Mein wöchentliches Durchkämmen der Presse liefert nicht immer Material für die Sprachbrocken – so auch diese Woche. Ich habe deshalb per Twitter nach Themenwünschen gefragt, die ich im Sprachbrockenformat beantworten könnte. Aus den zahlreichen Wünschen habe ich vier ausgewählt, zu denen mir spontan etwas einfiel (die übrigen Vorschläge habe ich mir notiert und werde vielleicht bei Gelegenheit darauf zurückkommen). Los gehts.
@ol_sen wünscht sich eine „Analyse, warum Hessen ‚ist das mir‘ bzw ‚wem ist das‘ sagen“, da ihn das „seit Jahren aufregt“. Das ist leicht zu beantworten: Sie sagen es, weil Possessivität (also Besitzbeziehungen im weiteren Sinne) auf Satzebene in ihrem Sprachsystem durch die Konstruktion [NOMINATIVPossessum + sein + DATIVPossessor] ausgedrückt werden. Das ist typologisch auch nicht weiter ungewöhnlich – viele Sprachen kennzeichnen den Possessor (den Besitzenden) durch einen Dativ (auch das Standarddeutsche tut das ja in Konstruktionen wie Die Ärztin verbindet ihm die Hand). Interessanter ist die Frage, dass @ol_sen (und viele andere) sich über diese und ähnliche Konstruktionen so aufregen. Das liegt zum einen natürlich daran, dass das Standarddeutsche in der entsprechenden Konstruktion statt des Dativs den Genitiv verwendet, und die Konstruktion mit dem Dativ deshalb ungewohnt klingt. Zum anderen liegt es daran, dass wir in der Schule und in der von Sprachnörglern beherrschten öffentlichen Diskussion sprachliche Abweichungen immer nur als Fehler und nie als Ausdruck einer natürlichen Vielfalt kennen lernen. Ich empfehle @ol_sen hier einen weniger aufgeregten Umgang mit sprachlicher Variation – seinem Avatar entnehme ich, dass er (wie ich) Fan des FC St. Pauli ist – ich nehme also an, dass er sich über die Jahre eine hohe Frustrationstoleranz zugelegt hat.
@greveler und @EmckeExpedition möchten etwas zum Wort asozial hören – inspiriert, so vermute ich, durch die Gaucksche Feststellung „Wer Steuern hinterzieht, verhält sich verantwortungslos oder gar asozial“. Für diese Zuschreibung hat er ja viel Kritik geerntet: Das Wort asozial klinge „nicht mehr nach Fehler, es klingt nach einem zentralen Charaktermerkmal“, fand etwa Stefan Braun in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG – deshalb habe „der Begriff mit Blick auf Hoeneß einen Haken: Er passt nicht auf jenen Hoeneß, der viel hilft und viel stiftet“. Und Torsten Krauel stößt sich in der WELT daran, dass „Sünder“ mit diesem Wort „aus der Gesellschaft ausgestoßen“ würden. Ich lasse dahingestellt, ob Steuerhinterziehung in Millionenhöhe tatsächlich eine „Sünde“ ist, und nicht vielmehr eine schwere Straftat, und ob sich daraus nicht durchaus Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen ziehen lassen. Stattdessen beschränke ich mich auf die Vermutung, dass die Empörung, die aus der konservativen Presse jedes Mal zu hören ist, wenn Banker, Vereinspräsidenten und andere ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft als asozial bezeichnet werden, nichts mit Charakter-zuschreibungen oder dem Ausschluss aus der Gesellschaft zu tun haben. Asozial hat ja, laut DUDEN, mindestens drei Bedeutungen: 1. „sich nicht in die Gemeinschaft einfügend“, 2. „die Gemeinschaft, Gesellschaft schädigend“, und 3. „ein niedriges geistiges, kulturelles Niveau aufweisend; ungebildet und ungehobelt“. Die letzte dieser Bedeutungen dürfte es sein, die den Unmut auslöst – asozial sind für den Konservativen immer nur die Verlierer der Leistungsgesellschaft, aber keinesfalls deren Stützen, wie z.B. ein bekannter, beliebter und vor allem wohlhabender Präsident eines erfolgreichen Fußballvereins. Und genau diese Ideologie ist es übrigens, die dafür gesorgt hat, dass ein Wort, dessen wörtliche Bedeutung „nicht Teil der Gesellschaft“ ist, zu einem Schimpfwort für diejenigen geworden ist, die am unteren Rand aus der Leistungsgesellschaft herausfallen, aber nicht für diejenigen, die sich am oberen Rand über diese erheben.
