Das Oxford English Dictionary ist einer langen Tradition sorgfältiger lexikografischer Arbeit auf höchstem wissenschaftlichen Niveau verpflichtet – es ist quasi, wie sein Name schon sagt, das Oxford unter den English Dictionaries.
Dabei spielt vor allem die Suche nach Erstbelegen – also den ersten schriftlich dokumentierten Verwendungen von Wörtern – eine Rolle. Diese werden häufig von lexophilen Laien an die Redaktion des OED geschickt, wo sie dann sorgfältig nach allen Regeln der Wörterbuchmacherei überprüft und gefaktencheckt werden, bevor sie den bisherigen Erstbeleg eines Wortes auf die Müllhalde der Sprachgeschichte befördern dürfen.
Oder sie werden einfach aus Internetquellen mit notorisch unzuverlässiger Datierung übernommen ohne auch nur oberflächlich auf Plausibilität überprüft zu werden. So geschehen im Fall eines alten Bekannten des Sprachlogs, dem shitstorm. Der findet sich im OED als Unterpunkt des Eintrags für shit und wird definiert als „a frenetic or disastrous event; a commotion, a tumult“ (ein hektisches oder katastrophales Ereignis, ein Durcheinander, ein Tumult).
Dieses von vielen als vulgär empfundene Wort hat ja eigentlich einen exzellenten Stammbaum: Sein Erstbeleg findet sich in Norman Mailers Roman The Naked and the Dead von 1948 – einem Klassiker der amerikanischen Literatur, in dem es heißtThe hell with Brown […] He’s been missing all the shit storms. It’s his turn. (Sprachlogleser/innen wissen das natürlich längst).
Bis vor kurzem stand dieser Erstbeleg auch im OED, aber als ich die Etymologie des Wortes anlässlich seiner Aufnahme in den Duden (der ja seit einigen Wochen das Berlin unter den deutschen Wörterbüchern ist) noch einmal nachschlug, stellte ich fest, dass dies nicht mehr der Fall ist. Stattdessen steht dort ein scheinbar acht Jahre älterer Beleg:
1940 G. Graham/One-eyed Man is King/viii. 69 Bob had a temper and could create a shit storm in a minute.
Ich kann nicht genau sagen, warum, aber der Beleg kam mir gleich seltsam vor. Eine Google-Suche ergab an prominenter Stelle der Trefferliste einen Eintrag auf Google Books, der tatsächlich den 1. Juni 1940 als Publikationsdatum für das Buch The One-Eyed Man is King eines gewissen Gordon Graham angibt. Allerdings findet sich auch ein Treffer auf World Cat, der das Publikationsjahr 1982 nennt. Ich googelte also nach dem Namen des Autors und fand heraus, dass er ein Ex-Sträfling ist, der zwischen 1957 und 1970 in verschiedenen Strafanstalten einsaß, danach sein Leben änderte und heute sein Geld als Motivationscoach verdient. In einem offiziellen YouTube-Video von 2008 wirkt er etwa siebzig Jahre alt, aber selbst wenn er dort schon achtzig sein sollte, wäre er 1940 erst zwölf gewesen – sehr jung für einen Autor.
Es erscheint mir deshalb wahrscheinlich, dass er das Buch The One-Eyed Man is King, in dem es bezeichnenderweise um das Leben im Gefängnis geht, tatsächlich erst nach seiner Haftzeit geschrieben hat, und dass das bei World Cat angegebene Publikationsdatum stimmt. Das habe ich vor einigen Wochen auch (mit ausführlicheren Belegen) der Redaktion des Oxford English Dictionary mitgeteilt, habe aber nur eine automatisierte Antwort erhalten und seither nichts mehr gehört.
Da hilft es wohl nur, das OED mit einem Shitstorm im deutschen Wortsinne (engl. public relations shitstorm) zu überziehen. Weg mit Motivationscoach Gordon! Der shitstorm muss ein Mailer bleiben! Oder wir genießen einfach das schöne Wetter und akzeptieren, dass das Oxford English Dictionary halt auch nur ein Mensch ist, der alles glaubt, was Google sagt.
Vielleicht hat das OED auch einfach geglaubt, was Gordon postulierte: The One-Eyed Man is King. 🙂
Hattet ihr bei der Herkunft des Wortes auch das Idiom ‘the shit hitting the fan’ im Auge gehabt? Ohne das jetzt prüfen zu können, scheint mir Mailer eine Steigerung davon vorgenommen zu haben, die er noch zusätzlich verstärkte, indem er es in seinem bekannten journalistischen Stil [matter of factly] benutzte.
@ Dierk: Ich glaube nicht, dass Mailer das Wort shitstorm tatsächlich erfunden hat. Meine Vermutung ist, dass es Soldatenslang aus dem 2. Weltkrieg ist und Mailer das nur als erster festgehalten hat. Ob der Slangausdruck seinerseits auf the shit hits the fan zurückgeht, weiß ich nicht, finde es aber nicht unplausibel. Andererseits sind die Angelsachsen generell ziemlich besessen von shit.
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