Wolfgang Thierse hat sich ja in den letzten Tagen etwas unbeliebt gemacht. Auf die Nachfrage eines Interviewers der Berliner Morgenpost, ob er dem „Nachbarschaftsmix mit den vielen Schwaben und Latte-Macchiato-Muttis“ etwas abgewinnen könne, verteidigte er zunächst netterweise die Muttis (bzw. die Eltern allgemein), was aber in der Folge niemanden interessierte, und „kritisierte“ dann die Schwaben dafür, dass sie erst nach Berlin zögen, „weil alles so bunt und so abenteuerlich und so quirlig“ sei, dann aber nach einer gewissen Zeit versuchen würden, Berlin in die „Kleinstadt mit Kehrwoche“ zu verwandeln, aus der sie eigentlich entfliehen wollten.
Schwaben-Bashing wirft man ihm dafür vor und stellt seine Bemerkung auf eine Ebene mit Ausländerfeindlichkeit. Den Kontext ignoriert man dabei ebenso, wie die Tatsache, dass die „Schwaben“ nicht lange zögerten, Thierses Worte nachträglich zu rechtfertigen, in dem sie für sich in Anspruch nahmen, den Berliner/innen über den Länderfinanzausgleich überhaupt erst eine menschenwürdige Lebensqualität zu ermöglichen (Oettinger), und „Dankbarkeit“ einzufordern (Özdemir).
Persönlich kann ich Schwaben-Bashing ebensowenig abgewinnen, wie dem Oettingersch-Özdemirschen Größenwähnle. Mir sind alle Menschen suspekt, die Berlin in eine Kleinstadt mit Kehrwoche verwandeln wollen, egal, wo sie geboren und aufgewachsen sind — in Stuttgart oder Steglitz, Mainz oder Mariendorf, Duisburg oder Dahlem, Hamburg oder Hohenschönhausen, Wiesbaden oder Wilmersdorf. Aber Thierses „Schwaben-Bashing“ war mir etwas zu harmlos, um daraus Fremdenfeindlichkeit zu konstruieren.
Interessanter fand ich einen Aspekt seiner Bemerkungen, der für weniger Empörung gesorgt hat: seine Kritik des schwäbischen Dialekts. In der Morgenpost klang die so:
Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken. Da sage ich: In Berlin sagt man Schrippen, daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen. Genau das gleiche mit Pflaumendatschi. Was soll das? In Berlin heißt es Pflaumenkuchen. Da werde ich wirklich zum Verteidiger des berlinerischen Deutsch. [Berliner Morgenpost, 31.12.2012]
(Und dass er das genau so meinte, zeigte er, in dem er es zwei Tage später fast wortgleich in einem Spiegel-Online-Interview wiederholte.)
Interessant ist das deshalb, weil Thierse seit Jahren sprachpolitisch deutschtümelnd dilettiert, z.B. mit der Forderung, deutsche Wissenschaftler/innen zur Verwendung des Deutschen als Wissenschaftssprache zu verpflichten, wenn ihre Forschung durch deutsch Steuergelder finanziert würde, oder — noch radikaler — mit populistischen Plädoyers für eine Aufnahme der deutschen Sprache als Staatssprache in das Grundgesetz.
Man fragt sich angesichts seiner ablehnenden Haltung zu harmlosen Wörtern wie Wecke und Pflaumendatschi (übrigens: heißt es nicht eigentlich Zwetschgendatschi?), wessen Deutsch Thierse bei seinen Forderungen im Kopf hat. Reicht es ihm, das Deutsche in seiner ganzen bunten Vielfalt gesetzlich zu verankern, oder will er seine sprachpolitischen Bestrebungen auf sein Deutsch beschränkt wissen? Wenn er Wissenschaftler/innen, Migrant/innen und anderen kulturzersetzenden Kräften erst einmal ihre bevorzugten Verständigungsmittel verboten hat, will er dann Vokabellisten austeilen, auf denen festgelegt wird, in welcher Region Deutschlands welche Dinge mit welchen Wörtern bezeichnet werden? Oder sind es doch nur die Schwaben, die gefälligst die Landessprache lernen sollen, wenn sie in die Hauptstadt kommen?
