Der Beitrag hätte natürlich vor dem Olympia-Overkill vor drei Wochen erscheinen sollen oder zumindest in den 16 Tagen danach, aber man will son Fest ja gucken und nicht drüber schreiben. Also: Was bedeutet Olympiade und was ist angeblich so falsch daran, es zu nutzen, wenn man das Sportfest selbst meint?
Foren sind ja voll davon. Und meist endet die Diskussion damit: “Das heißt Olympische Spiele. Olympiade ist nur die Zeit zwischen den Spielen.”
Heute haue ich nicht in die “wenn es aber von einer ausreichend großen Zahl von Sprechern…”-Kerbe. Und Korpora habe ich für diesen Beitrag auch nicht gewälzt. Was bleibt ist die subjektive Einschätzung, dass eine nicht geringe Menge an ReporterInnen, TrainerInnen und SportlerInnen selbst Olympiade benutzten, um auf das aktuelle Ereignis zu referenzieren.
Was solche Diskussionen suggerieren, ist, dass Olympiade zwei konzeptuell konträre Bedeutungen hat: eine anscheinend richtige bzw. offizielle als ‘Zeit zwischen zwei Sportfesten’ (etwa 3 Jahre und 50 Wochen) und eine anscheinend falsche, aber oft genutzte als ‘Zeit der Spiele’ (die zwei Wochen etwa alle vier Jahre).
Also sprechen wir heute mal über Ambiguitäten.
Als Queen Elizabeth II vor drei Wochen die Party in London eröffnete, sagte sie den berühmten Satz:
I declare open the Games of London celebrating the 30th Olympiad of the modern era.
Wenn irgendwo eine Diskussion um ‘richtige’ und ‘falsche’ Bedeutungen entfacht wird, wird eigentlich immer übersehen, dass Wörter mehrdeutig sind — und dass es oft gar nicht um richtig oder falsch geht. Denn Sprachbenutzung ist generell und grundsätzlich ambiger, als uns bewusst ist — auch in Fällen, die dem Richtig-Falsch-Radar entgehen. Olympiade ist in dieser immerhin offiziellen Formel ein schönes Beispiel für solchne Ambiguität. Sie lässt nämlich mindestens drei Interpretationen zu, unabhängig davon, was Olympiade ‘richtig’ bedeutet. Welche?
- Feiern, wenn man etwas erreicht oder hinter sich gebracht hat:
I’m celebrating the victory over my opponent. - Feiern, was gerade stattfindet:
I’m celebrating Christmas. - Feiern, was konzeptuell Teil von etwas Größerem ist:
I’m celebrating crossing the finish line in a stage of the Tour de France.
In (1) muss der Erfolg schon vorliegen, das zu feiernde Ereignis also zurückliegen. Das entspräche der Verwendung von Olympiade im Sinne ‘zwischen den Spielen’. Damit begann die 30. Olympiade als Periode mit dem Löschen der Flamme in Peking und endete bei Queen Elizabeth.
In (2) fällt es einem schon deutlich schwerer, etwas vergangenes reinzuinterpretieren, weil es pragmatisch unmöglich ist, den Satz sinnvoll zu äußern, wenn man dabei nicht das Fest selbst meint. Die Interpretation von Olympiade als ‘die Spiele an sich’ fällt also in diese Kategorie — wie übrigens auch diese Olympiade (und andere). In einer gelockerten Auffassung von (2) könnte man hier noch die Möglichkeit einbeziehen, dass Olympische Spiele als Abschluss einer Olympiade zu sehen sind (etwa als der Höhepunkt der XXX. Periode olympischer Zeitrechnung).
Und (3) ist wohl jetzt die auf den ersten Blick vielleicht erstaunlichste Interpretation. Kommen wir aber gleich noch zu.
Der Eröffnungsspruch — denn dann wird Olympiade für uns Öffentlichkeit am augenscheinlichsten offiziell gebraucht — lässt also beide Interpretationen von (1) und (2) zu. Beide sind nicht für eine ‘richtig’ und deshalb für die andere ‘falsch’. Ambiguität in der Sprache ist allgegenwärtig, immerhin haben wir ein begrenztes lexikalisches Inventar für ein Vielfaches an zu benennenden Konzepten. Aber Mehrdeutigkeiten fallen uns selten wirklich auf, weil wir einen faszinierend mächtigen Filterapparat haben und kontextabhängig meist die sinnvolle Interpretation wählen.
