Sprachbrocken 5/2013

Von Anatol Stefanowitsch

Dass die tra­di­tionellen Medi­en ins­ge­samt mit dem The­ma All­t­ags­sex­is­mus hoff­nungs­los über­fordert sind, haben sie ja zur Genüge bewiesen, aber der HESSISCHE RUNDFUNK hat sich offen­bar vorgenom­men, in merk­be­fre­ite Zonen vorzu­drin­gen, die nie ein Men­sch zuvor betreten hat. Clau­dia Saut­ter erk­lärt uns dort, dass das Ganze qua­si nur ein sprach­lich­es Prob­lem sei: Früher (ach, früher!) da habe es „eine Sprache der Erotik [gegeben] die alle ver­standen.“ Aber irgend­wie ist uns diese „öffentlich anerkan­nte Sprache der Erotik“ ver­loren gegan­gen. „Män­ner und Frauen in Deutsch­land“ wüssten schlicht nicht mehr, „wie man sich geistre­ich Anzüglichkeit­en“ sage, ohne gle­ich die „medi­ale Sit­ten­polizei“ auf dem Hals zu haben. All­ge­meine Rat­losigkeit herrscht dies­bezüglich auch bei der Bil­dredak­tion des HR: „Wie sollte ‘Mann’ das Dekol­leté ein­er Frau würdi­gen?“ fragt die Bil­dun­ter­schrift des Fotos eines (kopflosen) Dekol­letés, mit dem der Beitrag vorher­sag­bar, ja unver­mei­dlich illus­tri­ert wird.

Und während wir darauf warten, dass irgend­je­mand (eine Prak­tikan­tin mit Twit­ter­ac­count, vielle­icht?) der HR-Redak­tion erk­lärt, dass „Mann“ das Dekol­leté von Frauen, die ihn nicht aus­drück­lich um seine Mei­n­ung gefragt haben, nur in Gedanken würdigt (und auch da nur, wenn es gar nicht anders geht), führt die WELT — wie Saut­ter eine stramme Geg­ner­in der „medi­alen Sit­ten­polizei“ — ihren Kampf gegen das Umschreiben von Kinder­büch­ern fort und zitiert Kinder­buchau­torin Chris­tine Nöstlinger mit ein­er tief­sin­ni­gen Ein­sicht: „Ras­sis­mus ist eine Gesin­nung, die schafft man nicht ab, wenn man Worte abschafft“. Stattdessen, so Nöstlingers radikaler und für mich als medi­aler Sit­ten­polizist völ­lig über­raschende Vorschlag: prob­lema­tis­che Wörter ein­fach „mit einem Sternchen verse­hen und am Fuß der Seite erk­lären …, dass es vor 50 Jahren ein nor­maler Aus­druck war“. Das leuchtet ein, denn mit Fußnoten schafft man Ras­sis­mus garantiert ab. ((„Wo Fußnoten steh’n, dahin häng dein Lat­er­nchen, böse Men­schen ken­nen keine Sternchen“, sagt ein altes Sprichwort.))

Eine solche Fußnote ist wohl auch der Beitrag, in dem die WELT uns erk­lärt, dass es zwar unschön, aber irgend­wie doch nachvol­lziehbar sei, wenn der ägyp­tis­che Präsi­dent „Zion­is­ten“ als „Nachkom­men von Affen und Schweinen“ beze­ichne. Denn erstens beziehe er sich damit auf eine Koransure, die nicht nur Juden, son­dern auch Chris­ten so beze­ichne, zweit­ens sei Anti­semitismus in der ara­bis­chen Welt eben ganz alltäglich, und drit­tens komme man mit solchen Sprüchen bei den poten­ziellen Wäh­lern dort halt ein­fach sehr gut an. Nur kon­se­quent, dass eine Zeitung, die Men­schen ander­er Haut­farbe in Kinder­büch­ern unbe­d­ingt mit ras­sis­tis­chen Belei­di­gun­gen beze­ich­net sehen will, auch die Ver­wen­dung tierisch­er Meta­phern im inter­re­ligiösen Dia­log dif­feren­ziert betra­chtet. Ich nehme an, es han­delt sich dabei ohne­hin nur um eine früher (ach, früher!) öffentlich anerkan­nte Sprache der Exotik, und dass wir in Deutsch­land nur ver­lernt haben, wie man sich geistre­ich religiösen Respekt zollt.

6 Gedanken zu „Sprachbrocken 5/2013

  1. Dierk

    Das war jene, die den Klein­bürg­er­lichen erlaubte, die bürg­er­lichen Werte in die Tonne zu treten, weil die über­holt seien und über­haupt am Vorankom­men auf dem Egotrip stören würden.

    Wird seit­dem von eben diesen klein­bürg­er­lichen Anar­cholib­eralen gerne “den 68ern” in die Schuhe geschoben, dabei con­ve­nient­ly vergessend, dass die auf Sekundär­tu­gen­den verzicht­en woll­ten zugun­sten der Primär­tu­gend Respekt. So ging let­ztere unter einem gewoll­ten Missver­ständ­nis verschütt.

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  2. Evanesca Feuerblut

    Finde ich mehr als trau­rig… Ich habe inzwis­chen sehr viel darüber gele­sen, ein­fach weil man dem The­ma kaum noch entkom­men kann.
    Dass aus­gerech­net von der von mir eigentlich geschätzten Autorin Nöstlinger so ein unqual­i­fiziert­er Satz kommt, hätte ich nicht erwartet.
    * dies war früher nicht belei­di­gend — weckt doch ger­ade das Bewusst­sein dafür, dass es das jet­zt ist und würde eine Ver­wen­dung seit­ens Jugendlich­er forcieren, die sich cool fühlen wollen.

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