Der Lateinunterricht verkommt an deutschen Schulen zwar langsam aber sicher zu dem Anachronismus, der er im Herzen schon lange ist, aber er hat eine erstaunlich bissige Lobby. Kaum eine Woche, in der ich bei der Suche nach Sprachbrockbarem nicht auf einen Artikel stoße, der die die Vorzüge der Sprache Cäsars predigt. Ein gutes Argument habe ich dabei nie gesehen — bis Joseph Ratzinger seine Rückzugspläne ankündigte, und die fast unbemerkt geblieben wären. Denn, wie unter anderem die TAZ berichtete, gab Ratzinger seine bevorstehende Pensionierung in einer Rede bekannt, die er auf Latein hielt, und bescherte der einzigen Lateinkundigen unter den anwesenden Journalist/innen, der ANSA-Korrespondentin Giovanna Chirri, den Scoop ihres Lebens. Wenn das kein Grund für einen flächendeckenden Lateinunterricht ist, dann fällt mir auch keiner mehr ein.
Aus dem Lateinunterricht erinnern sich ja diejenigen von uns, die ihn durchleiden mussten, hauptsächlich an endlose Erklärungen zu den grammatischen Finessen, mit denen sich die alten Römer herumschlagen mussten, wenn sie über ihre Eroberungsfeldzüge berichten wollten. Aber, so berichtet HNA ONLINE, „Sprache, Satzbau, Wortarten und Grammatik” seien keineswegs nur zu kommunikativen Zwecken da. Vielmehr sei Sprache ein „Witzbaukasten“. Diese Erkenntnis beruht auf dem Programm eines Kabarettistenehepaars, das solche Schenkelklopfer zu enthalten scheint wie die Beobachtung, dass man durch eine Veränderung der Satzstellung aus „Er geht mit der Tasche in der Hand“ den Satz „Er geht mit der Hand in der Tasche“ machen könne. [Anm. an die Sprachlog-Redaktion: Hier bitte eine kurze Pause einfügen, um den Leser/innen Gelegenheit zu geben, sich von ihrem Lachanfall zu erholen.] Gut, über Humor lässt sich schlecht streiten, denn wer keinen hat, wird das ja in den seltensten Fällen einsehen. Aber dass Sprache im Prinzip ein Witzbaukasten ist, dürfte stimmen (Twitter hätte keine Existenzberechtigung, wenn es anders wäre).
Twitter ist aber nicht nur als Wortspielplatz unschlagbar, es mausert sich langsam zur tiefenpsychologischen Wunderwaffe. Nicht nur lassen sich durch die Analyse von Tweets Psychopathen aufspüren (weil die nämlich häufig von Hass, Essen und Sex tweeten) — nein, wie die TAZ berichtet, haben amerikanische Wissenschaftler herausgefunden, dass Twitterer und Twitterinnen sich durch ihre Sprache als genau das zu erkennen geben: als -er und -innen. Während Frauen mehr Pronomen, mehr Emotionswörter (hoffentich nicht Hass) und mehr Abkürzungen à la LOL und OMG verwenden, twittern Männer bevorzugt „Zahlen, technische Ausdrücke und Schimpfwörter.“ Wir Männer, Zahlen, technische Ausdrücke und Schimpfwörter? Entschuldigung, aber diesen Mist glaube ich den Schwachköpfen erst, wenn das Signifikanzniveau unter 5 Prozent und die Effektstärke über 0,7 liegt.
An der Effektstärke von Peer Steinbrück bestehen ja schon länger berechtigte Zweifel. ZEIT ONLINE fragt sich, inwieweit die (von ihm selbst vermutlich als markig empfundene, von außen eher kamikaziös wirkende) Sprache des Kandidaten dabei eine Rolle spielt. Ist es sinnvoll, Politiker verbündeter Länder als Clowns zu bezeichnen? Sollte man ihnen drohen, Störtebecker vorbei zu schicken, um für Ordnung zu sorgen? Ja und Nein, finden die Autoren (wie es, da die Frage in der Reihe „Pro und Contra“ gestellt wird, ja auch ihre Aufgabe ist). Ja, weil Berlusconi, naja, halt tatsächlich ein Clown sei, und nein, weil es erfahrungsgemäß einfach nicht gut ankomme, so etwas auch laut auszusprechen.
Laut aussprechen will auch niemand mehr das Bairische so recht, meldet OVB ONLINE. Wenigstens empfindet das der Verein Bairische Sprache und Mundarten Chiemgau-Inn so, und hat deshalb einen Plan ausgeheckt, der den Gebrauch des Bairischen in der Politik, den Medien und den Schulen des Freistaats erzwingen soll: Man will das Bairische als Minderheitensprache schützen lassen, so wie derzeit schon das Niederdeutsche („Plattdeutsch“), das Sorbische und das Friesische. Nur so sieht der Verein die Chance, norddeutsches Lehngut wie „Murmel, pusten, Junge oder Klempner“ aus den Schulbüchern zu eliminieren.
