Wer im Internet über alltäglichen Sexismus, Rassismus, Homophobie und andere Arten der Diskriminierung schreibt — zum Beispiel über die sexistische Werbung eines Musikversandhauses oder einer Fluglinie, über spärlich gekleidete Elfen mit Barbie-Körpern in Überraschungseiern für Mädchen, über rassistische Stereotype im beliebtesten Kinderbuch der Welt, über Frauen stereotypisierende Werbung in einer feministischen Zeitrschift, über Radiosendungen über Sexismus, zu denen nur Männer eingeladen werden, usw. –, braucht auf zwei Dinge nicht lange zu warten: Menschen, die feststellen, dass das Beschriebene völlig irrelevant ist und ganz und gar nichts mit „echter“ Diskriminerung zu tun hat und Menschen, die sich empört gegen den vermeintlichen Versuch wehren, ihnen Verhaltensvorschriften zu machen, wo sie doch ganz genau wissen, dass ihr Verhalten keinesfalls diskriminierend sein kann (falls es Diskriminierung in unserer modernen Gesellschaft überhaupt noch gibt).
Da weder die Feststellung noch die Empörung normalerweise mit Argumenten unterfüttert wird und da Erklärungs- und Diskussionsversuchen meist mit einer stumpfen Wiederholung der Feststellungen und der Empörung begegnet wird, steigt mit jedem Mal die Verlockung, diese Menschen als unverbesserliche Dummköpfe oder bösartige Trolle abzuschreiben, ihre Kommentare zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten und sich auch sonst nicht mehr auf Gespräche mit ihnen einzulassen.
Allerdings sind diese Menschen — und zwar ganz unabhängig davon, ob sie tatsächlich Trolle oder Dummköpfe sind — Teil des Systems, in dem die Diskriminierung stattfindet, und dieses System wird sich nicht verändern lassen, solange eine Mehrheit (oder auch nur eine große Minderheit) die Diskriminierung nicht sieht und folglich nicht für real hält. Wir müssen uns deshalb fragen, wo die Ursachen für den Mangel an Verstehen liegen.
Mit dieser Frage beschäftigen sich auch die Soziologinnen Sherryl Kleinman und Martha Copp (2009), die ähnliche Probleme nicht von Blogkommentator/innen sondern aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit Studierenden kennen und die aus deren Reaktionen vier unbewusste und tief verwurzelte Alltagstheorien abgeleitet haben, die das Verstehen von Ungleichheit und Diskriminierung erschweren:
1.) Schaden ist direkt und unmittelbar. Menschen gehen davon aus, dass die schädlichen Konsequenzen einer Handlung sofort eintreten und klar sichtbar sind und dass schädliches Verhalten klar von nicht-schädlichem Verhalten unterschieden werden kann.
2.) Schädliches Verhalten hat psychologische Ursachen. Menschen gehen davon aus, dass die Ursachen für schädliches Verhalten in der Psyche von Individuen zu suchen sind — etwa in bösen Absichten oder in psychologischen Störungen.
3.) Schaden entsteht nur durch absichtsvolles Handeln. Menschen gehen davon aus, dass nur solche Handlungen schädlich sein können, die darauf ausgerichtet sind, jemandem zu schaden, oder die dies bewusst in Kauf nehmen. Verhaltensweisen, die Spaß machen oder Freude bereiten sollen, können dagegen nicht schädlich sein
4.) Schaden kann immer einzelnen Individuen zugeordnet werden. Meschen gehen von einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus, bei dem jeder Schaden auf eine bestimmte Handlungen eines einzelnen zurückgeht.
Aus diesen Alltagstheorien folgen gewisse Vorstellungen darüber, welche Verhaltensweisen schädlich sein können, und welche nicht.
