Dass die traditionellen Medien insgesamt mit dem Thema Alltagssexismus hoffnungslos überfordert sind, haben sie ja zur Genüge bewiesen, aber der HESSISCHE RUNDFUNK hat sich offenbar vorgenommen, in merkbefreite Zonen vorzudringen, die nie ein Mensch zuvor betreten hat. Claudia Sautter erklärt uns dort, dass das Ganze quasi nur ein sprachliches Problem sei: Früher (ach, früher!) da habe es „eine Sprache der Erotik [gegeben] die alle verstanden.“ Aber irgendwie ist uns diese „öffentlich anerkannte Sprache der Erotik“ verloren gegangen. „Männer und Frauen in Deutschland“ wüssten schlicht nicht mehr, „wie man sich geistreich Anzüglichkeiten“ sage, ohne gleich die „mediale Sittenpolizei“ auf dem Hals zu haben. Allgemeine Ratlosigkeit herrscht diesbezüglich auch bei der Bildredaktion des HR: „Wie sollte ‘Mann’ das Dekolleté einer Frau würdigen?“ fragt die Bildunterschrift des Fotos eines (kopflosen) Dekolletés, mit dem der Beitrag vorhersagbar, ja unvermeidlich illustriert wird.
Und während wir darauf warten, dass irgendjemand (eine Praktikantin mit Twitteraccount, vielleicht?) der HR-Redaktion erklärt, dass „Mann“ das Dekolleté von Frauen, die ihn nicht ausdrücklich um seine Meinung gefragt haben, nur in Gedanken würdigt (und auch da nur, wenn es gar nicht anders geht), führt die WELT — wie Sautter eine stramme Gegnerin der „medialen Sittenpolizei“ — ihren Kampf gegen das Umschreiben von Kinderbüchern fort und zitiert Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger mit einer tiefsinnigen Einsicht: „Rassismus ist eine Gesinnung, die schafft man nicht ab, wenn man Worte abschafft“. Stattdessen, so Nöstlingers radikaler und für mich als medialer Sittenpolizist völlig überraschende Vorschlag: problematische Wörter einfach „mit einem Sternchen versehen und am Fuß der Seite erklären …, dass es vor 50 Jahren ein normaler Ausdruck war“. Das leuchtet ein, denn mit Fußnoten schafft man Rassismus garantiert ab. ((„Wo Fußnoten steh’n, dahin häng dein Laternchen, böse Menschen kennen keine Sternchen“, sagt ein altes Sprichwort.))
Eine solche Fußnote ist wohl auch der Beitrag, in dem die WELT uns erklärt, dass es zwar unschön, aber irgendwie doch nachvollziehbar sei, wenn der ägyptische Präsident „Zionisten“ als „Nachkommen von Affen und Schweinen“ bezeichne. Denn erstens beziehe er sich damit auf eine Koransure, die nicht nur Juden, sondern auch Christen so bezeichne, zweitens sei Antisemitismus in der arabischen Welt eben ganz alltäglich, und drittens komme man mit solchen Sprüchen bei den potenziellen Wählern dort halt einfach sehr gut an. Nur konsequent, dass eine Zeitung, die Menschen anderer Hautfarbe in Kinderbüchern unbedingt mit rassistischen Beleidigungen bezeichnet sehen will, auch die Verwendung tierischer Metaphern im interreligiösen Dialog differenziert betrachtet. Ich nehme an, es handelt sich dabei ohnehin nur um eine früher (ach, früher!) öffentlich anerkannte Sprache der Exotik, und dass wir in Deutschland nur verlernt haben, wie man sich geistreich religiösen Respekt zollt.
Von welcher Fussnote wurden eigentlich altmodische Begriffe wie “Anstand”, “Höflichkeit” oder “Respekt” totgeschlagen?
Komm, Frau! Bugabuga.*
* Früher (ach, früher!) öffentlich anerkannte Sprache der Erotik.
Das war jene, die den Kleinbürgerlichen erlaubte, die bürgerlichen Werte in die Tonne zu treten, weil die überholt seien und überhaupt am Vorankommen auf dem Egotrip stören würden.
Wird seitdem von eben diesen kleinbürgerlichen Anarcholiberalen gerne “den 68ern” in die Schuhe geschoben, dabei conveniently vergessend, dass die auf Sekundärtugenden verzichten wollten zugunsten der Primärtugend Respekt. So ging letztere unter einem gewollten Missverständnis verschütt.
Finde ich mehr als traurig… Ich habe inzwischen sehr viel darüber gelesen, einfach weil man dem Thema kaum noch entkommen kann.
Dass ausgerechnet von der von mir eigentlich geschätzten Autorin Nöstlinger so ein unqualifizierter Satz kommt, hätte ich nicht erwartet.
* dies war früher nicht beleidigend — weckt doch gerade das Bewusstsein dafür, dass es das jetzt ist und würde eine Verwendung seitens Jugendlicher forcieren, die sich cool fühlen wollen.
Ich versuche grade, lauter Sternchen an diese Fußnote zu hängen. Super! (und Girlanden, Lametta, Kugeln…)
Und noch mehr aus der ‘Welt’:
http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article113318609/Hoert-auf-mit-dem-Krampf.html