Sprachbrocken 6–10/2013

Von Anatol Stefanowitsch

Der Latei­n­un­ter­richt verkommt an deutschen Schulen zwar langsam aber sich­er zu dem Anachro­nis­mus, der er im Herzen schon lange ist, aber er hat eine erstaunlich bis­sige Lob­by. Kaum eine Woche, in der ich bei der Suche nach Sprach­brock­barem nicht auf einen Artikel stoße, der die die Vorzüge der Sprache Cäsars predigt. Ein gutes Argu­ment habe ich dabei nie gese­hen — bis Joseph Ratzinger seine Rück­zugspläne ankündigte, und die fast unbe­merkt geblieben wären. Denn, wie unter anderem die TAZ berichtete, gab Ratzinger seine bevorste­hende Pen­sion­ierung in ein­er Rede bekan­nt, die er auf Latein hielt, und bescherte der einzi­gen Lateinkundi­gen unter den anwe­senden Journalist/innen, der ANSA-Kor­re­spon­dentin Gio­van­na Chirri, den Scoop ihres Lebens. Wenn das kein Grund für einen flächen­deck­enden Latei­n­un­ter­richt ist, dann fällt mir auch kein­er mehr ein.

Aus dem Latei­n­un­ter­richt erin­nern sich ja diejeni­gen von uns, die ihn durch­lei­den mussten, haupt­säch­lich an end­lose Erk­lärun­gen zu den gram­ma­tis­chen Finessen, mit denen sich die alten Römer herum­schla­gen mussten, wenn sie über ihre Eroberungs­feldzüge bericht­en woll­ten. Aber, so berichtet HNA ONLINE, „Sprache, Satzbau, Wor­tarten und Gram­matik” seien keineswegs nur zu kom­mu­nika­tiv­en Zweck­en da. Vielmehr sei Sprache ein „Witzbaukas­ten“. Diese Erken­nt­nis beruht auf dem Pro­gramm eines Kabaret­tis­tene­hep­aars, das solche Schenkelk­lopfer zu enthal­ten scheint wie die Beobach­tung, dass man durch eine Verän­derung der Satzstel­lung aus „Er geht mit der Tasche in der Hand“ den Satz „Er geht mit der Hand in der Tasche“ machen könne. [Anm. an die Sprachlog-Redak­tion: Hier bitte eine kurze Pause ein­fü­gen, um den Leser/innen Gele­gen­heit zu geben, sich von ihrem Lachan­fall zu erholen.] Gut, über Humor lässt sich schlecht stre­it­en, denn wer keinen hat, wird das ja in den sel­tensten Fällen ein­se­hen. Aber dass Sprache im Prinzip ein Witzbaukas­ten ist, dürfte stim­men (Twit­ter hätte keine Exis­tenzberech­ti­gung, wenn es anders wäre).

Twit­ter ist aber nicht nur als Wort­spielplatz unschlag­bar, es mausert sich langsam zur tiefenpsy­chol­o­gis­chen Wun­der­waffe. Nicht nur lassen sich durch die Analyse von Tweets Psy­chopa­then auf­spüren (weil die näm­lich häu­fig von Hass, Essen und Sex tweet­en) — nein, wie die TAZ berichtet, haben amerikanis­che Wis­senschaftler her­aus­ge­fun­den, dass Twit­ter­er und Twit­terin­nen sich durch ihre Sprache als genau das zu erken­nen geben: als -er und -innen. Während Frauen mehr Pronomen, mehr Emo­tion­swörter (hof­fen­tich nicht Hass) und mehr Abkürzun­gen à la LOL und OMG ver­wen­den, twit­tern Män­ner bevorzugt „Zahlen, tech­nis­che Aus­drücke und Schimpfwörter.“ Wir Män­ner, Zahlen, tech­nis­che Aus­drücke und Schimpfwörter? Entschuldigung, aber diesen Mist glaube ich den Schwachköpfen erst, wenn das Sig­nifikanzniveau unter 5 Prozent und die Effek­t­stärke über 0,7 liegt.