Aus 1.) folgt die Vorstellung, dass Verhaltensweisen ohne sofortige und sichtbare Schäden überhaupt keinen Schaden verursachen. Dass sich hunderte kleiner, nicht sichtbarer Schäden anhäufen und in der Summe zu großen Schäden führen, wird damit ausgeblendet. Aus 2.) und 3.) folgt, dass wohlmeinende und psychologisch unauffällige Menschen keinen Schaden anrichten können und dass gutgemeintes Verhalten keine negativen Konsequenzen hat. Aus 4.) folgt, dass es keine strukturellen Ursachen für gesellschaftliche Schäden geben kann.
Diese Alltagstheorien stören die Diskussion von Ungleichheit, Diskriminierung und sozial schädlichem Verhalten in zweifacher Weise.
Erstens machen sie es denen, die sich dieser Alltagstheorien nicht ausreichend bewusst sind, schwer, Diskriminierung und schädliches Verhalten überhaupt als solches zu erkennen. Nur bewusst verletzendes Verhalten einzelner mit sofort sichtbaren negativen Konsequenzen wird dann als schädlich akzeptiert — also z.B. frauen- oder fremdenfeindliche oder homophobe Beleidigungen oder Gewalttaten. Gut gemeintes Verhalten (Frauen die Tür aufhalten), geschlechtsspezifische Normen (Make-Up, bestimmte Farben und Kleidungsstile), „scherzhaft“ oder „neutral gemeinte“ Verwendungen rassistischer, sexistischer oder homophober Sprache, „geschlechtsspezifisches“ Spielzeug, unrealisische Körperbilder und stereotype Rollenverteilungen in Werbung und Medien usw. werden nicht als Problem erkannt, da sie meist nicht in böser Absicht geschehen, da sie sich in bestehende gesellschaftliche Strukturen einfügen und nicht einzelnen, gestörten Individuen zugeschrieben werden könne, da sie scheinbar keine unmittelbar sichtbaren Schäden anrichten.
Zweitens machen sie es denen, die sich dieser Alltagstheorien nicht ausreichend bewusst sind, schwer, angemessen mit ihrem eigenen Anteil an diskriminierendem Verhalten und diskriminierenden Strukturen umzugehen. Das eigene schädliche Verhalten wird nicht erkannt (ich kann nichts falsch gemacht haben, wenn ich keine böse Absicht hatte), der Hinweise auf struktruelle Ungerechtigkeiten und vor allem auf strukturelle Privilegien wird als persönliche Schuldzuweisung verstanden (da Schaden ja immer Individuen zugeordnet wird).
Bei unseren Diskussionen von Alltagsdiskriminierung sollten wir deshalb darauf achten, diese Alltagstheorien explizit einzubeziehen und deutlich zu machen, dass eine rosa Barbie-Elfen in pornographischer Posen allein oder eine einzelne Anzeige, in der mit rosa Handtaschenklischees für Smartphonetarife geworben wird, kein Mädchen in die Magersucht treiben und keine Frau dazu bringen wird, sich selbst nur an ihrem Potenzial als Sexobjekt zu messen oder auf eine anspruchsvolle Karriere zu verzichten. Dass ein einzelnes Kinderbuch in dem ein schwedischer Trunkenbold und seine narzisstische Tochter über ein dunkelhäutiges Südseevolk herrschen die jungen Leser/innen nicht zu Rassis/innen machen wird. Dass eine einzelne Radiosendung, in der Männer für Frauen sprechen, den Zuhörenden nicht den Eindruck vermitteln wird, dass Frauen nichts Relevantes zu sagen hätten.
Dass diese Dinge aber im Zusammenspiel mit hunderten ähnlicher Erfahrungen daran mitwirken, dass sexistische, rassistische und andere diskriminierende Strukturen aufgebaut und fixiert werden. Und zwar unabhängig davon, ob das beabsichtigt oder auch nur fahrlässig in Kauf genommen wird, und unabhängig davon, ob der Schaden, den diese Strukturen anrichten, in jedem Fall sofort erkennbar ist.
Außerdem müssen wir darüber nachdenken, welche weiteren Alltagstheorien möglicherweise das Verständnis diskriminierender Strukturen behindern. Eine solche Theorie scheint mir z.B. zu sein, dass nur offensichtliche Vorteile als Privilegien betrachtet werden, nicht aber die Abwesenheit von Nachteilen (siehe dazu auch John Scalzis wirklich guten Blogbeitrag).
