In der Hochschulspielecke von Zeit online findet sich viel Belangloses — aber der aktuelle Test, mit dem man herausfinden können soll, ob man eine Germanistik-Einführungsvorlesung überstehen würde, zeugt darüber hinaus von sprachwissenschaftlicher Unkenntnis, die sich mit simplem Googeln hätte beseitigen lassen.
In drei Fragen geht es um linguistische Inhalte, zwei davon sind mit den gegebenen Optionen nicht beantwortbar. Bei der einen kann ich den Fehler noch einigermaßen zugestehen, woher soll man auch wissen, dass LiteraturwissenschaftlerInnen und SprachwissenschaftlerInnen ein und denselben Begriff in zwei verschiedenen Bedeutungen verwenden?
Unter einer Anapher verstehen Sprachwissenschaftler…
o ein Wort, das sich am Anfang mehrerer aufeinanderfolgender Sätze wiederholt.
o die Wiederholung desselben Konsonanten am Anfang mehrerer Wörter in einem Satz.
o die Wiederholung desselben Lautes in aufeinander folgenden Wörtern.
SprachwissenschaftlerInnen wie ich sie kenne, verstehen unter einer Anapher nichts von alldem, sondern einen Ausdruck, der auf dasselbe referiert wie ein zuvor schon verwendeter Ausdruck, so wie es im folgenden Beispiel:
Bei Zeit online gibt es ein Rätsel. Es ist nicht lösbar.
Näheres findet sich z.B. hier. Natürlich gibt es auch die Anapher aus der klassischen Rhetorik, so wie sie in der ersten Antwortmöglichkeit beschrieben wird — die ist aber eher für LiteraturwissenschaftlerInnen interessant.
Bei der anderen Frage habe ich allerdings überhaupt kein Verständnis:
Germanisten analysieren fast jeden Text – Hauptsache, er ist in deutscher Sprache verfasst. Für welche der folgenden Textformen interessieren sie sich nicht?
o Bedienungsanleitungen
o Minnesang
o SMS
Na? Minnesang, klar. SMS auch. Bedienungsanleitungen nicht?
So eine Frage macht allein schon deshalb skeptisch, weil es wirklich gar keinen Grund gibt, irgendeine Textsorte von der wissenschaftlichen Betrachtung auszuschließen. Für wen könnten Bedienungsanleitungen interessant sein? Jipp, für Leute in der Textlinguistik zum Beispiel, die Besonderheiten einzelner Textsorten untersuchen. Und hui, eine fixe GoogleScholar-Suche fördert zutage:
Ehlich, Konrad (1994): Verweisungen und Kohärenz in Bedienungsanleitungen. In: Konrad Ehlich, Claus Noack, Susanne Scheiter (Hgg.): Instruktion durch Text und Diskurs. Opladen, 116–149.
Das ganze Buch ist einschlägig, und als ehemaligen Vorsitzenden des deutschen Germanistikverbandes muss man Konrad Ehlich wohl auch als Germanisten gelten lassen.
Dann haben wir hier eine Dissertation von Sylvia Fischer, die unter anderem Experimente dazu gemacht hat, wann und warum Bedienungsanleitungen von zwei Funksteckdosensets und einer Kurbeltaschenlampe (hach!) falsch verstanden werden. Obwohl streng genommen nicht in der Germanistik entstanden, handelt es sich zweifelsfrei um eine germanistische Arbeit:
Fischer, Sylvia (2011): Verständlichkeit von Bedienungsanleitungen: dysfunktionale Rezeption von Instruktionen. Universität Mainz. Diss.
Und ebenfalls noch auf der ersten Seite, von ebenfalls einem eindeutigen Germanisten:
Satzger, Axel (2004): Die Bedienungsanleitung – ein Problem für Verfasser und Nutzer. In: Klaus-Dieter Baumann und Hartwig Kalverkämper: Pluralität in der Fachsprachenforschung. Tübingen, 385–422. (Weitere Publikationen des Autors.)
