass nämlich Muttersprachler besser sprechen, weil sie ihre Sprache intuitiv (so nannte er das, glaube ich) richtig benutzen, der Nichtmuttersprachler aber erklärt bekommen muss, weshalb bestimmte Dinge so oder so ausgedrückt werden und in der Folge natürlich auch besser erklären kann.
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1. In diplomatischer Hinsicht war es eine eher schwache Leistung, finde ich. Der Twitter-Dialog deutet nicht gerade an, dass du versuchst herauszufinden, *warum* die Formulierung “es enferma” als unpassend empfunden wird.
2. Meinen Recherchen nach (bin kein span. Muttersprachler) bedeutet “es enferma” schlicht und einfach etwas anderes als “esta enferma”, nämlich etwa “kränkelnd”, also dauerhaft leicht krank, zur Krankheit neigend. In den Beispielen, die du anführst, in denen “es enferma/o” verwendet wird, ist das Subjekt eine Person. Da gibt “kränkelnd” für den Muttersprachler möglicherweise Sinn, aber nicht bei einem Abstraktum. Dafür genau gibt es Muttersprachler, die man fragen kann.
@ mies1234: 1. Es war keine Übung in Diplomatie, es war eine Übung in Zitateverdreherei und Besserwisserei. Ich musste nicht herausfinden, warum meine Formulierung als unpassend empfunden wurde, denn das wusste ich ja, wie der Beitrag vielleicht deutlich macht. 2. Natürlich bedeutet es enferma, wie der Beitrag vielleicht deutlich macht, etwas anderes, nämlich, wie der Beitrag vielleicht deutlich macht, „dauerhaft krank“. Warum das bei einem Abstraktum weniger Sinn ergeben sollte als „kurzfristig krank“, lasse ich mal dahingestellt.
Ich kenne persoenlich sowhl das “vom Muttersprachler korrigiert werden” als auch das “von Nicht-Muttersprachlern korrigiert werden” bei kreativer Sprachnutzung — bei mir hauptsaechlich im Englischen (ich wohne im englischssprachigen Ausland). Ersteres kommt inzwischen nur noch sehr selten vor weil ich praktischerweise einen Akzent spreche der faelschlicherweise als muttersprachlich rueberkommt, aber nicht der lokal ueblich ist. Da kommt man mit viel durch. VOn Deutschen werde ich aber trotzdem manchmal korrigiert, vorzugsweise bei Dingen die nicht falsch sind (nicht mal “kreativ” falsch sondern gar nicht falsch), die aber sehr umgangssprachliche, fuer sie ungewohnte Wendungen enthalten. Ich musste mich mal von einem Deutschen beschimpfen lassen der ungefragt den Satz “Grow the hell up, would you?” von mir in einem Online-Profil verwendet, in etwas holperiges, Sinn-entstellendes korrigieren wollte. Er sei naemlich Englischlehrer, und wuerde sich da ja wohl besser auskennen als ich, und das macht ja gar keinen Sinn so, und was ich mir einbilden wuerde. Grosses Vergnuegen. Kenne ich in so einer Vehemenz von Muttersprachlern eher nicht.
Hallo Anatol, ich wollte kurz auch zum Thema meine Meinung beitragen. Sry für die Fehler 🙁
Es la revolución enferma?
Naja, der Satz höre sich für mich (sp. Muttersprachler) vollkommen falsch, ich werde versuchen zu erklären warum.
1) Él es un enfermo
ist vollkommen in Ordnung, und heißt, dass jemand ein kranker Mann ist, egal ob dauerhaft oder nicht, aber die Person muss die Rolle spielen, und die Krankheit muss etwas ernsthaft sein.
2) Él es enfermo
ist auch in Ordnung, aber ich verstehe es eher so, dass die Person die Rolle eines Kranken im Krankenhaus hat… oder, dass die Person Psychisch krank ist (pervert, pedo, usw).