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht spräche tatsächlich nichts dagegen, Bairisch auf die Liste der geschützten Regional- und Minderheitensprachen zu setzen, aber wohin zuviel sprachlicher Regionalstolz führen kann, zeigt sich an Jarich Hoekstra, Professor für Frisistik und friesischer Sprachfundamentalist. Weil in Ostfriesland kein Friesisch, sondern Plattdeutsch gesprochen werde, so zitiert die WAZ den „friesischen Sprachpapst der Republik“, seien die dort lebenden Ostfriesen eigentlich gar keine Friesen. Die Essenz des Friesischen will Hoekstra dabei auch gleich dem Ostfriesentee absprechen, und natürlich gibt es keine Sonderbehandlung für den berühmtesten Ostfriesen des Landes: „Otto hat mit dem Friesischen nichts zu tun“. Der beliebte Komiker fühle sich aber trotzdem als echter Friese, ließ dessen Management verlauten. Ob der Konflikt zwischen Hoekstra und Waalkes zu einem Schisma innerhalb der friesischen Gemeinde führen wird, war bei Redaktionsschluss nicht bekannt, aber gerüchteweise halten friesischkundige Jounalist/innen seit einigen Tagen vorsichtshalber Wache vor Hoekstras Haus. Man will ja die Rücktrittsankündigung des Sprachpapstes nicht verpassen.
Ich würde schon behaupten, dass mir das Lernen bestimmter Fachausdrücke leichter fällt, weil ich ein wenig Latein gelernt habe. Zumindest im Nachhinein…
Mich erstaunt immer wieder, wie emotional über Sinn und Unsinn von Lateinunterricht diskutiert wird. Die Quälquote in dem Fach ist nicht höher als in allen anderen Fächern auch. Es wird niemand gezwungen, Latein zu lernen, im Gegensatz zu sagen wir mal Chemie. Der Nutzen beider Fächer (um beim Beispiel zu bleiben) tendiert abhängig von der Berufswahl gegen Null. Lateinunterricht ist sicherlich anachronistisch — aber ich hoffe, daß in dieser Beurteilung nicht die Forderung mitschwingt, Lateinunterricht abzuschaffen. Schule an sich ist schon genug Gleichmacherei. Ich fände es bedauerlich, wenn solche Möglichkeiten, individuellen Neigungen nachzugehen, jetzt auch noch wegfielen.
Abgesehen vom Spaß, den ich beim Übersetzen hatte, hat Latein mir immer geholfen — als Grundlage beim Lernen anderer Sprachen, beim Verständnis deutscher Grammatik. Und letzten Endes auch bei der Berufswahl. Ich bin Archäologin geworden.
@anni:
Der Nutzen aller Schulfächer spätestens ab der Mittelstufe ist in den meisten Berufen verschwindend gering. Deshalb halte ich “Nutzen im Beruf” für kein besonders sinnvolles Kriterium.
Allerdings soll die Schule ja nicht nur auf den Beruf (den die meisten Schüler zu der Zeit sowieso noch nicht kennen) vorbereiten, sondern auch auf das Leben als mündiger Bürger. Und da halte ich ein gewisses Grundwissen gerade in Chemie für unverzichtbar, Latein hingegen schon.
Zu meiner Zeit wurde durchaus manch einer zu Latein gezwungen, oder kennst ihr viele, die Latein freiwillig gewählt haben?
Ich frage mich auch, warum ich mich durch 12 Jahre Mathe hab quälen müssen. Zu meinem Glück konnte ich das Fach nach der 12. abwählen. Für mein Berufsleben hätte mir nicht geschadet, Mathe nach der 8. Klasse abzusetzen. 🙂
Dennoch: Ich stimme anni zu, dass die Möglichkeit erhalten bleiben sollte, individuellen Neigungen nachzugehen. Es sollte sich eben jeder frei entfalten können und dazu muss man feststellen, was einem liegt und wichtiger: was nicht. Dazu sollten so viele Fächer wie möglich angeboten werden. Latein tut aber auch als Wahlfach, oder?
Wie wäre es mit Altgriechisch? Immerhin haben die großen klassichen Philosophen darin geschrieben, einige der wichtigsten Theaterstücke und Epen sind Altgriechisch. Dagegen können die Römer nur mit Militärpropaganda und schwachen Plagiaten* aufwarten.