@BauerJelinek will wissen, ob es „ehrlich verdienten“ Reichtum gibt. Eine gute Frage, denn ehrlich bedeutet ja soviel wie „ohne Verstellung, ohne Lügen“. Unehrlich verdienter Reichtum wäre demnach Reichtum, der z.B. durch den Verkauf homöopathischer Medikamente oder ähnliche Trickbetrügereien erworben wurde. Aber tatsächlic wird die Redewendung „ehrlich verdient“ eher verwendet, wenn darauf hingewiesen werden soll, wie hart jemand angeblich für etwas gearbeitet hat, bei dem für jeden offensichtlich ist, dass Leistung und Entlohnung in keinem realistischen Verhältnis zueinander stehen. Nehmen wir als Messlatte Krankenschwestern oder Bergleute, die zweifellos sehr hart arbeiten. Die verdienen, wenn es gut läuft, 2000 Euro brutto, in einem 30-jährigen Arbeitsleben also 720 000 Euro. Wenn wir von der Einfachheit halber davon ausgehen, dass diesem Einkommen keine Kosten gegenüber stehen, ergibt sich daraus die Erkenntnis, dass ein Vermögen von mehr als 720 000 Euro keinesfalls „ehrlich verdient“ sein kann.
@StefanSasse schließlich wünscht sich „mehr vernünftige Beispiele für geschlechtergerechte Sprache (Lehrende etc.)“. Die würde ich gerne liefern, wenn ich wüsste, wie sie sich für ihn von unvernünftigen Beispielen unterscheiden. Vielleicht meint er Beispiele, die nicht ungewohnt klingen. Dann wäre es schwer, seinen Wunsch zu erfüllen, denn damit Wörter nicht ungewohnt klingen, müssen sie etabliert sein, und wenn sie etabliert wären, hätten wir ja kein Problem. Vielleicht meint er aber auch Beispiele, die keine orthografischen Tricks oder Besonderheiten (wie Schräg- oder Unterstriche, Binnenmajuskeln oder Sternchen) beinhalten. Dann wäre Lehrende ein gutes Modell, das sich auf viele Tätigkeitsbezeichnungen erweitern ließe, die traditionell durch die Endung -er gebildet werden (z.B. Busfahrende statt Busfahrer/in, Kassierende statt Kassierer/in usw. Dort, wo diese Strategie an ihre Grenzen stößt, können Wörtbildungen mit -person oder -kraft (nach dem Modell Lehrperson oder Lehrkraft) weiterhelfen (z.B. Fahrkraft statt Fahrer/in oder Kassenperson statt Kassierer/in). Aber „vernünftig“ werden auch das nur diejenigen finden, die den Status Quo als Problem erkannt haben.
Danke. Und wieder bin ich etwas schlauer geworden.
Bei den Busfahrenden hätte ich, Geschlechterneutralität hin oder her, das Problem, dass evtl. auch ‘im Bus Mitfahrende’ (also gemeinhin Fahrgäste) gemeint sein könnten.
@ Hannah: Alternativen wären Buslenkende/r, Lenkperson, Busfahrkraft…
Danke für die Antwort ^^ Ich meinte tatsächlich Worte ohne “orthografischen Tricks oder Besonderheiten (wie Schräg– oder Unterstriche, Binnenmajuskeln oder Sternchen)”, weil ich die unvernünftig finde, da sie im alltäglichen Sprachgebrauch nicht nutzbar sind. Ich will aber Worte, die ich auch wirklich nutzen kann; daher das Lehrende-Beispiel.
“Busfahrende” ist nicht eindeutig genug, weil damit auch Leute gemeint sein könnten, die generell oder hin und wieder den ÖPNV benutzen, in einer Gegend in der kein Schienenverkehr angeboten wird. Es ist aber auch der falsche Ansatz, weil “fahren” den Sachverhalt nicht präzise genug eingrenzt. Was den Fahrer vom Fahrgast unterscheidet ist, daß ersterer den Bus lenkt, also ein Fahrzeuglenkender ist. Man könnte auch Steuerkraft sagen oder Lenkkraft, aber alle diese Begriffe sind entweder unverständlich oder bereits anderweitig assoziiert, die Lenkkraft etwa nennt man auch Servo, bei Steuerkraft denke ich an meine Steuerkanzlei. Ich fürchte also, die Suche nach geeigneten Wörtern wird nicht immer zu einem akzeptablen Ergebnis führen.
Wäre es da nicht eine viel bessere Idee, parallel zur weiblichen eine speziell männliche Form einzuführen, wie im Esperanto? Ich plädiere für ‑us, also “Busfahrerus”.
“Nehmen wir als Messlatte Krankenschwestern oder Bergleute, die zweifellos sehr hart arbeiten. Die verdienen, wenn es gut läuft, 2000 Euro brutto…”
Vom üblichen Verdienst der Bergleute habe ich keinen Schimmer, Krankenschwestern (zumindest die im öffentlichen Dienst) verdienen wenn es gut läuft aber schon ein bisserl mehr als 2000 brutto (wikipedia spricht von “mindestens 2160 Euro/Monat Grundgehalt”), auch wenn ich keinesfalls abstreiten will, dass sie mehr “verdient” hätten, im Gegenteil.