3) La democracia está enferma
(so wie ‘revolución’)
ist auch in Ordnung und man versteht genau was damit gemeint ist.
4) *La democracia es enferma.
geht nicht mehr so ganz gut. Ich vermute, dass das Problem ist, dass weder ‘democracia’ noch ‘revolución’ belebt sind, und ‘… es enfermo’ Belebtheit deutet. Jedoch, wenn man die zwei Sätze zusammen sagt, funktionieren die viel besser:
5) La revolución es eterna. ‑La revolución es enferma.
Da habe ich keinen Problem mit den Satz, weil im Kontext ist es klar, dass der neue Satz im Gegensatz zu den alten steht, und auch was damit gemeint ist.
Mit Kategorien wie „falsch“ und „gut“ kommt man beim Thema Sprache nicht weiter. Die Frage ist selten, ob Sprecher/innen etwas sagen (können), sondern, was sie meinen, wenn sie es sagen. Was meinten die Muttersprachler, die diese Sätze gesagt haben:
(1) La democracia es enferma. [Link]
(2) La revolución es enferma. [Link]
Dass die Parallelität, auf die Sie hinweisen, eine Rolle spielen kann, ist aber sicher richtig (das hier zitierte Beispiel 2 ist ja, wie mein ursprünglicher Tweet, ein bewusstes Wortspiel).
Wahrscheinlich ist es in den meisten Alltagssituationen tatsächlich so, dass scheinbar poetische Ausdrücke von Nicht-Muttersprachlern nicht intentional, sondern das Resultat von falscher Sprachverwendung sind. Damit macht die Strategie “irritierender Ausdruck+Muttersprachler=> Fehler” als einfache Alltagsheuristik wahrscheinlich Sinn. Wobei ich zugegeben muss, dass ich die Übersetzung “Die Refolution ist kränkelnd” im Deutschen auch als falsch/komisch empfinden würde. “Kränkelnd” bedeutet schließlich auch etwas anderes als “dauerhaft krank”.
@ Stefanie: Wenn enferma/-o mit ser „kränkelnd“ heißen würde (was es nicht tut), dann wäre die korrekte Übersetzung das ganz und gar unauffällige „Die Revolution kränkelt“.
Ich merke, es ist mir insgesamt nur bedingt gelungen, meinen eigentlichen Punkt deutlich zu machen: Dass Muttersprachler/innen eine Alltagstheorie von „richtiger/falscher Sprache“ haben, an die sie sich zwar selbst nicht halten, die sie aber (unter anderem) Fremdsprachler/innen gegenüber hervorholen. Die Fakten bezüglich des Spanischen stehen nicht zur Debatte – es ist völlig unstrittig, dass man es enferma sagen kann – del Rosairo Molina spekuliert ja nicht bloß vor sich hin, sie hat tatsächlich Ahnung von ihrer Muttersprache und Bernard Comrie kann man, wie gesagt, auch vertrauen. Es ist auch unstrittig, dass man enferma/-o mit ser sowohl mit Konkreta (z.B. Menschen) als auch mit Abstrakta (z.B. Demokratie, Revolution) verwenden kann (worum es bestenfalls gegangen wäre ist, unter welchen Umständen Menschen das tatsächlich tun).
Interessant ist, dass das, obwohl es unstrittig ist, bestritten wird. Aber was red ich: La ilusión es eterna.
Let me try again. With ‘falsch’ I didn’t mean that the spirit of prescriptivism compels you not to use it, but that it is semantically anomalous and that the interpretation is not straightforward (pretty much like the colourless green ideas). It is also unlikely that it is *only* because you’re not a native speaker, I got a similar reaction with a couple of friends, but it might very well be a factor. Although, from personal experience, whenever I try jokes in German people think I made a mistake and that I meant something different.