Wie dem auch sei, als gebürtiger Berliner, der viele Jahre im Hamburger Ausland leben musste, kann ich Thierse beruhigen — das Wort Schrippe mag in Berlin aussterben (oder auch nicht), aber der deutschen Sprache bleibt es erhalten: im Hamburgischen ist es seit einigen Jahren dabei, das Wort Brötchen zu verdrängen (häufig als oxymoronhafte „Hamburger Schrippe“). Und Brötchen hat seinerseits das schöne Wort Rundstück (natürlich mit gerolltem R und S‑T) verdrängt, an das ich aus meiner Kindheit im Hamburger Exil wärmste Erinnerungen habe.
Wenn Thierse also Pflaumenkuchen und Schrippen bestellen können will — die Flugbereitschaft der Bundeswehr fliegt ihn sicher gerne schon vor dem Frühstück nach Hamburg und zurück. Überhaupt könnte er gleich da bleiben, denn vor den Schwaben hätte er da auch seine Ruhe.
Als Hamburger Jung (echter) der aber schon seit hmmmzig Jahren in Berlin lebt danke ich zunächst für das warme Angedenken an das Rundstück.
Schwaben (wo immer sie auch herkommen mögen, da geb ich dir nämlich recht) nerven mich auch, finde die Diskussion aber von beiden Seiten reichlich überzogen.
So schlimm es in einigen gegenden vom Prenzlauer Berg auch aussehen mag..
Zwetschgen und (Edel-)Pflaumen sind unterschiedliche Früchte. Pflaume ist laut Wikipedia auch der Oberbegriff.
Zum Backen ist die Zwetschge besser geeignet, sagt man.
Kennt man im Norden eigentlich Mirabelle und Ziebärtle.
Letztere werden glaube ich alle zu Schnaps.
Ziebärtle kennen aber die Schwaben oft Bauch schon nicht mehr. Ich komme aus dem badischen Teil BWs, dem mittleren Schwarzwalds 🙂
Ich glaube, die ganze Aufregung rührt daher, dass Thierse der bislang prominenteste Schwaben-Basher ist. Mir stößt das auch ein bisschen sauer auf. Da bemüht sich der großteil Deutschlands um kulturelle Toleranz und ausgerechnet in Berlin, wo sich einige für die progressive Avantgarde halten, wird genau von solchen Leuten auf eine Minderheit eingedroschen. Muss nicht sein.
Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive: volle Zustimmung.
Was mich allerdings doch sehr nervt und woran sich Thierse ja angeschlossen hat, ist diese Polemik, ich kenne sie besonders von vielen “Linken”, die einteilt in “echte” Berliner und Zugezogene. Wobei sie sich, obwohl selbst zugezogen, zu den “echten” zaehlen. Das ist dann eine Gesinnungsfrage und damit wird das Reden ueber die Schwaben und sonstige nicht-“echte” Berliner rassistischer Argumentation durchaus aehnlich.
Die Schwaben haben ein Recht auf ihre eigene Kultur. Egal wo sie leben!
Und die Berliner auch.
Schon blöd, irgendwie.
Ich bin im Rheinland aufgewachsen und ging zum Studium nach Schwaben. Zwetschgenkuchen und Zwetschgendatschi sind nach meiner Erfahrung nicht das Gleiche: Ersterer ist ein Blechkuchen, aus dem man üblicherweise Stücke schneidet, während ein Datschi das ist, was ich als “Teilchen” bezeichnen würde. Pflaumendatschi habe ich nie gehört und halte es somit entweder für die Anbiederung Berliner Bäcker an kauffreudige Schwaben oder aber für eine falsche Erinnerung Thierses. Beides nicht schön.
Solange jeder versteht, was ich essen möchte, wenn ich einen Berliner anfrage, macht doch was ihr wollt.
Richtig! Es muss Zwetschgendatschi heißen! Und außerdem auch Semmeln, also weder Schrippen noch Wecken! Jedenfalls hier in Bayern. Ach so, die Bayern hat er ja gar nicht gemeint, gell? 😉
Ach herrjeh, wenn der Herr Thierse sonst keine Probleme hat, dann ist ja alles in Ordnung.
“Die Schwaben haben ein Recht auf ihre eigene Kultur.”
Ist heute Oxymoron-Tag????
*duckundrenn*
Der Herr Thierse soll mal versuchen, aus Pflaumen einen Datschi zu backen. An den seinem bärtigen Munde entströmenden Flüchen beim Reinigen des Ofens wird man dann schon erkennen, was seine eigentliche Muttersprache ist.
