Sprachbrocken 37/2012

Von Anatol Stefanowitsch

Nichts gegen die Paläoan­thro­polo­gie, aber es sei mir verziehen, wenn ich manch­mal den Ein­druck bekomme, sie sei nur erfun­den wor­den, damit die Lit­er­atur­wis­senschaft keine method­ol­o­gis­chen Min­der­w­er­tigkeit­skom­plexe entwick­elt. Da unter­sucht ein sech­sköp­figes inter­na­tionales Team das Skelett eines Nean­der­talers und belegt anhand von Abnutzungsspuren an den Zäh­nen etwas, das ohne­hin bekan­nt war: Dass dieser Nean­der­taler (wie seine Artgenossen ins­ge­samt) ver­mut­lich Recht­shän­der war. Soweit, so gut. Da das aber wohl nicht inter­es­sant genug war, schließt man im Schlusskapi­tel der Studie dann unver­mit­telt, dass dies auf eine men­schenähn­liche Aus­prä­gung der linken Gehirn­hälfte und damit auf die Fähigkeit zur Sprache hin­weist. Und diese nicht weit­er belegte Speku­la­tion wird vorherse­hbar­er Weise der Aufhänger der Geschichte in der Presse. Ich wollte eine linkshändi­ge Kol­le­gin fra­gen, was sie von dieser Geschichte hält, aber natür­lich kon­nte sie nicht antworten.

Eben­so sprach­los scheinen Unternehmen zu sein, und das will eine Schreib­trainer­in ändern, über die die kleinezeitung.at in einem, wie soll ich sagen, Wer­be­text berichtet. Dort erfahren wir, dass Unternehmen ihre Texte nor­maler­weise mit nur 207 häu­fi­gen Wort­for­men ver­fassen und dass es nicht genau genug sei, wenn ein Touris­mus­be­trieb eine „schöne Land­schaft“ bewerbe. Und dass man bei Ter­minab­sagen auf Höflichkeit acht­en und die eigene Stim­mung aus dem Text her­aushal­ten sollte. Finde ich übrin­gens auch, und deshalb sage ich hier­mit den tra­di­tionellen drit­ten Absatz der Sprach­brock­en ab. Schreibt ihn höflichst selb­st, ihr Neandertaler.

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

4 Gedanken zu „Sprachbrocken 37/2012

  1. yeda

    Die Diskri­m­inierung von Linkshän­dern ist eine ganz latente und im All­t­ag fast nicht wahrnehm­bare, aber sie ist da und äußert sich in solch einem Kackscheiß wie in der Presse. Wenn ich mich z.B. darüber beschwere, daß von den 1000 Gitar­ren­typen im Musik­großhan­del nur 5 Typen auch für Linkshän­der existieren, dann zuckt man die Schul­tern und sagt, ich hätte ja auch “richtigherum” Gitarre ler­nen kön­nen (weil es ja sog­ar ein­fach­er sorum sei für einen Linkshän­der, dann frage ich mich aber, warum nicht alle Recht­shän­der die Gitar­ren rum­drehen, wenn es ein­fach­er sorum sei).
    Ket­ten­sä­gen gibt es gar nicht für Linkshän­der, wenn ich im Büro nach ein­er Schere frage, werde ich aus­gelacht. Die Mikrow­ellen­tür geht falschrum auf, wenn ich was in der linken Hand bal­anciere. Alles ist opti­miert auf Recht­shän­der und wir Linkshän­der passen uns an.
    Das Linkshän­der keine so hohe Lebenswartung haben hat ja auch keine biol­o­gis­chen Gründe, son­dern eher prak­tis­che. Wir bedi­enen ten­den­ziell gefährliche Dinge nicht auf die opti­male Art und Weise. So ist das und wir leben damit meis­tens noch ganz gut. Trotz­dem ist es Diskri­m­inierung. Und das Nean­der­tal-Beispiel belegt das ganz eindrucksvoll.