Welche weiteren Alltagstheorien fallen Ihnen/euch ein?
KLEINMAN, Sherrly und Martha Copp (2009). Denying social harm: Students’ resistance to lessons about inequality. Teaching Sociology, 37(3), 283–293. [Link (Abo/Paywall)]
[Hinweis: Ich möchte hier Alltagstheorien diskutieren, und sonst nichts. Kommentare, die mit dieser Frage nichts zu tun haben und Kommentare, die auch nur Anflüge von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beinhalten, werden gelöscht.]
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Behältermetapher
Problematisch könnte auch sein, dass Menschen dazu neigen, sich selbst in diskrete Kategorien einzuordnen und dann davon ausgehen, dass sie das davor beschützt, gleichzeitig in eine andere Kategorie zu fallen. Die Alltagstheorie hierzu könnte sein: Wenn ich in einem Behälter bin, kann ich nicht gleichzeitig in einem anderen sein. Wenn also jemand sich selbst als netten Menschen einordnet — z.B. weil er der alten Nachbarin beim Einkaufen hilft, ehrenamtlich als Fußballtrainer mit Kindern arbeitet und immer freundlich grüßt — kann er nicht gleichzeitig Rassist/Sexist oder anderes sein, denn “das sind böse Menschen und ich bin ja schon nett” — die sind in einem anderen Behälter als ich, der ich im “netten Behälter” bin. Das könnte durchaus dazu führen, dass selbst nicht ganz harmlos “gemeinte” rassistische oder sexistische Bemerkungen oder Handlungen nicht viel an der Selbstwahrnehmung als gutem Menschen ändern.
Gruppenabsichtsvermutung (Theorie 3x+4x)
Zwar habe ich im Moment keine zusätzliche Alltagstheorie, würde die 3. und 4. etwas erweitern bzw. gegenbüer der individuellen Ebene auch den Gruppenaspekt betonen wollen:
Die ‘Absichtsvoraussetzung’ und ‘eindeutige Schadenszuordnung’ gilt auch dann wenn über Diskriminierung auf struktureller Ebene gesprochen wird. Entsprechend wird man per sehr oft in die verschwörungstheoretischen Ecke geschoben, wenn in der Feststellung struktureller Diskriminierung von Gruppe x durch Gruppe y die Behauptung einer globalen + präzise gezielten Agenda mit klaren und bewussten Absichten vermutet wird.
Ich kann nicht mit einer noch nicht erwähnten Alltagstheorie aufwarten, aber zum Thema Sexismus und Homophobie kann ich jedem Pascoes Buch Dude, you’re a fag* nur anraten. Die Soziologin Pascoe hat für diese Feldstudie 18 Monate an einer kalifornischen High School verbracht, um zu untersuchen wie Männlichkeit konstituiert wird und wie institutionalisierte und obligatorische Heterosexualität und die Homophobie junger Männer sich äußern und mit diesem Männlichkeitsbild in Zusammenhang stehen.
Sie beschreibt sehr anschaulich, wie Ablehnungs- und Bestätigungsrituale junger Männer entstehen und sich verfestigen und dabei sogar von Lehrern und anderem erzieherischen Personal bestätigt und ermutigt werden, oft sogar unabsichtlich.
Das Bild mag in Amerika krasser sein als hier, weil die gesellschaftlichen Umstände etwas weniger progressiv sind als in West- und Nordeuropa, lässt sich aber in Bezug auf die konstituierte Männlichkeit gut auch auf diese Gesellschaften übertragen und skizziert einen der wichtigsten Gründe, warum auch hier sexistische Werbungen à la Lufthansa immer noch ohne gesellschaftliche Empörung in Umlauf gebracht werden und Homosexuelle erst vors Bundesverfassungsgericht ziehen müssen, bis sich ein kleiner Kreis CDU-Abgeordneter pseudo-proaktiv für sie engagiert.
