Sprachbrocken 51/2012

Von Anatol Stefanowitsch

Alle Jahre wieder wen­det sich Hans Zehet­mair, Vor­sitzen­der des Rats für deutsche Rechtschrei­bung, an die Presse um den Ver­fall der deutschen Sprache zu bekla­gen. Dieses Jahr beschw­ert er sich über „Recy­cling-Sprache“, den SMS-bed­ingten Man­gel an „Gefühl und Her­zlichkeit“ und über englis­che Wörter, „die man eben­so auch auf Deutsch for­mulieren kön­nte“. Und natür­lich benen­nt er scho­nungs­los die Ver­ant­wortlichen für den Sprachver­fall: die Jugend von heute und ihre iPads, auf denen sie die Sprache Schillers und Goethes regel­recht kaputt twittern.

Ganz anders klang das im let­zten Jahr. Da klagte er über die „Fet­zen­lit­er­atur“ in SMS und auf Twit­ter, wo es „keine ganzen Sätze mehr“ gebe und über eine Gesellschaft, deren Ver­wen­dung englis­ch­er Lehn­wörter „symp­to­ma­tisch für eine Gesellschaft [sei], die nicht mehr hin­ter die Dinge blick[e] und die Hin­ter­gründe nicht mehr beleuchte[]“. Und natür­lich iden­ti­fizierte er auch damals scho­nungs­los die Schuldigen: die (weit­ge­hend anal­pha­betis­che) Jugend von heute und ihre „Abkürzun­gen“ und „Aus­rufeze­ichen“, mit denen sie die Sprache Goethes und Schillers regel­recht kaputt simsen.

Und alle Jahre wieder über­lege ich, ob ich mich auf das Niveau her­abbegeben soll, auf dem ich Zehet­mairs Kul­tur­solip­sis­mus etwas ent­ge­gen set­zen kön­nte. Und ich über­lege, wo ich anfan­gen sollte: bei seinen falschen Prämis­sen, bei sein­er Igno­ranz gegenüber sozialen Medi­en, bei sein­er Unken­nt­nis der wis­senschaftlichen Fak­ten­lage oder bei sein­er Inkom­pe­tenz beim The­menkom­plex „Sprache“ all­ge­mein. Und im let­zten Jahr habe ich mich in einem schwachen Moment dazu hin­reißen lassen, Zehet­mairs Klagelied tat­säch­lich ein­mal mit wis­senschaftlichen Fak­ten­lage ver­glichen. Und was soll ich sagen: Die wis­senschaftliche Fak­ten­lage hat haushoch gewon­nen.

7 Gedanken zu „Sprachbrocken 51/2012

  1. Christoph Päper

    Ich habe mich bei der unre­flek­tierten Heise-Mel­dung auch nur müh­sam zurück­hal­ten kön­nen. Mit solchen Gedanken­fürzen verbessert er nicht ger­ade meine Mei­n­ung über alte bay­erische Poli­tik­er, die an der LMU studiert und im Zivilleben als Lehrer gear­beit­et haben … oder jede dieser Teilgruppen.

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  3. Johannes

    Fak­ten brauchen immer ein biss­chen bis nach Bay­ern. Die wis­senschaftliche Studie, die zeigte, dass es Kindern in Regen­bo­gen­fam­i­lien genau­so gut oder schlecht geht wie in “kon­ven­tionellen” Fam­i­lien (in Erman­gelung ein­er besseren Beze­ich­nung), wurde ja von CSU-Sozialmin­is­terin Haderthauer (und diversen CDU-Granden) auch sin­ngemäß mit “Nun, das sehe ich anders als die Wis­senschaft” quittiert.

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  5. Steff

    vor­ab @Christoph Päper: sich seine Mei­n­ung über bay­erische Poli­tik­er, LMU-Absol­ven­ten und Lehrer im all­ge­meinen von Aus­sagen ein­er einzel­nen Per­so­n­en prä­gen zu lassen … zeugt aber auch nicht wirk­lich von intellek­tueller Brillianz.

    Die Aus­sagen von Her­rn Zehet­maier wer­den ja zurecht zerpflückt. Den­noch ver­misse ich in der Bil­dungspoli­tik mehr Köpfe sein­er Güte. Also um Him­mels Willen nicht mehr solch­er erzkon­ser­v­a­tiv­er Lord­siegel­be­wahrer. Aber er ste­ht wenig­sten für irgen­dein klar kon­turi­ertes Welt­bild, mit dem man sich auseian­der­set­zen und an dem man seine eigene Posi­tion auss­chär­fen kann. Genau das scheint der aktiv­en Gen­er­a­tion von Bil­dungspoli­tik­ern mehrheitlich etwas abhan­den gekom­men zu sein: da sind Pop­ulis­mus, Entschei­dun­gen nach Kassen­lage, ersatzweise auch nach let­zter oder näch­ster anste­hen­der Bil­dungsstudie, auch Posi­tio­nen nach — sich oft rasch ändern­der — Koali­tion­sop­tion doch zu weit verbreitet.

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  6. Christoph Päper

    Steff, man ist für die Vorurteile mitver­ant­wortlich, die sich andere über Grup­pen bilden, zu denen man gehört – die man also repräsen­tiert oder exem­pli­fiziert. Man sollte ler­nen, streng zwis­chen eige­nen abstrak­ten, rel­a­tiv star­ren Vorurteilen zu Grup­pen ein­er­seits und konkreten, flex­i­blen Urteilen über Indi­viduen ander­er­seits zu unterscheiden.

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