Seit wir 2011 Shitstorm zum Anglizismus des Jahres gewählt haben, vergeht kaum eine Woche, in der ich meinen Namen nicht irgendwo in Verbindung mit diesem Wort lesen darf. Wann immer ein Shitstorm diskutiert wird, finden sich in einem Nebensatz oder in einem erklärenden Kasten ein Hinweis auf unsere Wahl und ein oder zwei Zitate von mir. Obwohl ich leicht zu erreichen bin, sind diese Zitate normalerweise alt und stammen aus Pressemitteilungen oder Interviews, und nicht aus meiner Laudatio oder Susannes exzellenten Beiträgen zu diesem Wort. ((Wobei hier ein Lob an die Wikipedia angemessen ist, die sich in dem Eintrag zu diesem Wort in wichtigen Punkten auf unsere Recherchen stützt.)) So auch heute, wo eine Pressemeldung der dpa den 50. Geburtstag des Wortes bekannt gibt (abgedruckt z.B. in der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Vermeintlich neues Wort“):
Die wohl früheste schriftliche Erwähnung des Wortes liegt aber etliche Jahrzehnte zurück. Sie findet sich im Roman “Cat’s cradle” von Kurt Vonnegut. Das Erscheinungsjahr ist 1963. In diesem Buch über die Zerstörung der Welt durch eine chemisch-physikalische Superwaffe schildert Vonnegut eine fiktive Religion, die auf einer ebenfalls fiktiven kleinen Karibikinsel von einem Religionsstifter namens Bokonon begründet wurde.
Diese Religion, der “Bokononism”, hat einen eigenen religiösen Wortschatz. Dazu gehört der Begriff “pool-pah”, über den Kurt Vonnegut schreibt, der fiktive Religionsgründer Bokonon habe zwei Vorschläge für eine Übersetzung ins Englische gemacht: “Wrath of God”, also Zorn Gottes, oder “shit storm”, was in der deutschen Übersetzung des Buches mit den Worten “Orkan von Scheiße” wiedergegeben wurde. Da ältere schriftliche Belege bislang nicht auffindbar sind, deutet also vieles darauf hin, dass man dieses Jahr den 50. Geburtstag des “Shitstorm” feiern kann.
Woher diese Information stammt, ist unklar, ich nehme aber an, dass sie aus diesem (insgesamt gar nicht schlechten) Beitrag des Bayrischen Rundfunks stammt, in dem es heißt:
Die erste auffindbare schriftliche Erwähnung findet sich in einem Roman des amerikanischen Schriftstellers Kurt Vonnegut, der es in den bewegten 60er und 70er-Jahren in den USA zu einem gewissen Kultstatus brachte. In seinem Buch “Cat’s Cradle” schildert Vonnegut eine fiktive Religion, die auf einer ebenfalls fiktiven kleinen Karibikinsel von einen Religionsstifter namens Bokonon begründet wurde. Diese Religion, der Bokononismus, hat eine eigene religiöse Terminologie. Dazu gehört das Wort “Pool-Pah”.
Und dieser Beitrag, so vermute ich, stützt sich auf den Eintrag des Wortes im Wiktionary, der (derzeit) Vonneguts Roman als ersten Beleg nennt.
Tatsächlich ist das Wort aber deutlich älter, wie wir seinerzeit in der Laudatio diskutiert haben: Es stammt vermutlich aus dem Slang amerikanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg, der erste schriftliche Beleg findet sich in Norman Mailers Roman „The Naked and the Dead“.
Glücklicherweise ist dieser Roman von 1948, sodass wir trotzdem einen symbolträchtig runden Geburtstag feiern können: der Shitstorm wird in diesem Jahr 65 Jahre alt.
A propos 65. Geburtstag: Sascha Lobo (der seinen Namen auch jede Woche im Zusammenhang mit diesem Wort lesen muss) wollte den Shitstorm ja vor einiger Zeit schon beerdigen. Vielleicht können wir das Wort ja wenigstens in Rente schicken.