Pascoe, C.J. (2007) Dude, you’re a fag: masculinity and sexuality in high school. Berkeley: University of California Press.
@jgoschler
Damit wären wir einer der beliebtesten (und peinlichsten) Verteidigungsstrategien gegen entsprechende Vorwürfe: “Ich bin selbstverständlich kein Rassist/Antisemit/Homophober/etc., einige meiner besten Freunde sind schließlich Schwarze/Juden/Lesben/Schwule/etc.”
Unterstellt, die Tatsachenbehauptung des zweiten Satzteils trifft zu — ist das nur eine (schlechte) Verteidigungsstrategie, oder ist es tatsächlich eine Alltagstheorie? Anders gesagt: Glauben die Leute tatsächlich, dass der logische Schluss vom Freundeskreis auf die eigene Einstellung zulässig ist?
Eine weitere Alltagstheorie, der ich z.B. öfter mal begegne, wenn ich mit anderen Frauen über Sexismus rede, ist die Annahme, dass etwas, was einen selbst nicht stört, auch andere Menschen nicht stören kann. So kommen oft Aussagen zustande wie “Ist doch kein Problem, dass die Werbung Klischees, wie “alle Frauen sind scharf auf Schuhe”, aufgreift. Schließlich trifft das Klischee auf mich zu, also stimmt es auch. Und ich finde es witzig und auch in Ordnung, in diesem Punkt belächelt zu werden, als sollen sich die Emanzen nicht so haben.”
Und auf eine ähnliche Art und Weise können Menschen, die sich in ihrer starren Gender-Rolle gänzlich wohl fühlen, oft nicht verstehen, weshalb andere Menschen ein Problem damit haben, von den Medien solche Rollenbilder aufgezwungen zu bekommen.
Ich gehöre zu der Sorte Mensch, der bei vielen der genannten Fällen das Problembewusstsein abgeht, bzw. diese für lang nicht so gravierend hält wie Sie und andere. Gleichzeitig halte mich aber für jemanden, mit dem man vernüftig argumentativ diskutieren kann (aber ich gehöre auch nicht zu denjenigen, die häufig Blogposts kommentieren, hier oder anderswo. Daher entschuldige ich mich schon mal vorsorglich, falls auf eine Erwiderung Ihrerseits von mir keine Reaktion mehr folgen sollte.).
Auf mich wirkt die Postulierung der ersten dieser Alltagstheorien wie der Versuch einer Immunisierung der Theorie, dass die kritisierten Verhaltensweisen schädlich sind. Vielleicht tritt ein Schaden nicht sofort ein und nur in Verbindung mit anderen Faktoren, aber wenn eine entsprechende Kausalkette mit einem klar sichtbaren Schaden am Ende nicht geblidet (und vor allem auch empirisch nachgewiesen) werden kann, liegt das Problem m.E. nicht bei denjenigen, die die Problematik abstreiten. Ansonsten kann ich mit genug Kreativität von so ziemlich allem was ein Mensch tut oder lässt schädliche Auswirkungen behaupten.
Die Problematik des letzten Teils der Theorie “dass schädliches Verhalten klar von nicht-schädlichem Verhalten unterschieden werden kann” verstehe ich nicht. Ist es nicht Die Position von Ihnen und anderen Bloggern, die sie verlinkt haben, dass bestimmte Verhaltensweisen — die ich und andere je nach Fall für gänzlich unproblematisch oder zumindest für relativ harmlos halten — klar schädlich wirken (vielleicht nicht für sich alleine, aber in Kombination mit anderen Faktoren)?
Systemtrennung
Ich weiß nicht, ob es vielleicht schon in 4 enthalten ist, aber eine mir häufig begegnende Alltagstheorie ist, dass Diskriminierung grundsätzlich von einer streng abgrenzbaren Gruppe auf eine andere Gruppe ausgeübt wird. Strukturelle Diskriminierung wird dadurch als eine Art Kampf einer Menschengruppe gegen eine andere Missverstanden.
