Während die Wörterwahlen 2012 in Deutschland mit dem Jugendwort des Jahres gerade erst begonnen haben, ist Österreich schon fertig: Auf einen schlag gab die Forschungsstelle Österreichisches Deutsch an der Universität Graz heute das Wort des Jahres, das Unwort des Jahres, das Jugendwort des Jahres und den Ausspruch des Jahres 2012 bekannt (PDF).
Wort des Jahres wurde Rettungsgasse, ein in Österreich Anfang des Jahres neu eingeführtes Wort für die Pflicht von Autofahrer/innen, bei Unfällen eine Gasse für Rettungs- und Polizeifahrzeuge zu bilden, indem sie rechts oder links an den Straßenrand fahren. „Da dies nicht immer funktioniert und die Anwendung der Bestimmungen als verwirrend empfunden wurde, ist das Wort seither in aller Munde und Gegenstand von Diskussionen“, stellt die österreichische Wörterjury fest. „Das Wort selbst ist im positiven Sinne mehrdeutig, da es als ‘Gasse, durch die man gerettet wird’ bzw. ‘Gasse, durch die die Rettung kommt’ verstanden werden kann.“ Spezifisch österreichisch sei der Ausdruck, weil nur in Österreich das Wort Rettung neben dem Retten bzw. Gerettetwerden auch den Rettungsdienst oder den Rettungswagen bezeichnen könne.
Unwort des Jahres wurde Unschuldsvermuteter, eine „genuin österreichische“ Wortbildung, die sich aus einer Adjektivierung des Wortes Unschuldsvermutung mit anschließender Ableitung zu einer Personenbezeichnung ergebe (wobei ich ergänzen möchte, dass das hypothetische Adjektiv unschuldsvermutet sich ja seinerseits aus dem Verb unschuldsvermuten ableiten müsste). Tatsächlich finden sich auf österreichischen Webseiten aber nur eine Handvoll Treffer für dieses Verb, aber ein paar Hundert für das Adjektiv. Zum Unwort wird dieses morphologisch höchst interessante Wort aber durch seine Bedeutung: es bewirke „einerseits eine Vorverurteilung, verschleier[e] diesen Umstand jedoch zugleich, weil ja ausgedrückt [werde], dass es sich um einen Unschuldigen handelt.“ Ich kann dieser Logik nicht folgen, denn diese Bedeutungsproblematik steckt ja bereits in dem Wort Unschuldsvermutung, das dann konsequenterweise gleich mit verunwortet werden müsste.
Jugendwort des Jahres wurde leider geil, eine verglichen mit dem deutschen Jugendwort des Jahres hervorragende Wahl, da der Ausdruck erstens tatsächlich von Jugendlichen und zweitens überhaupt außerhalb von Twitter verwendet wird. Die österreichische Wörterjury erkennt neidlos die bundesdeutsche Herkunft des Ausdrucks an („[e]s ist der Titel eines populären und humorvollen Songs der Gruppe Deichkind“), wählt es aber wegen der „Qualität“, die es „durch den ausgedrückten Gegensatz negativ-positiv bekommt“. Aus meiner Sicht, wie gesagt, eine gute Wahl.
Einen Anglizismus des Jahres kennen die österreichischen Wortbeauftragten nicht, dafür aber einen „Österreichischen Ausspruch des Jahres“. Das wurde in diesem Jahr der Satz „Ich trete nicht zurück, ich mache den Weg frei“ der grünen Politikerin Gabriele Moser, die durch politische Machtkämpfe gezwungen wurde, ihren Posten als Vorsitzende des Korruptions-Untersuchungsausschusses aufzugeben. Mit ihrem Rücktritt, findet die Jury, habe sie „demokratische Reife“, mit ihrer Formulierung „sprachliche Eleganz“ bewiesen. Mir gefällt dieser Satz auch, und deshalb beende ich jetzt nicht etwa unvermittelt diesen Beitrag, sondern ich mache den Weg frei für Ihre Kommentare!
Ich finde “Unschuldsvermutung” ja überhaupt einigermaßen missglückt. Die Vermutung, jemand sei unschuldig, ist vollkommen überflüssig, und es geht in einem Strafverfahren ja auch nicht darum, die Unschuld eines Menschen zu überprüfen, sondern nur um die Frage, ob ihm Schuld nachgewiesen werden kann oder nicht.
Ich muss zwar einräumen, dass “fehlender Nachweis der Schuld” oder “noch nicht erwiesenermaßen Schuldiger” deutlich weniger handlich wären als das hier kritisierte Unwort, sehe aber andererseits auch gar keinen Bedarf für ein spezielles Wort dafür, denn es ist ja der Normalzustand des ganz überwiegenden Großteils der Bevölkerung. Oder wie?
Ist “Rettungsgasse” nicht schon seit Ewigkeiten der Ausdruck für genau das Selbe in Deutschland? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es in der Fahrschule hatte. Daher würde ich das vielleicht nicht unbedingt spezifisch österreichisch nennen.
Stimmt, ich habe als ich für einige Wochen in Österreich war, mich immer gewundert, was mit der “Rettung” gemeint ist, bis mir ein Lichtlein aufging, was es sein muss *g*.
@Muriel und in Sachen Unschuldsvermuteter:
Der Begriff Unschuldsvermutung ist mE eben der Terminus Technicus für das was hier als “normal” angenommen wird, nämlich dass man die Schuld und nicht die Unschuld beweisen muss. Das ist keineswegs selbstverständlich, sondern einer der Eckpfeiler unseres Rechtssystems!