[Aktualisierung (15:30): Kurz nachdem die ersten Medien die oben verlinkte Pressemeldung der dpa übernommen hatten, informierte ein Leser die ursprünglich verlinkte Quelle, die Ruhrnachrichten, über die fehlerhafte Datierung und nannte den korrekten Erstbeleg. Die Ruhrnachrichten korrigierten den Beitrag umgehend. Fast gleichzeitig machten Leute auf Twitter die dpa auf den Fehler aufmerksam, sodass die innerhalb kurzer Zeit ebenfalls eine korrigierte Meldung herausgeben konnte, die von vielen Medien übernommen wurde (hier z.B. bei der Welt zu finden).
Mein obiger Beitrag war von Anfang an nicht als Presseschelte gedacht. Im Gegenteil: Der ursprüngliche BR-Beitrag gefiel mir und ist ja im Prinzip auch gut recherchiert. Wenn das Wiktionary wirklich die Quelle für die Altersschätzung sein sollte, würde das mich als bekennenden Wiktionary-Fan freuen, und dass das Wiktionary hier nicht den aller aktuellsten Wissensstand wiedergibt, ist angesichts der Tatsache verzeihlich, dass das Wort shitstorm in vielen großen englischen Wörterbüchern gar nicht verzeichnet ist (das deutsche Lehnwort ist im Duden online übrigens bereits zu finden). Vielleicht fühlt sich ja sogar jemand berufen, den Wiktionary-Eintrag zu aktualisieren.
Die schnelle Reaktion einzelner Zeitungen und der dpa ist aber sogar im Gegenteil Anlass für ein Lob der Presse, die, obwohl die Altersfrage des Wortes Shitstorm ja zugegebenermaßen nur von begrenzter Relevanz ist, schnell auf Informationen aus Blogs und sozialen Medien reagiert hat. Und es ist Anlass für ein Lob von Blogs und sozialen Medien, die (wieder einmal) gar keine Konkurrenz zu den klassischen Medien waren, sondern Ergänzung und Korrektiv. Wenn das ein Modell für die friedliche Koexistenz alter und neuer Medien würde, könnten wir uns endlich alle vertragen, Leistungsschutzrecht, Linkboykotte und ähnliches vergessen und einfach unsere gemeinsamen Ziele verfolgen: Informieren, Bilden und Unterhalten.]
Schöner Artikel. Aber was ist an der Zahl 65 rund?
… würden Basken oder Mittelamerikaner bei 70 auch fragen. Rund ist eben eine abgestufte Eigenschaft.
Bin mal dem Aufruf gefolgt und habe Wiktionary aktualisiert 😉
@ D.A.: Dann ist endlich alles gut!
Wenn ich gewusst hätte, dass die URL zu Mailers shit-storm-Verwendung in der Qualitätspresse benutzt wird, ja sogar in die Qualitätsreferenzendatenbank der DPA, “dpaq.de” Eingang findet: http://dpaq.de/1DKQC
dann hätte ich entweder die URL schön und einfach machen sollen, frei von nutzlosem Ballast: http://books.google.de/books?id=hJ8FAQAAIAAJ&q=%22shit+storm%22
oder ich hätte einen funktionslosen, aber informativen Subtext in die URL integrieren sollen: http://books.google.de/books?id=hJ8FAQAAIAAJ&q=%22shit+storm%22&dq=%22shit+storm%22&hl=Erbloggtes_for_President&sa=X&ei=WZ1_UZadGOOF4gS-yoGYAg&redir_esc=y
Aber nachher ist man immer klüger.
@D.A.: In Wiktionary fehlt noch das 1. Vorkommen auf Mailers S. 104 (“shit-storm”, Singular mit Bindestrich), auch in der AdJ-2011-Laudatio zitiert.
@Erbloggtes: Danke für den Hinweis. Das Vorkommen auf S. 104 scheint aber das zweite in dem Buch zu sein. Das von mir im Wiktionary eingefügte taucht auf S. 62 auf: http://books.google.de/books?id=hJ8FAQAAIAAJ&q=%22shit+storms%22
Auf S. 543 scheint es sogar noch ein drittes Vorkommen zu geben, wie man in deinem Link sieht, aber das ist leider zumindest für mich nicht sichtbar …