For me, one problem is in fact that the construction [X es enfermo/a] means that somebody is a psycho or has a mental illness, and you don’t want to go anywhere near him, which conflicts with the meaning intended. The links you provide do show that the sentences are used in contexts that make it easier to understand the meaning, and that you’re using some metaphorical extension, or a play on words.
Finally, there might also be some dialectal differences. I’ve heard people from other countries using es/estar in ways I wouldn’t, so it might be that for some dialects that sentences is more acceptable than for others.
In any case, it is something I hadn’t thought about, thanks for the interesting post.
Ich kann nach wie vor Studienkollegen schockieren, wenn ich mit dem (für Studenten einer Sprache in meinen Augen eigentlich als bekannt vorausgesetzten) Fakt daherkomme, dass Grammatik nicht deklarativ ist, sondern lediglich VERSUCHT, das Vorhandene zu beschreiben.
Das Problem ist, dass wir in der Schule eingebläut bekommen, dass Sprache nach dem Lehrbuch funktioniert — erst im Studium (sofern man denn eine Sprache studiert) erfährt man, dass man eigentlich auch viel lockerer an die Sache herangehen kann.
Das liegt vermutlich daran, dass die Schüler sich sonst weigern würden, Grammatik zu lernen oder meinen würden, es wäre eh egal, solange man sie halbwegs versteht (was natürlich im Schulkontext gerade in den ersten paar Sprachjahren seeeehr destruktiv ist und darum verhindert werden sollte).
Nur: Die kreativen Köpfe, die es kapieren, werden darum in dieselben Käfige gezwängt wie jene, die die Käfige als stützendes Korsett dringend nötig haben und jegliche Sprachkreativität wird jungen Leuten regelrecht ausgetrieben.
Daher verstehe ich, wie es zur vorliegenden Situation kommen konnte.
Zwei Anmerkungen:
1. trifft die weit verbreitete Regel, dass “ser” dauerhafte und “estar” potenziell vorübergehende Zustände bezeichnet, nicht ganz zu (siehe Ausnahmen). Eine vollkommen einsichtige Erklärung für Sprachen ohne diese Unterscheidung scheint es nicht zu geben, aber ein wenig näher kommt man der Sache mit der Unterscheidung “Eigenschaft” (ser) vs. “Zustand” (estar). “Krank sein” ist keine Eigenschaft, sondern ein Zustand, außer in einigen Sonderfällen, die Du zitierst.
2. Die Kolumnistin heißt María del Rosario Molina Chacón. Wie in vielen spanischsprachigen Ländern üblich, hat sie zwei Nachnamen: Molina und Chacón. Auch üblich ist, dass nur der erste davon genannt wird (hier Molina). Du zitierst sie als “del Rosario Molina”, so wie deutsche Nachnamen mit Adelspräfix “von X”. Es sieht ja auch sehr ähnlich aus. “Del Rosario” ist hier aber Vornamenszusatz: “Maria vom Rosenkranz”, auch eine typisch spanische Namensfindung: viele heißen María, spezifiziert z.B. durch den Ort der Marienerscheinung oder ein anderes christliches Symbol. Oft wurde dieser Zusatz zu eigenständigen Vornamen: Rosario, Paz, Soledad, Pilar, Carmen, Mar, Consuelo… Interessant daran finde ich — und vielleicht wäre das auch mal Sprachlog-würdig -, dass viele davon maskuline Substantive sind, die problemlos als weibliche Vornamen funktionieren.
3. gibt es die Besserwisserei auch auf Dialektebene. Hochdeutschsprecher werden nicht müde zu betonen, dass einzig ihr Sprachgebrauch korrekt ist.
Danke an Frau Antje für die Erläuterung zu “Rosario”. Wenn Frau Molina Chacón sich irgendwo vorstellt, wird sie wahrscheinlich sagen: Ich heiße Rosario Molina. Auf offiziellen Dokumenten aber wird stehen: María del Rosario Molina Chacón.