Das soll mal genügen. Kennt hier irgendjemand eine in deutscher Sprache existierende Textsorte, die nicht in der Germanistik untersucht wird? Mit Forschungslücken kann man zwar nicht reich werden, aber Ruhm, Ehre und die ewige Dankbarkeit der Zeit-online-Redaktion sind Euch sicher!
Ich kenne eine — die Einkaufsliste! (sofern sie kein Gedicht ist, was mir schon mal untergekommen ist beim Suchen nach völlig anderen Dingen)
@ Evanesca Feuerblut: Wenn die deutschsprachige Einkaufsliste bisher tatsächlich noch nicht germanistisch untersucht wurde, könnte das daran liegen, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist. Oder daran, dass man die Einkaufsliste nicht als Textsorte sieht.
@gnaddrig: Ich weiß noch, wie wir mal die Debatte hatten, was genau ein Text ist. Und irgendjemand mit der Meinung kam, dass Text nur das ist, was Sinn macht.
Da schrieb die Dozentin von uns zufällig genannte Sätze an die Tafel, ich weiß nicht mehr welche genau, darum erfinde ich mal was:
Ich trinke Mineralwasser.
Draußen scheint die Sonne.
Ich werde Eis kaufen.
Heute gibt es eine Studentenparty.
Die Dozentin meinte, das ergäbe keinen Sinn. Ich meldete mich und meinte: Na und ob.
Der Ich-Erzähler trinkt Mineralwasser, da die Sonne scheint und es heiß ist. Das kühlt ihn nicht genug ab, also kauft er Eis und freut sich schon auf die Party am Abend, wenn es kühler ist.
Womit eine Einkaufsliste schon eine Textsorte wäre — denn die Einkaufsliste macht ja einen Sinn. Und selbst wenn nicht, könnte man aus noch so willkürlichen Elementen einen herstellen, weil das menschliche Gehirn dazu neigt, auch da zu verknüpfen, wo es keine Verknüpfung gibt 🙂
Empfehle Wigald Boning: “Butter, Brot und Läusespray.” Der Autor ist zwar kein Sprachwissenschaftler, Titel und Inhalt zeigen aber, dass sich SprachwissenschaftlerInnen tatsächlich mit allen Textsorten beschäftigen können (müssen).
@ Evanesca Feuerblut: Was Sie da in den vier Sätzen aufgeschrieben haben, ist aber keine Einkaufsliste, sondern eine (arg lückenhafte) Geschichte. Die Einkaufsliste sähe so aus:
Eis
Wer einkaufen geht, schreibt ja in den seltensten Fällen die Geschichte dazu (“Zutaten 1, 2, 3 und 4 für den Kuchen, den wir wieder backen, weil Tante Hedwig den so gerne hat, dann Lebensmittel 5, 6, 7, 8 udn 9 für das Picknick, das wir anschließend im Schloßpark machen wollen, das ist immer so nett, weil die Kinder…” usw.), sondern listet nur auf, wieviel wovon einzukaufen ist, allenfalls ergänzt um Kommentare zur näheren Bestimmung, z.B. “2 Milch, keine Magermilch!” oder “2 Milchschokolade, unbedingt Marke x”.
Aber Sie haben recht, man könnte sicher aus einer ganz trockenen Einkaufsliste noch eine Geschichte konstruieren, wenn man will 🙂
@gnaddrig: Ich liebe diese Einkaufsliste. Mehr muss auf keiner stehen!
Liebe Kristin,
danke dafür, du sprichst mir aus der Seele, ich habe mich schon oft über die “Zeit” geärgert, auch dieses Mal war es so.
Zur Einkaufsliste: Es gibt verschiedene linguistische Ansätze, Textsorten zu differenzieren. Legt man eine pragmatische Ausrichtung zugrunde, wie es bspw. Adamzik, Janich und Brinker machen, lassen sich Textsorten vor allem nach textexternen Faktoren unterscheiden, nämlich nach Situation und Funktion. Textinterne Merkmale, wie Kohäsion, Kohärenz und Thema, sind zwar auch relevant, aber nicht textsortendifferenzierend.