Einmal an die Hauswand Pissen greift den Putz nicht an. Wenn man nun betont, daß vielfaches und regelmäßiges Pissen den Putz irgendwann doch angreifen und zertören wird, ohne daß ihn dabei letztlich ein konkreter einzelner Pisser kaputt gemacht hätte, ist das dann auch schon ein Versuch, die Theorie vom schädlichen Pissen zu immunisieren?
bloß kein Opfer werden
Meines Erachtens spielen die Narrative von Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und vor allem Selbstverwirklichung eine ganz zentrale Rolle.
Ich nehme mal das Beispiel Frauenquote (weils für mich relevant war/ist): Frauen werden dabei häufig zur homogenen Masse gemacht, die einheitlich für (!) die Quote sein sollte, weil es sie ja betrifft. Das schreibt Ihnen zu, sie müssten eigenverantwortlich und selbstbestimmt (und vor allem selber) darum kämpfen, in bestimmte Positionen zu kommen. die Rede ist dann von (mangelnder) Frauensolidarität.
Zugleich hat die Quote aber irgendwie auch sowas wie die Konnotation einer “Opfer-Hilfe” erfahren. Deswegen können sich viele (v. a. junge) Frauen damit nicht identifizieren, weil sie es ja selbst (durch Leistung, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung etc.) schaffen wollen (und sollen). bleibt man in der Logik der Selbstverwirklichung, verhindert Opferhilfe die wahre Selbstbestimmung.
Diese Narrative “ich kann alles erreichen, was ich will” verdecken Diskriminierung in mehrfacher Hinsicht:
a) werden diejenigen, die es geschafft haben, sich gegen Diskriminierung zu wehren, durch dieses Narrativ manchmal blind für Diskriminierung (ich habs geschafft, also kann es jede schaffen)
b) werden sie zum Feigenblatt für Diskriminierung (Wir haben ne Kanzlerin, also kann es jede schaffen)
c) folgt daraus: wenn Du es nicht schaffst, liegt es an Dir (und nicht an Strukturen etc).
Vielleicht eine weitere Alltagtheorie: Menschen, die von Diskriminierung selbst betroffen sind, können nicht “objektiv” darüber diskutieren. Im Gegensatz dazu wird die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft/der priviligierten Gruppe als neutral dargestellt/wahrgenommen.
Es wird dabei so getan, als betreffe Diskriminierung nur die Gruppe, gegen die sie sich richtet. Das dialektische Verhältnis von Über- und Unterpriviligierung wird dabei völlig ignoriert. Daher können z.B. Deutsche ohne Migrationshintergrund sich einbilden, sie könnten die Lage von Einwanderern/Menschen mit MH objektiv und fair bewerten, während sie Äußerungen der Betroffenen selbst parteiisch, eigennützig und einseitig abtun.
David: Nö, aber angeblich soll ja schon das Beharren auf den Nachweis eines klar sichtbaren Schadens (meinetwegen auch durch mehrfache Wiederholungen einer bestimmten Handlung, oder durch das Zusammenwirken verschiedener Handlungen) problematisch sein.
@jgoschler (Behältermetapher)
Das stelle ich genau so in meinem (erweiterten) Umfeld fest: “Du irrst dich, wenn du meine Witzeleien als sexistisch empfindest, weil ich ja links wähle.”
@Robroy
Woraus schließen Sie das?
Vielleicht nicht stark genug, eine eigene Alltagstheorie zu sein, doch ich beobachte oft den Versuch, die Diskriminierungen und Vorteile verschiedener Gruppen als gleichwertig zu definieren. “Klar ist es doof als Schwuler nachts allein um seine Gesundheit fürchten zu müssen, aber dafür dürfen die viel mehr Gefühle zeigen.” “Aber Behinderte dürfen billiger Bus fahren, das gleicht doch aus, dass sie an der Hälfte der Haltestellen gar nicht reinkommen.”