Übrigens heisst es ja heute nicht mehr “Krankenschwester” sondern “Gesundheits- und Krankenpfleger/-in”. Bin ich jetzt ein Sprachnörgler, wenn ich das wirklich unschön finde, zumal es ja noch nicht mal die Kriterien für geschlechtergerechte Sprache auch nur im Ansatz erfüllt 😉
‘Busfahrer’ ist doch in keiner Weise eindeutiger als ‘Busfahrende’, wir haben uns nur daran gewöhnt, dass es meist den Menschen am Steuer bezeichnet. ‘Ich fahre Bus’ sagt ohne Kontext auch nichts darüber aus, ob ich vorne über den Pedalen sitze oder hinten im Gelenk.
Ohnehin gibt es nicht so besonders viele Wörter, die für sich allein betrachtet, eine eindeutige Bedeutung haben — nicht einmal Namen. Somit wäre Eindeutigkeit kein gutes Charakteristikum für genderneutrale Begriffe.
@Dierk: “Busfahrer” soll den Menschen am Steuer bezeichnen? Also, in meinem Bekanntenkreis gibt es Autofahrer und Busfahrer, von den letzteren hat ganz sicher noch nie einer einen Bus gesteuert.
Ich habe auch etwas die Stirn gerunzelt und noch mal im Wörterbuch nachgeschlagen, als ich das mit dem “asozial” gehört habe. Als Alternative steht ja noch “unsozial” als ‘gegen die Interessen sozial Schwächerer gerichtet’ (http://www.duden.de/rechtschreibung/unsozial) zur Verfügung, was ich spontan eher erwartet hätte. Asozial als ‘unfähig zum Leben in der Gemeinschaft, sich nicht in die Gemeinschaft einfügend; am Rand der Gesellschaft lebend’ trifft ja bei einer öffentlichen Person wie Hoeneß nur mit Mühe zu. Insbesondere mit der zweiten der o.g. Bedeutungen von “asozial” bin ich in diesem Kontext aber auch sehr einverstanden.
Ich würde der hier implizierten These widersprechen wollen, man erhebe sich über die Gesellschaft, indem man Steuern hinterzieht. Man kann im Gegenteil in schönster Harmonie alle Mitglieder der Gesellschaft völlig auf einer Ebene sehen und gerade deshalb unseren jetzigen Staat und seinen Steueranspruch für fundamental illegitim halten. Zum Beispiel.
Mir als Hessin geht der erste Abschnitt runter wie Öl! :)))
Noch was: wer unrechtmäßig Geld behält, mit dem der Staat Dinge für die Gesellschaft bezahlen könnte (Ärzte, Polizisten, Krankenschwestern, Straßenkehrer, etc.), der schadet meiner Meinung nach der Gesellschaft und ist somit im reinsten Wortsinn asozial. Wer sich dadurch beleidigt fühlt soll gefäligst seine Steuern zahlen!
Wen das “-er” stört, soll doch “-a” schreiben. Busfahra. Mala. Maura.
@slowtiger: nur wie soll mensch die suffixe unterscheiden, wenn sie ausgesprochen werden?
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@Muriel: Inwiefern berechtigt eine solche Ansicht zum Ignorieren der aktuell existierenden Gesellschaftsordnung? Wer Steuern hinterzieht, begeht eine Straftat. Das kann man als überzogen, ungerechtfertigt oder sonstwas betrachten, aber Tatsache ist, dass das in unserem Rechtssystem so geregelt ist; Einzelpersonen können sich darüber nicht einfach hinwegsetzen (oder präziser: sie können es, aber sie haben dann mit Konsequenzen zu rechnen).
@Ospero:
“Wer Steuern hinterzieht, begeht eine Straftat.”
Tolles Argument um jemanden zu überzeugen, der den Staat für illegitim. (Den Staat schon — aber das StGB? Niemals!)
“Einzelpersonen können sich darüber nicht einfach hinwegsetzen (oder präziser: sie können es, aber sie haben dann mit Konsequenzen zu rechnen).”
Das gilt analog auch für die Regeln im Territorium von Straßengangs.
Ich bin ja selbst kein Anarchist, aber etwas weniger plump würde ich mir Argumente gegen den Anarchismus trotzdem, oder auch gerade deshalb, wünschen.
“für illegitim” -> “für illegitim hält”
@Ospero: Ungefähr, was David gesagt hat, nur mit dem (irrelevanten) Unterschied, dass ich tatsächlich Anarchist bin.