Der Konflikt ist alt. Mein Onkel erzählt immer wieder gern, wie er in den 60ern aus mit der Wehrpflicht zusammenhängenden Gründen in Berlin (West) gelebt und dort jeden Morgen bei der Bäckerin “Semmeln” verlangt habe. Die habe täglich vorgegeben, ihn nicht zu verstehen, und ihm dann jeweils “Schrippen” angeboten. Er habe aber stets darauf bestanden, dass er als zahlender Kunde das Recht habe, bei seinem Sprachgebrauch zu bleiben.
Abgesehen davon sind die Brötchen der allermeisten Berliner Bäcker ohnehin nicht empfehlenswert.
»“Die Schwaben haben ein Recht auf ihre eigene Kultur.”
Ist heute Oxymoron-Tag????«
Gut, ich korrigiere mich wie folgt:
“Schwaben haben recht.”
Wahrscheinlich glaubt Thierse, ein Datschiburger sei ein Pflaumenkuchen von McDonalds …
Jedenfalls ist Datschi ein bayrisch-schwäbischer, kein württembergisch-schwäbischer Begriff. Der Unterschied zum Zwetschgenkuchen besteht im Teig. Der Zwetschgendatschi ist aus Mürbeteig, der Zwetschgenkuchen aus Hefeteig. Und zumindest in Datschiburg kann man sich drauf verlassen, dass das auch eingehalten wird.
Ich habe die Tatsache, dass man in meiner Familie “Schrippe” sagt, immer auf den Berliner Migrationshintergrund meiner Großmutter zurückgeführt. Jedenfalls so lange, bis ich festgestellt habe, dass eine regionale (fränkische) Bäckereikette ihre normalen Brötchen als “Schrippen” verkauft. Tja, die sprachwissenschaftlichen Brötchen-Gewissheiten kommen auch langsam ins Schwanken …
“Der Zwetschgendatschi ist aus Mürbeteig, der Zwetschgenkuchen aus Hefeteig.”
In Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und in Sachsen werden Blechobstkuchen vom Bäcker vorwiegend mit Hefeteig hergestellt.
Wohingegen in Bayern ein Zwetgendatschi häufig aus Mürbteig hersgestellt wird, was dem nürnberger Originalrezept entspricht.
es muss natürlich “ausgburger” heißen!
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Erlaube man mir hierzu als in zweiter Generation aus Oberschlesien vertriebene gebürtige Berlinerin meinen Senf dazuzugeben.
Die Berliner Bäckereiinnung kannte bis vor zwei Jahrzehnten, also bevor mit der Körnerflut ein Überangebot an unterschiedliche Brötchen in die Bäckerstuben einzog, ungefähr sechs bis acht Sorten Kleingebäck: Das Brötchen, hierzulande Schrippe genannt; den Knüppel (eine leicht quadratische flachere heller gebackene Art des Brötchens, mittlerweile ausgestorben); den Schusterjungen; Mohnbrötchen – tatsächlich hierzulande eher als Mohnhörnchen erhältlich; Zopfbrötchen (ein Hefebrötchen als Zopf geformt, leider auch ausgestorben in den meisten Berliner Bäckereien); Splitterbrötchen; dem Franzbrötchen ähnliches Kleingebäck ohne Zimt an dessen Namen ich mich gerade nicht erinnere, dem deutschen Äquivalent zum Croissant. Das in etwa entspricht dem Backangebot Berliner Bäckereien, so ich sie aus meiner Kindheit – also vor Wiedervereinigung der Stadt – aus dem Westteil in Erinnerung habe.
Das Zopfbrötchen habe ich in meiner Kindheit geliebt. Dann gab es das nirgendwo mehr in Berlin zu kaufen. Bis die Erste Rheinländische Mälzer Bäckerei auch in Berlin einige wenige Filialen eröffnete und mir mein Lieblingsbackwerk auch in dieser meiner Heimatstadt feilbot.
Ein Hoch also auf die Rheinländer, dass sie sich über die wiedervereinigten Grenzen gewagt haben!