Demnach ist ein Einkaufszettel sehr wohl linguistisch als Textsorte beschreibbar, ob der Mehrwert so groß ist, ist eine andere Sache. Situation: XY muss einkaufen; Funktion: Sich an das erinnern, was mal kaufen muss.
Am Rande: Herr Boning hat Einkauszettel gesammelt und veröffentlicht. Köstlich.
Ich habe übrigens gerade eine ganz hervorragende Seminararbeit zu Bedienungsanleitungen gelesen und bewertet 😉
Ein Prof (Sprawi) erzählte tatsächlich mal, Einkaufslisten zu untersuchen. Schon ihre Organisation nach unterschiedlichen Kriterien mache sie interessant… Konnte mit schnellem Googeln aber nichts finden, war wohl eher sein Privatinteresse.
Ich hätte ja gesagt, die Sprachweissenschaft beschäftigt sich nicht mit ZEIT-Online-Rätseln — aber da hat das Sprachlog ja hiermit den Gegenbeweis angetreten.
Da gibt’s auch eine (im original englische) Analyse einer Wäscheliste, aber der Autor (Woody Allen) geht wohl nicht als Germanist durch.
Ui, das ist ein Elfmeter für einen Troll:
— Qualitätsjournalisten googeln nicht.
Die einzige erlaubte Suchfunktion ist die der Wikipedia.
— Woher sollen Qualitätsjournalisten wissen, was Germanisten machen? Sie haben doch das Studium abgebrochen.
Die Tests sind sowieso immer lachhafte Versuche Klicks zu generieren. Die Fragestunde über das Mathematikstudium hatte erschreckend wenig mit Mathematik zu tun (ist halt auch schwierig, wenn man das nicht studiert hat…).
@gnaddrig: Es ist eben keine Geschichte. Es snd willkürlich in den Raum geworfene Sätze gewesen, die von verschiedenen Personen stammen und in keinster Weise in Bezug zueinander stehen.
Erst ich habe daraus, durch meine Interpretation, eine Geschichte gemacht.
Könnte man wirklich — ich schaue ja beispielsweise, wenn ich in der Schlange stehe, mir immer an, was die Leute einkaufen. Eine Frau vor mir hatte mal Tomantesaft, passierte Tomaten, Hefe und Limonade gekauft. Ich: “Ahaa! Die Frau will Pizza machen für eine Party, bei der Limo getrunken wird.”
Auf ihrer Einkaufsliste stand aber auch nur:
1 Tomatensaft
1 Packung passierte Tomaten
1 Würfel Hefe
1 Sprite light
Und die anderen Infos zu Einkaufslisten sind sehr lesenswert für mich, danke.
Eine andere Textsorte, die manch einer nicht als Text klassifizieren würde sind Rätsel aller Art. Bei Silben- und Kreuzworträtseln gibt es noch klare Anweisungen mit Antworten, fast wie beim Quiz, aber beim Wortsuchen aus einem Buchstabenraster wird’s schon kritisch.
@Crissov: Hm, was würde denn ein Buchstabenraster irgendwie als “Text” rechtfertigen?
Ich bin mir nicht sicher, aber es gibt immerhin welche, bei denen die nicht verwendeten Buchstaben einen Lösungssatz ergeben.
Einleitend zum Thema “Textlinguistik”, damals in meiner Einführung im ersten Semester, zeigte der Professor das Bild einer Einkaufsliste seiner Frau, und stellte zur Diskussion, ob das nun ein Text sei. Das war zwar im Rahmen der allgemeinen Sprachwissenschaft, aber mein Eindruck ist, dass in dieser Subdisziplin — oder beispielsweise auch der angrenzenden Gesprächsanalyse — Kryptogermanistik betrieben wird; wir waren uns schnell einig, dass das natürlich ein Text ist. Klopft man das ganz stur die klassischen Kriterien von Dressler/De Beaugrande ab, sieht’s nicht so schlecht aus, würde ich meinen.
Und spätestens wenn man einen kulturwissenschaftlichen Textbegriff ansetzt, ist eh alles Text 🙂