Ambiguitätenolympiade

Von Susanne Flach

Der Beitrag hätte natür­lich vor dem Olympia-Overkill vor drei Wochen erscheinen sollen oder zumin­d­est in den 16 Tagen danach, aber man will son Fest ja guck­en und nicht drüber schreiben. Also: Was bedeutet Olympiade und was ist ange­blich so falsch daran, es zu nutzen, wenn man das Sport­fest selb­st meint?

Foren sind ja voll davon. Und meist endet die Diskus­sion damit: “Das heißt Olymp­is­che Spiele. Olympiade ist nur die Zeit zwis­chen den Spielen.”

Heute haue ich nicht in die “wenn es aber von ein­er aus­re­ichend großen Zahl von Sprechern…”-Kerbe. Und Kor­po­ra habe ich für diesen Beitrag auch nicht gewälzt. Was bleibt ist die sub­jek­tive Ein­schätzung, dass eine nicht geringe Menge an Repor­terIn­nen, Trainer­In­nen und Sport­lerIn­nen selb­st Olympiade benutzten, um auf das aktuelle Ereig­nis zu referenzieren.

Was solche Diskus­sio­nen sug­gerieren, ist, dass Olympiade zwei konzeptuell kon­träre Bedeu­tun­gen hat: eine anscheinend richtige bzw. offizielle als ‘Zeit zwis­chen zwei Sport­festen’ (etwa 3 Jahre und 50 Wochen) und eine anscheinend falsche, aber oft genutzte als ‘Zeit der Spiele’ (die zwei Wochen etwa alle vier Jahre).

Also sprechen wir heute mal über Ambiguitäten.

Als Queen Eliz­a­beth II vor drei Wochen die Par­ty in Lon­don eröffnete, sagte sie den berühmten Satz:

I declare open the Games of Lon­don cel­e­brat­ing the 30th Olympiad of the mod­ern era.

Wenn irgend­wo eine Diskus­sion um ‘richtige’ und ‘falsche’ Bedeu­tun­gen ent­facht wird, wird eigentlich immer überse­hen, dass Wörter mehrdeutig sind — und dass es oft gar nicht um richtig oder falsch geht. Denn Sprach­be­nutzung ist generell und grund­sät­zlich ambiger, als uns bewusst ist — auch in Fällen, die dem Richtig-Falsch-Radar ent­ge­hen. Olympiade ist in dieser immer­hin offiziellen Formel ein schönes Beispiel für solchne Ambi­gu­i­tät. Sie lässt näm­lich min­destens drei Inter­pre­ta­tio­nen zu, unab­hängig davon, was Olympiade ‘richtig’ bedeutet. Welche?

  1. Feiern, wenn man etwas erre­icht oder hin­ter sich gebracht hat:
    I’m cel­e­brat­ing the vic­to­ry over my opponent.
  2. Feiern, was ger­ade stattfindet:
    I’m cel­e­brat­ing Christ­mas.
  3. Feiern, was konzeptuell Teil von etwas Größerem ist:
    I’m cel­e­brat­ing cross­ing the fin­ish line in a stage of the Tour de France.

In (1) muss der Erfolg schon vor­liegen, das zu feiernde Ereig­nis also zurück­liegen. Das entspräche der Ver­wen­dung von Olympiade im Sinne ‘zwis­chen den Spie­len’. Damit begann die 30. Olympiade als Peri­ode mit dem Löschen der Flamme in Peking und endete bei Queen Elizabeth.

In (2) fällt es einem schon deut­lich schw­er­er, etwas ver­gan­ge­nes reinzuin­ter­pretieren, weil es prag­ma­tisch unmöglich ist, den Satz sin­nvoll zu äußern, wenn man dabei nicht das Fest selb­st meint. Die Inter­pre­ta­tion von Olympiade als ‘die Spiele an sich’ fällt also in diese Kat­e­gorie — wie übri­gens auch diese Olympiade (und andere). In ein­er gelock­erten Auf­fas­sung von (2) kön­nte man hier noch die Möglichkeit ein­beziehen, dass Olymp­is­che Spiele als Abschluss ein­er Olympiade zu sehen sind (etwa als der Höhep­unkt der XXX. Peri­ode olymp­is­ch­er Zeitrech­nung).

Und (3) ist wohl jet­zt die auf den ersten Blick vielle­icht erstaunlich­ste Inter­pre­ta­tion. Kom­men wir aber gle­ich noch zu.

Der Eröff­nungsspruch — denn dann wird Olympiade für uns Öffentlichkeit am augen­schein­lich­sten offiziell gebraucht — lässt also bei­de Inter­pre­ta­tio­nen von (1) und (2) zu. Bei­de sind nicht für eine ‘richtig’ und deshalb für die andere ‘falsch’. Ambi­gu­i­tät in der Sprache ist all­ge­gen­wär­tig, immer­hin haben wir ein begren­ztes lexikalis­ches Inven­tar für ein Vielfach­es an zu benen­nen­den Konzepten. Aber Mehrdeutigkeit­en fall­en uns sel­ten wirk­lich auf, weil wir einen faszinierend mächti­gen Fil­ter­ap­pa­rat haben und kon­textab­hängig meist die sin­nvolle Inter­pre­ta­tion wählen.