Bedenke ich, wie groß der Einfluss abrahamischer Religionen in unserer Welt ist, und worauf sich der Einfluss stützt — nämlich Übersetzungen von Übersetzungen von Interpretationen von Übersetzungen der Gründungsschriften -, scheint es mir sinnvoller zu sein, den Schülern Aramäisch, Hebräisch und Arabisch beizubringen. Zwei dieser Sprachen sind sogar noch im Gebrauch, sind sogar offizielle Landessprachen.
*Yip, ‘Plagiate’ sind polemisch überhöht.
@Tom
In dem Punkt, daß Schulwissen wenig berufsrelevant ist, stimme ich Dir zu. Allerdings halte ich tatsächlich Chemie nicht für wichtiger als Latein. Aber auch nicht für unwichtiger.
Natürlich reicht eine Wahlmöglichkeit für Latein. Ich hoffe, ich bin nicht mißverstanden worden: ich will wirklich niemandem Latein aufzwingen, aber ich empfände es durchaus als Verlust, wenn zukünftige Schüler_innengenerationen nicht mehr die Möglichkeit hätten, Latein schon in der Schule zu lernen (denn die Uni-Kurse sind schauderhaft schlecht). Selbstverständlich MUSS niemand Latein lernen. Aber im Sinne größtmöglicher Vieltfalt…
@Dierk: Unbedingt! Arabisch halte ich als Schulfach wirklich für sinnvoll, nicht nur in Hinblick auf eine etwaige spätere Karriere in einer Altertumswissenschaft. Wird immer wichtiger und ist schön zu lernen. Gibt es eigentlich “normale” Schulen, an denen Arabisch neben Englisch und Französisch etc. unterrichtet wird? (Und Aramäisch und Hebräisch sind danach auch nur noch kleinere Add-ons.)
Vielleicht wird das langsam ein bissle viel für die armen Schüler. Man muss schon ein wenig abwägen, was auch von Nutzen ist und die Schüler nicht mit unendlichen Schulfächern zu überfordern.
Nun, im täglichen Leben merke ichm, wie wichtig Mathe, Physik und Chemie sind. Wer das nicht merkt, realisiert nicht, dass die Naturwissenschaften unser leben bestimmen und glaubt nur und weiß nichts.
Tragische Figuren, die nur glauben und Mathe und Chemie ablehnen, solche Menschen wissen leider nichts und sind auch noch stolz drauf, Wissen zu negieren.……
Ich würde aus Lateinunterricht pro&contra keine Ideologie machen. Wer will soll eine zweite Fremdsprache seiner Wahl lernen und dass kann dann eben auch Latein sein. Albert Einstein hat es ja auch nicht geschadet und ob es ihm nun geholfen hat, darüber kann streiten wer will…
Es wird seitens (ehemaliger) LateinschülerInnen immer wieder betont, dass sie erst im Lateinunterricht die deutsche Grammatik verstanden hätten. Interessanterweise merken sie aber nie, dass das kein Argument für Latein in der Schule ist: Wenn der Deutschunterricht es nicht schafft, den SchülerInnen Erkenntnisse über die Grammatik der deutschen Sprache zu vermitteln, kann ja wohl kaum gefordert werden, dass der Lateinunterricht einspringen soll.
Liebe anni, wie kannst Du denn behaupten, Lateinunterricht an der Uni sei “schauderhaft schlecht”? Das liegt doch immer an der jeweiligen Dozentin und dem zeitlichen und organisatorischen Rahmen. Ich habe fantastischen Lateinunterricht an der Uni gehabt, ebenso wie Griechisch. Das ist also kein Argument.
Idealerweise würden Schulen natürlich auch Arabisch usw. anbieten. Praktischerweise ist das nicht ganz so einfach, weil mit der Einrichtung jedes Sprachkurses hohe Kosten verbunden sind, die über mehrere Jahre bezahlt werden müssen, damit SchülerInnen auch die benötigte Zeit abdecken können. Eine Frage ist dabei m.E. nach, welches Kompetenzniveau man realistischerweise in dem vorgegebenen zeitlichen Rahmen, erreichen kann sowohl eventuell die Zahl der Mutter- und ZweitsprachlerInnen, mit denen man damit kommunizieren kann. Da wäre z.B. Spanisch ein gewisser Vorzug vor Arabisch zu geben, weil Menschen mit Deutsch als Mutter- oder Zweitsprache dieses relativ erfolgreich auch in 3 bis 4 Jahren Schulunterricht erlernen können. Dies ist ein ganz praktischer Gesichtspunkt, der SchülerInnen immerhin einigermaßen motivieren kann (die meisten lernen ja nicht aus purer Begeisterung). Theoretisch wäre es natürlich schön, wenn jede ihrem Striemel folgen könnte…