Wenn man davon ausgeht, dass als korrekter Sprachgebrauch gilt, was von der Mehrzahl der Sprecher als korrekt empfunden wird, so haben wir natürlich im Spanischen ein großes Problem, nämlich den unermesslichen Reichtum der spanischen Sprache. Der Reichtum des Spanischen beruht zunächst auf seiner Geschichte, denn das Spanische hat viele und sehr unterschiedliche Einflüsse verarbeitet. Dazu kommt noch der Reichtum, der sich daraus ergibt, dass sich das Spanische in einer Vielzahl von Ländern und Regionen, in denen es als Muttersprache oder Wahlmuttersprache gesprochen wird, über Jahrhunderte sehr unterschiedlich entwickeln konnte.
Um bei den Namen zu bleiben: als ich einmal meine Freundin Pilar handfest-andalusisch “Pilarico” nannte, wurde ich korrigiert: der korrekte Diminutiv laute “Pilarín”. (Stimmt auch, die Endung ‑ico stammt aus dem andalusischen Dialekt, nicht aus der Hochsprache.)
Ob aber der kreative Gebrauch der Sprache durch einen Nicht-Muttersprachler von durchschnittlichen Muttersprachlern als akzeptabel empfunden wird, hängt aber eventuell auch davon ab, welche Sprachkompetenz dem Nicht-Muttersprachler zugetraut wird bzw. werden kann.
Bist du dir sicher bzgl ‑ico/-ico als andalusischen Ursprungs? Dem Stereotyp nach gilt das zumindest innerhalb Spaniens als typisch Aragonesisch (daher auch der Spitzname der Zaragozaner ‘mañicos’). Meiner Erfahrung nach führt jeder Gebrauch eines ‑ic@ Deminutivs (insbes. ‘poquico’) direkt zu einem entsprechenden Komentar.
Das Wörterbuch der Real Academia Española (http://lema.rae.es/drae/?val=ico) führt für Spanien Andalusien, Aragón, Murcía und Navarra als Verbreitungsgebiet an.
Diminutiv ‑ín dürfte eher gängig in Asturien sein.
Bezüglich María del Rosario Molina Chacón: Vorstellen wird sich diese Frau als “María Molina” oder “María del Rosario Molina” oder mit einer verkürzten Form, falls es eine passende gibt (z.B. Maria Soledad -> Marisol, Maria del Carmen -> Maica). Der ‘eigentliche’ Vorname bleibt Maria, die nachstehende Präzisierung, wie frauantje schon bemerkt hat, ist eine Ergänzung zu Maria.
Ich habe das Wörterbuch der RAE jetzt nicht konsultiert, sondern bin naiv vom mir vertrauten Sprachgebrauch ausgegangen. Ich will nicht anzweifeln, dass es die Diminutivendung ‑ico auch anderswo gibt.
Aber dass sich eine Maria del Carmen nicht als Carmen, sondern als María vorstellt, eine María del Pilar nicht als Pilar, sondern als María, ist mir in meinen Spanienaufenthalten und in meiner Berufspraxis noch nicht untergekommen. Aber vielleicht steht es ja in der Fachliteratur anders.
Da die Kommentare jetzt ausreichend weit vom Thema abgekommen sind, melde ich mich noch kurz mit der Information zu Wort, dass ich spontan über “guatemalisch” im Blogbeitrag gestolpert bin.
Eine kurze Google-Suche ergab jedoch, dass “guatemalisch” mit dem von mir als standardsprachlich vermuteten “guatemaltekisch” ungefähr gleich auf liegt. Wieder was gelernt.
Und nebenbei noch vielen Dank für die Erklärung zum Unterschied zwischen “estár” und “ser”. Ich hatte mich bisher auf mein Nicht-Muttersprachler_innen-Sein zurückgezogen (und diese Verben synonym benutzt), werde jetzt aber doch frisch motiviert den Versuch starten, diese Verben in Zukunft differenziert zu verwenden.