Ich denke, dass die Bewertung einer Tat nicht davon abhängt, wie viele Menschen sie begehen, die Legitimation einer Regel nicht davon, ob die, die sie aufstellen, sie mit Gewalt durchsetzen können.
@wug
Fahrer von Fahra, Maurer von Maura in der Aussprache zu unterscheiden ist für einen Hessen ein Klacks. Lernen Sie also Hessisch, dann klappt’s.
Und zudem können Sie so schöne Sätze verwenden wie “Des is net meim Sohn sein Ranzen. Weiß jemand, wem der is?”.
Leute, die die Gemeinschaft schädigen, bezeichne ich schon seit Jahren als “asozial”. Da kommt dann immer wieder der Einwand, der oder die könne doch nicht asozial sein, die Person wäre ja reich.… außer bei Lafontaine, der ist ja asozial, weil er selbst reich sei, aber linke Thesen vertritt.…
Tja, man schaue sich die Definitionen 1 und 2 an und schon stellt man fest, dass ein Hoeness, ein Ackermann und Konsorten sehr wohl asozial sind.
@ Muriel: Bisher hatte ich eine gute Meinung von Ihnen, aber sie schwindet.…. und ich bezeichne mich selber als Anarchist, aber im sozialen Kontext.
@Statistiker:
Ehrlich jetzt?
Lieber Himmel!
Was habe ich getan? Weh mir!
Ich nehme alles zurück und tue, was Sie wollen, aber bitte haben Sie mich wieder lieb!
Sie streben also eine Form von Anarchie an, in der alle immer brav ihre anarchistischen Steuern an den anarchistischen Staat abführen, oder wie muss ich mir das vorstellen?
(Ja, dieser Kommentar ist ein bisschen polemisch, aber die Frage ist ernst gemeint, und ich wüsste drüber hinaus auch wirklich gerne, was ich getan habe, um Ihre gute Meinung von mir zu schädigen.)
Fällt jemandem vielleicht eine geschlechtsneutrale Alternative zu “Mitarbeiter” ein? Denn die “Mitarbeitendenliste” klingt äußerst holprig und da ich das Wort auch in Überschriften verwende, die manchmal ausschließlich Großbuchstaben verwenden, funktioniert etwa das Binnen‑I bei mir auch nicht.
“Mitarbeitendenliste” erscheint nur holprig, weil es noch uneingeübt ist.
Als Hessin finde ich es jedenfalls wesentlich einfacher auszusprechen, als z.B das Wort “technisch” oder gar “Ichschwäche”
.….
Zur Behauptung, dass Homöopathen Trickbetrüger seien, sag ich jetzt mal nix…
@Flux: Ich finde aber, dass das ein durchaus berechtigter Einwand wäre. Ein paar von denen wissen vielleicht gar nicht, dass sie Bullshit verkaufen.
@Rolf: So isses! 😀
@flux: dito
@Rest: finde es müßig, mich hier über meinen Anarchisten-Status zu äußern.
Wer aber von den Anarchisten in einer Schule in Deutschland lesen und schreiben, etc. gelernt hat sollte sichmal fragen, wer die Lehrer und das Gebäude bezahlt hat. Wir profitieren alle von den Steuern. Wer in einer Gesellschaft lebt muss auch seinen Beitrag leisten, Staat und Gesellschaft lässt sich da nicht trennen. Wem dieser Staat nicht gefällt kann in die Politik gehen und was ändern oder sich einen anderen suchen. Anarchisten suchen sich bitte eine einsame Insel.
Meines Wissens ist es durchaus zulässig, in diesem Staat Anarchist zu sein, ohne ihn deshalb zu verlassen oder gar in die Politik zu gehen. Wer das gar zu doof findet, sucht sich bitte (Google) Kants “Was ist Aufklärung” und studiert es eifrig.
Hört nicht auf David. Er will euch nur ärgern. Kant war ein Troll.
@David: Ich weiß, ich sollte mich über deine Unterstützung freuen, und überhaupt, aber ich kann nicht anders.
Alda, Du hast “Was ist Aufklärung” doch gar nicht gelesen, sonst würdest Du doch jetzt nicht mit dieser Scheiße um die Ecke kommen.
Und deswegen lese ich es auch nicht, sonst kann ich das in Zukunft ja nicht mehr.
Falls auch in einer der nächsten Wochen die Presse mal nichts hergibt, hier zwei weitere Fragen:
1. Wird ʔ im Deutschen zum Phonem durch Minimalpaare wie Nachbarin [’naxbaʀin] und Nachbar_in [naxbaʀʔin]?
2. Fortsetzung des Jespersen-Zyklus im Deutschen durch “gar nicht” (im Supermarkt auf die Frage nach etwas, das nicht im Sortiment ist — “nee, sowas haben wir gar nicht”)?