An der Effek­t­stärke von Peer Stein­brück beste­hen ja schon länger berechtigte Zweifel. ZEIT ONLINE fragt sich, inwieweit die (von ihm selb­st ver­mut­lich als markig emp­fun­dene, von außen eher kamikaz­iös wirk­ende) Sprache des Kan­di­dat­en dabei eine Rolle spielt. Ist es sin­nvoll, Poli­tik­er ver­bün­de­ter Län­der als Clowns zu beze­ich­nen? Sollte man ihnen dro­hen, Stör­te­beck­er vor­bei zu schick­en, um für Ord­nung zu sor­gen? Ja und Nein, find­en die Autoren (wie es, da die Frage in der Rei­he „Pro und Con­tra“ gestellt wird, ja auch ihre Auf­gabe ist). Ja, weil Berlus­coni, naja, halt tat­säch­lich ein Clown sei, und nein, weil es erfahrungs­gemäß ein­fach nicht gut ankomme, so etwas auch laut auszusprechen.

Laut aussprechen will auch nie­mand mehr das Bairische so recht, meldet OVB ONLINE. Wenig­stens empfind­et das der Vere­in Bairische Sprache und Mundarten Chiem­gau-Inn so, und hat deshalb einen Plan aus­ge­heckt, der den Gebrauch des Bairischen in der Poli­tik, den Medi­en und den Schulen des Freis­taats erzwin­gen soll: Man will das Bairische als Min­der­heit­en­sprache schützen lassen, so wie derzeit schon das Niederdeutsche („Plattdeutsch“), das Sor­bis­che und das Friesis­che. Nur so sieht der Vere­in die Chance, nord­deutsches Lehngut wie „Murmel, pusten, Junge oder Klemp­n­er“ aus den Schul­büch­ern zu eliminieren.

Aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht spräche tat­säch­lich nichts dage­gen, Bairisch auf die Liste der geschützten Region­al- und Min­der­heit­en­sprachen zu set­zen, aber wohin zuviel sprach­lich­er Region­al­stolz führen kann, zeigt sich an Jarich Hoek­stra, Pro­fes­sor für Fri­sis­tik und friesis­ch­er Sprach­fun­da­men­tal­ist. Weil in Ost­fries­land kein Friesisch, son­dern Plattdeutsch gesprochen werde, so zitiert die WAZ den „friesis­chen Sprach­papst der Repub­lik“, seien die dort leben­den Ost­friesen eigentlich gar keine Friesen. Die Essenz des Friesis­chen will Hoek­stra dabei auch gle­ich dem Ost­friesen­tee absprechen, und natür­lich gibt es keine Son­der­be­hand­lung für den berühmtesten Ost­friesen des Lan­des: „Otto hat mit dem Friesis­chen nichts zu tun“. Der beliebte Komik­er füh­le sich aber trotz­dem als echter Friese, ließ dessen Man­age­ment ver­laut­en. Ob der Kon­flikt zwis­chen Hoek­stra und Waalkes zu einem Schis­ma inner­halb der friesis­chen Gemeinde führen wird, war bei Redak­tion­ss­chluss nicht bekan­nt, aber gerüchteweise hal­ten friesis­chkundi­ge Jounalist/innen seit eini­gen Tagen vor­sicht­shal­ber Wache vor Hoek­stras Haus. Man will ja die Rück­trittsankündi­gung des Sprach­pap­stes nicht verpassen.

11 Gedanken zu „Sprachbrocken 6–10/2013

  1. Lupino

    Ich würde schon behaupten, dass mir das Ler­nen bes­timmter Fachaus­drücke leichter fällt, weil ich ein wenig Latein gel­ernt habe. Zumin­d­est im Nachhinein…

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  2. anni

    Mich erstaunt immer wieder, wie emo­tion­al über Sinn und Unsinn von Latei­n­un­ter­richt disku­tiert wird. Die Quälquote in dem Fach ist nicht höher als in allen anderen Fäch­ern auch. Es wird nie­mand gezwun­gen, Latein zu ler­nen, im Gegen­satz zu sagen wir mal Chemie. Der Nutzen bei­der Fäch­er (um beim Beispiel zu bleiben) tendiert abhängig von der Beruf­swahl gegen Null. Latei­n­un­ter­richt ist sicher­lich anachro­nis­tisch — aber ich hoffe, daß in dieser Beurteilung nicht die Forderung mitschwingt, Latei­n­un­ter­richt abzuschaf­fen. Schule an sich ist schon genug Gle­ich­macherei. Ich fände es bedauer­lich, wenn solche Möglichkeit­en, indi­vidu­ellen Nei­gun­gen nachzuge­hen, jet­zt auch noch wegfielen.
    Abge­se­hen vom Spaß, den ich beim Über­set­zen hat­te, hat Latein mir immer geholfen — als Grund­lage beim Ler­nen ander­er Sprachen, beim Ver­ständ­nis deutsch­er Gram­matik. Und let­zten Endes auch bei der Beruf­swahl. Ich bin Archäolo­gin geworden.