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  2. flux

    @yeda: Auch ich füh­le mich als Linkshän­derin hin und wieder im All­t­ag ‑diskri­m­iniert wäre zuviel gesagt- aber hin und wieder benachteiligt.…wie gesagt Mikrow­ellen­türen, Brot­maschi­nen und vor allem ein­seit­ig geschlif­f­ene Messer…aber bei der Gitarre hab ich es noch nie ver­standen, wo das Prob­lem ist — habe zwar auch schon oft beobachtet, dass starke Linkshän­der eine Gitarre automa­tisch “falsch herum” in die Hand nehmen, aber es müssen doch bei­de Hände gle­ich vir­tu­os­es leisten???

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  3. Rob

    Die Sache mit dem recht­shändi­ge Nean­der­taler ist ver­mut­lich eher ein Missver­ständ­nis beziehungsweise eine Unge­nauigkeit in der Studie (und in der Presse, aber das wäre ja nichts Neues). Der Nean­der­taler hätte genau­so gut Linkshän­der sein kön­nen und man wäre zu einem ähn­lichen Schluss gekom­men. Es geht vor allem darum, dass eine Seite bevorzugt wird. Wenn das bei anderen Pri­mat­en und beson­ders Men­schenaf­fen nicht der Fall sein sollte und man noch einen neu­rol­o­gis­chen Zusam­men­hang zwis­chen Sprache und Bevorzu­gung ein­er Seite zeigen kann, dann ist so ein Schluss dur­chaus vertret­bar. Ob das Ganze nun wirk­lich stich­haltig ist, darüber kann ich allerd­ings keine Aus­sagen machen. Ich finde es jet­zt aber nicht sooo weit hergeholt.

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  4. phaeake

    Ich wun­dere mich ger­ade über die For­mulierung: “Dass dieser Nean­der­taler (wie seine Artgenossen ins­ge­samt) ver­mut­lich Recht­shän­der war.”
    Ich ver­mute, dass aber nicht die Behaup­tung oder auch nur die Ver­mu­tung aufgestellt wer­den soll, die Nean­der­taler seien “ins­ge­samt” Recht­shän­der gewe­sen. Ist gemeint, dass für JEDEN Nean­der­taler die sta­tis­tis­che Ver­mu­tung von Recht­shändigkeit besteht?
    Meines Wis­sens KANN die Forschung zu Rechts- und Linkshändigkeit vor­mod­ern­er Men­schen dur­chaus ser­iös und inter­es­sant sein. Ich las ein­mal von ein­er Unter­suchung anhand von Faustkeilen, dass ein rel­a­tiv hoher Pro­tentsatz der dama­li­gen Men­schen (ca. 25%) die Werkzeuge mit der linken Hand benutzte. Sobald die Werkzeuge seriell von darauf spezial­isierten Werkzeug­mach­ern hergestellt wur­den und nicht mehr indi­vidu­ell von dem­jeni­gen, der das Werkzeug ver­wen­den wollte, sank die Quote der Linkshän­der­w­erkzeuge rapi­de. Denn in diesem Augen­blick wurde Recht­shändigkeit zur Norm und die Linkshän­der wur­den ‑soweit möglich — umgel­ernt. Das bezog sich aber nicht auf Nean­der­taler, son­dern deut­lich spätere Menschen.
    Der Schlussfol­gerung, dass Linkshän­der eine kürzere Lebenser­wartung haben, wurde auch schon wider­sprochen. Nach meinen Infor­ma­tio­nen wurde dieser Fehlschluss aus ein­er method­isch sehr wack­e­li­gen Studie gezo­gen. In ihr wur­den die Ster­ben­den in einem bes­timmten Bezirk, in einem bes­timmten Zeitraum mit Ster­beal­ter und Händigkeit erfasst. Die Linkshändi­gen waren sig­nifikant jünger gestor­ben. Das lag aber daran, dass in älteren Jahrgän­gen es sig­nifikant weniger Linkshän­der gab, weil früher rig­oros­er umer­zo­gen wurde.
    Ich will damit aber keineswegs yeda “ins­ge­samt” widersprechen.

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