In Anlehnung an Joachims Beitrag würde ich noch die folgende Alltagstheorie formulieren: Die Mitglieder einer Gruppe können durch ihr Verhalten nicht zur (strukturellen) Diskriminierung der eigenen Gruppe beitragen. Oder anders herum: Wenn einzelne Mitglieder einer Gruppe etwas tun, kann es nicht schädlich für diese Gruppe sein.
Auf den Punkt / Westliche Überlegenheit
Lieber Herr Stefanowitsch,
danke das Sie Themen die mir am Herzen liegen, so wunderbar auf den Punkt bringen. Heute zum Beispiel wurde mir gesagt “ob ich auf dem Feminismustrip hängengeblieben bin, Frauen in D erleben sone Dinge nicht.” Solche Aussagen bringen mich fast zur Weißglut. Die Strukturen zu verstehen halte ich auch für sinnvoller, als die weitverbreitete Meinung “Trolle” einfach zu ignorieren. Allerdings frage ich mich ob denn jede Feministin einen Lehrauftrag für Unverbesserliche hat, denn es kostet doch sehr viel Kraft und hat selten Erfolg. Ich habe Ihren Beitrag übrigens gern auf meinem Blog verlinkt. http://lippyanswer.blogspot.de/…woche-mukke.html
Zum Thema:
Eine weitere Alltagstheorie ist vielleicht in der westlichen Überlegenheit und dem Demokratieverständnis zu finden. Die Ansicht, dass zum Beispiel im aufgekärten Deutschland die Emanzipation rechtlich abgeschlossen ist, niemand gefoltert oder poltisch verfolgt wird, lässt vielleicht Manche zu dem Schluss kommen, dass sexistische und rassistische Äußerungen in D keine direkten Auswirkungen haben. Es geht uns doch gut. Die Frauen dürfen hier doch sogar Autofahren. Was Ihnen fehle, ist lediglich der Humor [sic!]
@Dilettant @Joachim
Eure Gedanken weitergeführt:
Angehörige einer Gruppe, die Diskriminierungen ausgesetzt ist, diskriminieren selbst nicht, würde dann die Alltagstheorie lauten.
Höflichkeit unter Mitmenschen
“Gut gemeintes Verhalten (Frauen die Tür aufhalten)”
Ich finde dieses Beispiel als extrem ungünstig, da ich das Aufhalten von Türen in keiner Art und Weise als diskriminierent empfinde. Woher soll eine Frau, der ich die Tür aufhalte, wissen, ob ich ihr jetzt die Tür aufhalte, weil sie eine Frau ist, oder weil ich dies bei jedem machen würde?
Ich jedenfalls halte allen Menschen (Männern, Frauen, Kindern, Alten, …) die Tür auf, falls es sich anbietet.
Ich habe die Tendenz beobachtet, normales zwischenmenschliches Verhalten als Diskriminierung auszulegen, falls es nicht dem eigenen Weltbild oder den eigenen Wünschen entspricht.
Zustimmung!
Keine weitere Alltagstheorie, aber eine Bestätigung, dass das ein guter Ansatz ist, um Verhalten zu erklären. Aus meiner eigenen Gender-Studies-Praxis heraus kenne ich folgendes Debattenfragment nämlich nur zu gut:
Ich: Und hier sehen wir, dass soundsoviel Prozent der Frauen und soundsoviel Prozent der Männer in Teilzeit arbeiten. Für mich ist das auch ein Hinweis darauf, dass hier bestimmte Vorstellungen über Geschlechterrollen herrschen.
GesprächspartnerIn: Na, aber die werden doch ihre Gründe haben, sich für Teilzeit zu entscheiden. Ich kenne da zum Beispiel Frau X, da war das einfach klar, dass sie in Teilzeit geht und er voll weiterarbeitet. Das hat in deren Lebensplanung gut reingepasst.
Ich: Das Problem ist nicht die einzelne Entscheidung, aber das, was in der Summe dabei herauskommt. Die Strukturen, die sich aus den vielen individuellen Entscheidungen ergeben — und dann eben in Zahlen wie diesen abbilden.
GesprächspartnerIn: Aber das kann doch jeder selbst entscheiden.