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  3. tom

    @anni:
    Der Nutzen aller Schulfäch­er spätestens ab der Mit­tel­stufe ist in den meis­ten Berufen ver­schwindend ger­ing. Deshalb halte ich “Nutzen im Beruf” für kein beson­ders sin­nvolles Kriterium.
    Allerd­ings soll die Schule ja nicht nur auf den Beruf (den die meis­ten Schüler zu der Zeit sowieso noch nicht ken­nen) vor­bere­it­en, son­dern auch auf das Leben als mündi­ger Bürg­er. Und da halte ich ein gewiss­es Grund­wis­sen ger­ade in Chemie für unverzicht­bar, Latein hinge­gen schon.

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  4. Ky

    Zu mein­er Zeit wurde dur­chaus manch ein­er zu Latein gezwun­gen, oder kennst ihr viele, die Latein frei­willig gewählt haben?
    Ich frage mich auch, warum ich mich durch 12 Jahre Mathe hab quälen müssen. Zu meinem Glück kon­nte ich das Fach nach der 12. abwählen. Für mein Beruf­sleben hätte mir nicht geschadet, Mathe nach der 8. Klasse abzusetzen. 🙂
    Den­noch: Ich stimme anni zu, dass die Möglichkeit erhal­ten bleiben sollte, indi­vidu­ellen Nei­gun­gen nachzuge­hen. Es sollte sich eben jed­er frei ent­fal­ten kön­nen und dazu muss man fest­stellen, was einem liegt und wichtiger: was nicht. Dazu soll­ten so viele Fäch­er wie möglich ange­boten wer­den. Latein tut aber auch als Wahlfach, oder?

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  5. Dierk

    Wie wäre es mit Alt­griechisch? Immer­hin haben die großen klas­sichen Philosophen darin geschrieben, einige der wichtig­sten The­ater­stücke und Epen sind Alt­griechisch. Dage­gen kön­nen die Römer nur mit Mil­itär­pro­pa­gan­da und schwachen Pla­giat­en* aufwarten.

    Bedenke ich, wie groß der Ein­fluss abra­hamis­ch­er Reli­gio­nen in unser­er Welt ist, und worauf sich der Ein­fluss stützt — näm­lich Über­set­zun­gen von Über­set­zun­gen von Inter­pre­ta­tio­nen von Über­set­zun­gen der Grün­dungss­chriften -, scheint es mir sin­nvoller zu sein, den Schülern Aramäisch, Hebräisch und Ara­bisch beizubrin­gen. Zwei dieser Sprachen sind sog­ar noch im Gebrauch, sind sog­ar offizielle Landessprachen.

    *Yip, ‘Pla­giate’ sind polemisch überhöht.

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  6. anni

    @Tom
    In dem Punkt, daß Schul­wis­sen wenig beruf­s­rel­e­vant ist, stimme ich Dir zu. Allerd­ings halte ich tat­säch­lich Chemie nicht für wichtiger als Latein. Aber auch nicht für unwichtiger.
    Natür­lich reicht eine Wahlmöglichkeit für Latein. Ich hoffe, ich bin nicht mißver­standen wor­den: ich will wirk­lich nie­man­dem Latein aufzwin­gen, aber ich empfände es dur­chaus als Ver­lust, wenn zukün­ftige Schüler_innengenerationen nicht mehr die Möglichkeit hät­ten, Latein schon in der Schule zu ler­nen (denn die Uni-Kurse sind schauder­haft schlecht). Selb­stver­ständlich MUSS nie­mand Latein ler­nen. Aber im Sinne größt­möglich­er Vieltfalt…

    @Dierk: Unbe­d­ingt! Ara­bisch halte ich als Schul­fach wirk­lich für sin­nvoll, nicht nur in Hin­blick auf eine etwaige spätere Kar­riere in ein­er Alter­tum­swis­senschaft. Wird immer wichtiger und ist schön zu ler­nen. Gibt es eigentlich “nor­male” Schulen, an denen Ara­bisch neben Englisch und Franzö­sisch etc. unter­richtet wird? (Und Aramäisch und Hebräisch sind danach auch nur noch kleinere Add-ons.)