Neulich ging ich in eine normale Bäckerei und – diese hatte zur fortgeschrittenen Stunde nur noch rundes, mir als Kaisersemmel oder kurz Semmel, Kleingebäck namentlich bekannt. Das ich dann als Semmel orderte, woraufhin mich die (Berliner) Bäckereiverkäuferin nicht verstand, bis sie mir erklärte (ich zeigte dann auf das Produkt, das ich kaufen wollte) „Ach so, Sie meinen Brötchen!”
In Berlin-Mitte an der Grenze zu Kreuzberg, nicht im Prenzlauer Berg.
Die Kaisersemmel ist mir als Kind erstmals in Österreich im Urlaub begegnet, später in Deutschland in Bayern. In Berlin gab es sie tatsächlich in meiner Jugend nicht zu kaufen. In Bayern nennt man sie wohl auch Kaiserbrötchen. In Schwaben Kaiserwecken.
Vielleicht liegt hier eher ein markenschutzrechtliches Problem vor, als ein geographisch-linguistisches. Tatsächlich hätte ich, hätte ich als Berlinerin in dieser Bäckerei nun direkt „Brötchen” bestellt zu Hause nicht das Produkt in der Tüte gefunden, das ich eigentlich hätte kaufen wollen. Was bei einem Hefeprodukt womöglich auch echt egal ist. Nun, nach knapp 45 Jahren Bäckereieinkaufserfahrung hätte ich in der Tat blöd geguckt.
Ich kann übrigens sehr gut damit leben, dass hierzulande Bäckereien den Pfannkuchen mittlerweile als Berliner anbieten, wenn Zugezogene zu merkbefreit sind, sich dem hiesigen Sprachgebrauch anzupassen. Auch dann, bin ich der festen integrativen Meinung, sollen sie ihre Fettteigwaren bitte schön in deren Landessprache ordern dürfen. ich habe erst dann ein Problem damit, wenn ich hier in Berlin den Berliner als solchen zu bestellen haben – und man mich nicht verstehen will, ordere ich einen Pfannkuchen.
Disclosure: Ich kenne viele Schwaben und aus sonstigen Bundesländern Zugezogene, die sich wundervoll in dieser Stadt integrieren, sie bereichern und ihr Gutes tun. Ich erlebe viele Schwaben und aus sonstigen Ländern Zugezogene, die nach Berlin ziehen in „hippen” Bezirken wohnen wollen und dann als erstes nach Speerstunde und Schließung von Clubs schreien, weil deren unangepasste Subkultur nicht in ihr Lebensbild passt.
Disclosure 2: Mir tun Neu-Berliner aus dem Ausland leid, die in Touristenliteratur lesen, in Berlin hieße das Brötchen „Schrippe” und dann etwas ganz anderes erhalten oder von der Bäckereiverkäuferin aufgeklärt werden, die „Schrippe” sei eine Wecke
Disclosure 3: Meist esse ich Graubrot. Zunehmend im Sprachgebrauch einfacher.
[…In Bayern nennt man sie wohl auch Kaiserbrötchen.…]
Dazu muss ich nun doch eine Anmerkung machen.
Brötchen gibt es in Bayern, jedenfalls in Altbayern (= Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz) überhaupt NICHT. Hier gibt es nur Semmeln in diversen Sorten, z.B. Kaisersemmeln, Sternsemmeln, Mohnsemmeln usw.
Die Brötchenfrage kann der Datschiburger Atlas der Alltagssprache abschließend klären. (Den kann Thierse dann auch dem Sprachreinheitsgesetz als Anhang hinzufügen.)
http://www.atlas-alltagssprache.de/wp-content/uploads/2012/05/Broetchen.jpg
Über Zwetschen/Zwetschgen/Pflaumen und Co. sagt der leider nichts. Kann aber vielleicht noch ergänzt werden.
Viel verwirrender finde ich unter anderem, dass “Berliner” in Sachsen teilweise “Pfannkuchen” heißen und in Mainz “Kreppel”, in Österreich Krapfen — während ich Krapfen mit Quarkgebäck assoziiere, das wieder anderswo anders heißt…
Aber hey, ich finde es zwar verwirrend, aber alles andere als schlimm. Die deutsche Sprache ist eben vielfältig.
Und hier im “Schwabenländle” hat man das Gefühl, das sämtliche Ossis nach der Wende “rübergemacht” haben. So hat jeder seine Probleme Herr Thierse. Wollen wir tauschen?