Olympiade ist also mehrdeutig. Und zwar weit über den gegen­sät­zlichen Zankapfel zwis­chen oder während hin­aus. Denn die Frak­tion der Zwis­chen-Nutzer beruft sich meist auf die ety­mol­o­gis­che Bedeu­tung, weil die auf die griechis­che ‘Zeit zwis­chen den Spie­len’ (Ὀλυμπιάδ-.GEN ‘der Olympiade’) zurück­ge­ht. Damals feierte man die Spiele nach Ablauf von grob 50 Mond­monat­en. Dies entspricht etwas unter vier Jahren. Ich habe dazu jet­zt nicht tiefer recher­chiert, aber es scheint ein Muster zu sein: Spiele, 50 Mond­monate Pause, Spiele. Damit kön­nte auch in Abwe­sen­heit gröber­er Astronomieken­nt­nisse klar sein, dass die (Sommer-)Spiele irgend­wann auch mal im Win­ter stattge­fun­den haben müssen. Das tut jet­zt zwar eigentlich wenig zur Sache, zeigt aber, dass wir noch eine Bedeu­tungss­chat­tierung von Olympiade gefun­den haben: eine Antike. Die kann heute aber nicht mehr zutr­e­f­fen, weil in der Neuzeit die kli­ma­tis­chen Bedin­gun­gen des Aus­tra­gung­sort einen größeren Ein­fluss auf die Ter­minierung von Olympia haben, als die Aktiv­ität des Mon­des. So find­en Olymp­is­che Spiele üblicher­weise im Juli oder August statt, auf der Süd­hal­bkugel gerne mal bis Dezem­ber (Mel­bourne 1956).

Kom­men wir zu (3) zurück und gehen zum IOC und dessen Statuten. Dort heißt es unter §6:

The Olympic Games con­sist of the Games of the Olympiad and the Olympic Win­ter Games.

Die Olymp­is­chen Spiele beste­hen aus den Spie­len der Olympiade und den Olymp­is­chen Winterspielen.’

und weit­er unter Zusatz [1] und [2]:

[1] An Olympiad is a peri­od of four con­sec­u­tive cal­en­dar years, begin­ning on the first of Jan­u­ary of the first year and end­ing on the thir­ty-first of Decem­ber of the fourth year.

[2] The Olympiads are num­bered con­sec­u­tive­ly from the first Games of the Olympiad cel­e­brat­ed in Athens in 1896. The XXIX Olympiad will begin on 1 Jan­u­ary 2008.

Eine Olympiade ist eine Peri­ode von vier aufeinan­der­fol­gen­den Kalen­der­jahren, begin­nend am ersten Jan­u­ar des ersten Jahres und endend am 31. Dezem­ber des vierten Jahres.

Die Olympiaden wer­den durchge­hend von den ersten Spie­len der Olympiade in Athen 1896 durch­num­meriert. Die 29. Olympiade wird am 1. Jan­u­ar 2008 begin­nen.

(Wichtiges hab ich mal markiert.)

Danach endete die 29. Olympiade am 31. Dezem­ber 2011. Die 30. Olympiade, deren Spiele wir in den let­zten Wochen in Lon­don gese­hen haben, hat ger­ade mal am 1. Jan­u­ar 2012 begonnen und — sur­prise! — dauert noch bis Ende 2015.

Was ganz klar fehlt ist ein Beleg dafür, dass Olympiade beim IOC in irgen­dein­er Form ‘zwis­chen den Spie­len’ bedeutet — und der Beleg fehlt offen­bar für seit [sic] 1896! Was das auch heißt: Es ist in dieser Lesart sog­ar immer Olympiade, nicht nur bei den 200 oder so Wochen zwis­chen zwei Austragungen.

Damit kom­men wir also zu Möglichkeit (3) von oben zurück, die ich anfangs noch als die über­raschend­ste Inter­pre­ta­tion­s­möglichkeit vorgestellt habe. Es ist aber die, die nach den Statuten des IOC sog­ar als die offizielle Inter­pre­ta­tion gel­ten dürfte. In (3) sind Olymp­is­che Spiele also Teil ein­er Peri­ode, die die Spiele selb­st inkludiert, also zeitlich über­lagert. Und nach dieser Def­i­n­i­tion kommt eine Bedeu­tung von Olympiade dazu, die sowohl das während, als auch das dazwis­chen zulässt. Cool, oder?

Und trotz­dem wis­sen wir mit unserem leis­tungsstarken Ambi­gu­i­täts­fil­ter, dass sich “Ich hab bei dieser Olympiade eine Goldmedaille gewon­nen” natür­lich auf das während, aber niemals auf das dazwis­chen oder sowohlal­sauch oder gar wasauchim­mer bezieht.

Weil ich beruf­skrankheits­be­d­ingt an mehr Anbi­gu­i­täten in Sprache und Sprach­wan­del­prozessen glaube, als viele andere, habe ich Mitleid. Ich glaube ja, dass es unglaublich viel sinnlose Kraft kosten muss, den Ambi­gu­i­täts­fil­ter für so viele offen­sichtliche und fre­quente Bedeu­tun­gen der­art kon­se­quent auszuschalten.

P.S.: Ern­sthafte Frage: Hat jemand einen nicht-ambi­gen Video-/Au­dio­be­leg dafür, dass Olympiade im spon­ta­nen Sprachge­brauch fürs dazwis­chen verwendet?

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