Am Montag berichteten wir eher grundlegende Schwächen der Greenfield-Studie („Das Ego in der Sprache“), heute kommen wir in Lektion 2 kurz zu Bedeutungs- und Funktionswandel. Das wollte ich in etwas anderer Form eigentlich lexikalisch an Kindern illustrieren, ich fand die syntaktische Pflicht aber erhellender.
Das erste Begriffspaar, an dem Greenfield den Wertewandel illustriert, ist oblige(d) und choose. Dass choose nicht signifikant frequenter geworden ist, macht Greenfields Argument eigentlich schon auf der quantitativen Ebene kaputt genug. Um oblige habe ich mich gar nicht gekümmert, obwohl mir bei einer flüchtigen Suche aufgefallen war, dass es ungewöhnlich häufig als Partizip auftritt, für die Periode 1810–1830er nämlich in fast 82%. ((Andere, willkürlich ausgewählte Verben für 1810er-1830er (COHA): asked 38%, made 46%, loved 26%, collected 31%, promised 57%, forced 53%)) Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es nicht wie „normale“ andere Verben verwendet wird. Zumindest sollte man mal genauer hinsehen.
oblige mutet heute meist etwas antiquiert an und heißt etwa soviel wie ‚verpflichten, verpflichtet sein‘ oder ‚zwingen, gezwungen sein/werden‘, aber auch ‚einen Gefallen tun, einer Bitte nachkommen‘ und ‚dankbar sein‘:
Indeed, when Bernard Bergonzi complains of the uniformity of the novels he is obliged as a reviewer to read, he gives as a sample situation a scenario that could well be based on The Languages of Love: [BNC G1N 14]
That obliged him to have everything finished earlier. [BNC HXG 762]
Indian artists were obliged, or forced, to abandon their own forms of representation and learn the European way. [BNC A6U]
The Board obliged and, in fact, dismissed the porter. [BNC CMG 499]
I’d be awfully obliged if you would. [G12 461]
Aber war das damals auch schon so? Das mit der Bedeutung ist für 1810 diffiziler, was aber sofort auffällt: Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es eigentlich ausschließlich Verwendung des Musters oblige to, und davon in überwältigender Mehrheit in der Form be obliged to:
At the approach of winter I was obliged to get some new clothes. [COHA, 1812]
The distance which many of the representatives will be obliged to travel, and the arrangements rendered necessary by that circumstance, might be much more serious objections with fit men to this service, if limited to a single year, than if extended to two years. [COHA, 1817]
Wieviel Zwang da dahinter steht und in welcher Intensität, ist nicht so einfach auszumachen. Aber bei be obliged to klingeln sofort alle Modaldetektoren. Das ist semantisch natürlich nicht verwunderlich, weil es um Verpflichtung geht, wie bei „richtigen“ Modalverben (z.B. should, must). Es gibt im Englischen noch eine Handvoll sogenannte Quasi- oder Halbmodale, die ebenfalls Obligation ausdrücken und be obliged to nicht unähnlich sind: be supposed to, need to und have to. ((Weitere Beispiele für ähnliche Ausdrücke nach dem Muster be X to: be going to, be about to, be to, be able to.)) Die meisten Verwendungen in COHA für die 1810er haben in etwa die Bedeutungen der heutigen Halbmodale have to und need to.
Wenn obliged also so dramatisch sinkt, dann sinkt logischerweise auch der modalwertige Ausdruck be obliged to. Und dann? Dann das:
Um 1800 sind diese rein formal ähnlich häufig, ((Suchanfragen: [be] obliged to, [be] supposed to, [need].[v*] to, [have].[v*] to, ohne Zwischenmaterial)) wobei nicht gesagt ist, dass be supposed to und need to bereits überwiegend modalen Charakter haben (vermutlich nur have to). Dann explodiert zuerst have to, später folgt need to. Für obliged to scheint es in diesem Mix aus alternativen Konstruktionen eine Bedeutungsverschiebung, d.h. eine Spezialisierung zu intensiverem Zwang zu geben, denn zumindest heute besteht zwischen I am obliged to go to work und I have to go to work ein deutlicher Unterschied, have to ist genereller einsetzbar. Außerdem scheinen bei oblige(d) als „Vollverb“ die spezialisierten Bedeutungen und archaisch anmutende Wendungen aus den obigen Beispielen aus dem BNC übrig zu bleiben.
(Die Grafik sollte nicht so interpretiert werden, dass wir heute modaliger sprechen als früher — für die „core modals“ wie would, should, must, can, could — wird ein Rückgang vermutet, für Semi- und Halbmodale dagegen eine Zunahme. Man ist sich aber noch nicht so richtig einig [Leech 2011, Millar 2009].)
Es geht also komplett an der Entwicklung vorbei, formale und funktionale Strukturen zu ignorieren; das hat für die Validität von Greenfields Argument deutliche Folgen. Greenfield begründet die Entscheidung gegen die Analysen von Bi- bzw. Trigrammen übrigens damit, dass mehrteilige Suchmuster zu infrequent wären und damit keine bedeutsame Analyse möglich ist (Greenfield 2013: 3). Wobei ich eher glaube, dass ihr die linguistische Relevanz überhaupt nicht bewusst ist.
Die Geschichte geht vermutlich eher so: sie möchte das Konzept PFLICHT lexikalisch repräsentieren. Also wählt sie einen Begriff aus, der einen möglichst starken „Verpflichtungscharakter“ hat (heute das hat obliged) oder lässt sich vom archaischen Charakter eines solchen zumindest beeinflussen. Es ist aber ein Verpflichtungscharakter, dessen Form vor 200 Jahren die Funktion und Bedeutung zu haben schien, die heute have to oder need to weitgehend übernommen haben. Von weniger in der Sprache kodierter Pflicht würde ich da nicht so voreilig sprechen wollen.
Literatur
Greenfield, Patricia. 2013. The changing psychology of culture from 1800 through 2000. Psychological Science, 7 August 2013 (ahead of print). DOI: 10.1177/0956797613479387
Leech, Geoffrey. 2011. The modals ARE declining. Reply to Neil Millar’s “Modal verbs in TIME: Frequency changes 1923–2006”, International Journal of Corpus Linguistics 14:2 (2009), 191–220. International Journal of Corpus Linguistics 16(4). 547–654.
Millar, Neil. 2009. Modal verbs in TIME: Frequency changes 1923–2006. International Journal of Corpus Linguistics 14(2). 191–220. doi:10.1075/ijcl.14.2.03mil.