Olympiade ist also mehrdeutig. Und zwar weit über den gegensätzlichen Zankapfel zwischen oder während hinaus. Denn die Fraktion der Zwischen-Nutzer beruft sich meist auf die etymologische Bedeutung, weil die auf die griechische ‘Zeit zwischen den Spielen’ (Ὀλυμπιάδ-.GEN ‘der Olympiade’) zurückgeht. Damals feierte man die Spiele nach Ablauf von grob 50 Mondmonaten. Dies entspricht etwas unter vier Jahren. Ich habe dazu jetzt nicht tiefer recherchiert, aber es scheint ein Muster zu sein: Spiele, 50 Mondmonate Pause, Spiele. Damit könnte auch in Abwesenheit gröberer Astronomiekenntnisse klar sein, dass die (Sommer-)Spiele irgendwann auch mal im Winter stattgefunden haben müssen. Das tut jetzt zwar eigentlich wenig zur Sache, zeigt aber, dass wir noch eine Bedeutungsschattierung von Olympiade gefunden haben: eine Antike. Die kann heute aber nicht mehr zutreffen, weil in der Neuzeit die klimatischen Bedingungen des Austragungsort einen größeren Einfluss auf die Terminierung von Olympia haben, als die Aktivität des Mondes. So finden Olympische Spiele üblicherweise im Juli oder August statt, auf der Südhalbkugel gerne mal bis Dezember (Melbourne 1956).
Kommen wir zu (3) zurück und gehen zum IOC und dessen Statuten. Dort heißt es unter §6:
The Olympic Games consist of the Games of the Olympiad and the Olympic Winter Games.
‘Die Olympischen Spiele bestehen aus den Spielen der Olympiade und den Olympischen Winterspielen.’
und weiter unter Zusatz [1] und [2]:
[1] An Olympiad is a period of four consecutive calendar years, beginning on the first of January of the first year and ending on the thirty-first of December of the fourth year.
[2] The Olympiads are numbered consecutively from the first Games of the Olympiad celebrated in Athens in 1896. The XXIX Olympiad will begin on 1 January 2008.
‘Eine Olympiade ist eine Periode von vier aufeinanderfolgenden Kalenderjahren, beginnend am ersten Januar des ersten Jahres und endend am 31. Dezember des vierten Jahres.
Die Olympiaden werden durchgehend von den ersten Spielen der Olympiade in Athen 1896 durchnummeriert. Die 29. Olympiade wird am 1. Januar 2008 beginnen.’
(Wichtiges hab ich mal markiert.)
Danach endete die 29. Olympiade am 31. Dezember 2011. Die 30. Olympiade, deren Spiele wir in den letzten Wochen in London gesehen haben, hat gerade mal am 1. Januar 2012 begonnen und — surprise! — dauert noch bis Ende 2015.
Was ganz klar fehlt ist ein Beleg dafür, dass Olympiade beim IOC in irgendeiner Form ‘zwischen den Spielen’ bedeutet — und der Beleg fehlt offenbar für seit [sic] 1896! Was das auch heißt: Es ist in dieser Lesart sogar immer Olympiade, nicht nur bei den 200 oder so Wochen zwischen zwei Austragungen.
Damit kommen wir also zu Möglichkeit (3) von oben zurück, die ich anfangs noch als die überraschendste Interpretationsmöglichkeit vorgestellt habe. Es ist aber die, die nach den Statuten des IOC sogar als die offizielle Interpretation gelten dürfte. In (3) sind Olympische Spiele also Teil einer Periode, die die Spiele selbst inkludiert, also zeitlich überlagert. Und nach dieser Definition kommt eine Bedeutung von Olympiade dazu, die sowohl das während, als auch das dazwischen zulässt. Cool, oder?
Und trotzdem wissen wir mit unserem leistungsstarken Ambiguitätsfilter, dass sich “Ich hab bei dieser Olympiade eine Goldmedaille gewonnen” natürlich auf das während, aber niemals auf das dazwischen oder sowohlalsauch oder gar wasauchimmer bezieht.
Weil ich berufskrankheitsbedingt an mehr Anbiguitäten in Sprache und Sprachwandelprozessen glaube, als viele andere, habe ich Mitleid. Ich glaube ja, dass es unglaublich viel sinnlose Kraft kosten muss, den Ambiguitätsfilter für so viele offensichtliche und frequente Bedeutungen derart konsequent auszuschalten.
P.S.: Ernsthafte Frage: Hat jemand einen nicht-ambigen Video-/Audiobeleg dafür, dass Olympiade im spontanen Sprachgebrauch fürs dazwischen verwendet?