Ich: Argh!
Sowas wie die “individualistic fallacy” oder so. Und ein wichtiger Grund, warum es Soziologie geben muss.
Ich glaube, in Bezug auf Diskriminierungsdiskussionen ist die Alltagstheorie vieler Menschen: “Das ist doch eh nur so ein linker Scheiß!”
Ich glaube, dass Lagerdenken da tatsächlich eine große Rolle spielt.
Aber das ist nur die eine Hälfte.
Das eigentliche Problem, das ich auch sehe, ist, dass Diskussionen um Diskriminierung nie nur über Diskriminierung gehen. Es geht dabei eben auch um gesellschaftliche Deutungshoheit. Ich meine das jetzt ganz neutral und nicht polemisch: In Diskriminierungsdebatten werden Machtfragen verhandelt.
Das sieht man alleine schon daran, über welche Diskriminierungen geredet wird und über welche nicht. Nach meiner Einschätzung sind das in absteigender Reihenfolge:
— Diskriminierung nach Geschlecht
— nach “Rasse”/Ethnie/Herkunft
— nach sexueller Orientierung
— nach Behinderung
Ganz selten z.B. wird über Diskriminierung von äußerlich unattraktiven Menschen geredet (die es ja nachweislich gibt). Ich habe letzthin sogar von einer Studie gelesen, in der der Nachweis geführt wurde, dass Einzelkinder bessere Karrierechancen hätten als Geschwisterkinder. Das ist eine Diskriminierung über die gar nicht geredet wird. Schlussendlich: Wenn jemand käme und sagte: “Ich werde diskriminiert, weil ich katholisch bin”, wäre, so prophezeihe ich, bei vielen die Reaktion nicht Mitleid, sondern Häme.
Ich glaube, es täte der Diskussion gut, wenn sie weniger verbissen geführt würde, wenn wir alle etwas entspannter sagen würde: “Diskriminierung passiert immer und überall. Wenn wir uns alle anstrengen, kann sie weniger werden. Aber ganz tot kriegen wir sie nie.”
@Dilettant
Die glauben das.
Das Phänomen der Selbsttäuschung — einer notwendigen Strategie, um [halbwegs] erfolgreich durchs Leben zu kommen — lässt darauf schließen: Wir sehen uns selbst als nett, hilfreich, moralisch gut, richtig denkend. Selbst Leute, die Menschen anderer Herkunft verprügeln oder ihre [Not]Unterkünfte anzünden und hoffen, dass auch einige der Bewohner verbrennen, halten sich nicht für böse, ja, nicht einmal für Rassisten. Ihr Argument lautet immer ‘Ich habe nichts gegen Ausländer, wenn sie in ihrem Land bleiben.’
Der US-amerkinaische Satiriker Stephen Colbert hat daraus einen running gag gemacht; er zeigt ein Foto von sich, er grinst darauf breit, hält ein Mitglied irgendeiner “Minderheit” im Arm und zeigt auf diese … ‘Mein Freund der Mexikaner/Indianer/Schwarze/Franzose/etc.!’
@BVG-Insasse: Zum Thema ‘Tür aufhalten’
Ich kann da eine prima Geschichte zum Besten geben, wie sexistisch aufgeladen für manche Menschen ein simples ‘Tür-aufhalten’ ist.
Ich war mal mit Kollegen auf einem Betriebsausflug und sind Stärkung in ein Café eingekehrt. Beim Rausgehen war ich in ein Gespräch mit Kollegen vertieft, die hinter mir gingen und bekam so nicht mit, dass ein Gastwissenschaftler vor mir die Tür aufhalten wollte.
Ich griff also automatisch selbst zur Tür und machte mir auf, bevor der Kollege vorauseilen und es für mich tun konnte. So weit, so unspektakulär.
Anschließend aber meinte besagter Kollege ’scherzhaft’ zu mir, er hätte mir ja liebend gerne die Tür aufgehalten, aber dass es die deutschen Frauen ihm echt schwer machen würden galant zu sein, weil die so verdammt emanzipiert seien und alles selbst machen müssten.