Als Fachausdruck entzieht sich die U. jedoch mE weitestgehend der Interpretation über die reine Wortbedeutung hinaus, und die ist nach meinem Verständnis nur: “Auch wenn ich es nicht beweisen kann/muss gehe ich bis auf weiteres davon aus, dass die betreffende Person unschuldig ist”. Sich wäre auch Unschuldsannahme möglich gewesen, nach meinem Sprachgefühl ist das aber auch nicht deutlich anders in der Konnotation.
Der Unschuldsvermutete ist hingegen kein Fachausdruck (da es eines entsprechenden Ausdruckes im Übrigen wohl auch nicht bedarf. Die U. trifft ja eben gerade auf jeden zu), sondern eine Wortschöpfung die durch ihre Konstruktion deutlich heraussticht, und durch diese Überbetonung gewisse unangenehme Beiklänge hat, die dem Ursprungswort abgehen…
Fällt mir gerade noch auf: Heißt das Ding in Deutschland nicht auch Rettungsgasse? Die StVO spricht ausdrücklich davon “eine freie Gasse [zu]bilden”, was ich für das unübliche der beiden Worte halte…
Warum der Begriff Rettungsgasse in Österreich zum Wort des Jahres gewählt wurde, ist doch im Artikel erklärt? Es muss ja nicht immer ein völliger Neologismus sein — im österreichischen Sprachgebrauch jedenfalls hat das Wort schließlich vor 2012 vermutlich nur bei Deutschlandurlaubern eine Rolle gespielt.
Ein Wort “verunworten”. Schöner Neologismus. Mit meinem Google-Profil finde ich da sonst fast nur Belege in der Tageszeitung Augsburgs.
Zu “Unschuldsvermuteter”: Was Jim sagt.
Zu “Rettungsgasse”: Was Hannah sagt.
@Jim: Ich weiß schon, was die Worte bedeuten, und warum das eine gute Sache ist.
Ich finde sie nur unglücklich gewählt, weil die Einsicht, dass jemand nur verurteilt und bestraft werden sollte, nachdem seine Schuld bewiesen wurde, eben keine Vermutung seiner Unschuld voraussetzt. Unschuldsannahme hätte also genau das gleiche Problem, weil sie genau das gleiche marginal irreführende Verständnis vom Funktionieren unseres Strafrechts impliziert.
Zu den Unschuldsvermuteten eine Überlegung:
In den schlimmeren Schmierblättern hat es sich besonders bei spektakulären Todesfällen etabliert, erst dramatische Schilderungen der Geschehnisse zu liefern, ganz ohne Konjunktiv oder sonstige Relativierungen, um den Artikel dann zu schließen mit “Es gilt die Unschuldsvermutung”.
(In dieser schönen Zusammenschau, die ich nun wirklich nur aus Gründen des Amusements verlinke, kommt die Phrase immerhin vier mal vor.)
Das Googeln nach Beispielen offenbarte gerade auch, dass diese Formulierung 2010 selbst schon Unwort war… http://derstandard.at/1291454664724/
Diese “Zeitungen”, “Heute” und “Österreich” nämlich, liegen typischerweise zumindest in Wien und Graz gratis in den Öffis auf und werden von enorm vielen Menschen gelesen, die sonst eher andere Informationsquellen wählen würden.
In einer alltagssprachgefühlsmäßigen Deutung wäre ein/e Unschuldsvermutete/r (ich hab das Wort übrigens noch nie gehört) für mich eine Person, auf die eben wie in diesen Artikeln pro forma und ohne jegliche Überzeugung die Unschuldsvermutung angewandt werden muss. Oder eine, die eben dieser Berichterstattung zum Opfer gefallen ist. Überrascht wäre ich, den Ausdruck in einem halbwegs neutralen Zusammenhang zu hören.
(Wie es tatsächlich verwendet wird konnte ein schnelles herumsuchen mir nicht sagen, da die ersten paar Seiten sich alle auf seinen Unwortstatus beziehen.)
Dass Rettung in Österreich den Rettungsdienst bezeichnen kann glaube ich sofort, aber wenn es sich auf den Rettungswagen bezieht, dann ist doch auch der Rettungsdienst gemeint, oder nicht?
So wie in “ich muss rechts ranfahren damit die Rettung durchkommt”, aber doch nicht “der Verletzte wird in die Rettung geladen”?
Das kann schon so stimmen, dass “Rettung” eher den Rettungsdienst bezeichnet und eben öfter vom Rettungsdienst gesprochen wird als von einzelnen Rettungsautos. Freche, ungetestete Behauptung: Das wird aber nicht so wahrgenommen. Und, angenommen, das würde stimmen, wäre ich ein wenig verwirrt: Wenn ich eigentlich eh immer nur vom Rettungsdienst spreche bzw sich das problemlos so lesen lässt, ich aber auch der festen Überzeugung bin, immer einzelne Fahrzeuge zu meinen, gibt es dann ein tolles Wort für den Zusammenhang? Oder, anders: Kann ich Ausdrücke als synekdochisch (o.ä.) bezeichnen, wenn ich das nicht müsste, um zu erklären, wie das Wort dort hin kommt? (Hah, hier zumindest darf ich das.)
Abgesehen davon meine ich übrigens, öfters von Geburten zu hören, die “noch in der Rettung” stattfanden, und wenn ich das nicht komplett falsch verstehe und alle anderen damit den Prozess des Gerettetwerdens meinen, geht es da wohl um das Auto.
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