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    1. Ky

      Vielle­icht wird das langsam ein bissle viel für die armen Schüler. Man muss schon ein wenig abwä­gen, was auch von Nutzen ist und die Schüler nicht mit unendlichen Schulfäch­ern zu überfordern.

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  7. Statistisker

    Nun, im täglichen Leben merke ichm, wie wichtig Mathe, Physik und Chemie sind. Wer das nicht merkt, real­isiert nicht, dass die Natur­wis­senschaften unser leben bes­tim­men und glaubt nur und weiß nichts. 

    Tragis­che Fig­uren, die nur glauben und Mathe und Chemie ablehnen, solche Men­schen wis­sen lei­der nichts und sind auch noch stolz drauf, Wis­sen zu negieren.……

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  8. Max

    Ich würde aus Latei­n­un­ter­richt pro&contra keine Ide­olo­gie machen. Wer will soll eine zweite Fremd­sprache sein­er Wahl ler­nen und dass kann dann eben auch Latein sein. Albert Ein­stein hat es ja auch nicht geschadet und ob es ihm nun geholfen hat, darüber kann stre­it­en wer will…

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  9. Rosi

    Es wird seit­ens (ehe­ma­liger) Latein­schü­lerIn­nen immer wieder betont, dass sie erst im Latei­n­un­ter­richt die deutsche Gram­matik ver­standen hät­ten. Inter­es­san­ter­weise merken sie aber nie, dass das kein Argu­ment für Latein in der Schule ist: Wenn der Deutschunter­richt es nicht schafft, den Schü­lerIn­nen Erken­nt­nisse über die Gram­matik der deutschen Sprache zu ver­mit­teln, kann ja wohl kaum gefordert wer­den, dass der Latei­n­un­ter­richt ein­sprin­gen soll.

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  10. Katie

    Liebe anni, wie kannst Du denn behaupten, Latei­n­un­ter­richt an der Uni sei “schauder­haft schlecht”? Das liegt doch immer an der jew­eili­gen Dozentin und dem zeitlichen und organ­isatorischen Rah­men. Ich habe fan­tastis­chen Latei­n­un­ter­richt an der Uni gehabt, eben­so wie Griechisch. Das ist also kein Argument.
    Ide­al­er­weise wür­den Schulen natür­lich auch Ara­bisch usw. anbi­eten. Prak­tis­cher­weise ist das nicht ganz so ein­fach, weil mit der Ein­rich­tung jedes Sprachkurs­es hohe Kosten ver­bun­den sind, die über mehrere Jahre bezahlt wer­den müssen, damit Schü­lerIn­nen auch die benötigte Zeit abdeck­en kön­nen. Eine Frage ist dabei m.E. nach, welch­es Kom­pe­ten­zniveau man real­is­tis­cher­weise in dem vorgegebe­nen zeitlichen Rah­men, erre­ichen kann sowohl eventuell die Zahl der Mut­ter- und Zweit­sprach­lerIn­nen, mit denen man damit kom­mu­nizieren kann. Da wäre z.B. Spanisch ein gewiss­er Vorzug vor Ara­bisch zu geben, weil Men­schen mit Deutsch als Mut­ter- oder Zweit­sprache dieses rel­a­tiv erfol­gre­ich auch in 3 bis 4 Jahren Schu­lun­ter­richt erler­nen kön­nen. Dies ist ein ganz prak­tis­ch­er Gesicht­spunkt, der Schü­lerIn­nen immer­hin einiger­maßen motivieren kann (die meis­ten ler­nen ja nicht aus pur­er Begeis­terung). The­o­retisch wäre es natür­lich schön, wenn jede ihrem Striemel fol­gen könnte…

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