Ich hab dem Typen dann ganz klar und laut ins Gesicht gesagt, dass Frauen eben nicht dazu da seien, um sein Überlegenheitsgefühl zu befriedigen und dass es ja wohl sein höchsteigenes Problem wäre, wenn er sich an emanzipierten Frauen stört.
Es geht nicht um das ‘Tür aufhalten’ an sich, sondern die Intention die dahinter stecken kann, nicht muss. Ich halte grundsätzlich auch jedem Menschen, die Tür auf, der/die hinter mir geht. Aber ich beziehe daraus kein Überlegenheitsgefühl oder starre anschließend der betreffenden Person anerkennend auf den Hintern.
Tür aufhalten
Ich finde die Diskussion zum Thema “Tür aufhalten” sehr aufschlussreich und daher das Beispiel sehr gut gewählt.
Verstehe ich Sie, Ludmilla, richtig, dass Sie den Versuch des Gastwissenschaftlers, Ihnen die Tür aufzuhalten, an sich nicht als diskriminierend interpretiert hätten, sondern zu dieser Einschätzung erst durch dessen “scherzhafte” Verbindung des Vorfalls mit dem Emanzipationsthema gelangt sind?
Schiefe-Ebene-Argumentation
Hm … ist die Argumentation, “dass sich hunderte kleiner, nicht sichtbarer Schäden anhäufen und in der Summe zu großen Schäden führen […]” nicht eine noch schwächere Variante des Schiefe-Ebenen-Argumentes und damit selbst eine eher ein Argumentationsmuster der Alltagstheorie? Ich weiß noch aus dem Philosophie Studium, dass der Schiefe-Ebenen-Argumentation (zumindest von meinen Profs) immer mit großer Skepsis begegnet wurde.
Daher würde ich selber immer eher eine Argumentation bevorzugen, bei der ich eine moralisch-ethische Position beziehen, wohl wissend, dass ich da ggf. Gefahr laufe, dass die als überzogen betrachtet wird. Ich finde es besser für die Positionen einzutreten, die man für richtig hält und ggf. damit über’s Ziel hinauszuschießen. Grenzen ziehen, auch wenn sie evtl. nicht konsistent sind.
Ob es in unserem Kulturkreis Katholiken gibt, die echt diskriminiert werden, sei nochmal dahingestellt, aber wenn dem so ist, stießen diese wahrscheinlich in der Tat auf weniger Mitleid, weil sie sich einer religiösen Gruppe angeschlossen haben, die in ihrer Geschichte nach allen Regeln der Kunst diskriminiert und ausgegrenzt hat und dies auch heute noch tut.
Im Übrigen erlebt man in vielen Diskussionen (v.a. in den USA aber in abgeschwächter Version auch hier) um die Homoehe immer wieder, dass Gläubige sich diskriminiert fühlen, weil sie sich daran gehindert fühlen, die “traditionelle” Ehe zu “schützen” und ihren Glauben auszuleben, d.h. andere zu diskriminieren und benachteiligen zu wollen.
Behältermetapher andersrum
Theorie: “Man kann jemanden in eine bestimmte Gruppe einordnen ohne dadurch automatisch gleich die gesamte Gruppe zu diskriminieren.”
Ich habe lange nach einer knackigen Formulierung für diesen an sich eher banalen Sachverhalt gesucht und bin mit dem Ergebnis nicht zufrieden, daher eine kurze Erläuterung aus meiner eigenen Erfahrung:
Als in der Schweiz lebende Deutsche bin ich Teil einer großen und recht unbeliebten Minderheit und fühle mich deswegen häufig diskriminiert.
Was mich bei vielen kleineren und auch einigen größeren Vorfällen dabei am meisten stört ist, dass “wir Deutschen” ja keineswegs eine so homogene Gruppe sind, wie wir hier häufig dargestellt werden.
Natürlich bin ich Deutsche (in meiner Erfahrung fällt man dadurch in der Schweiz vor allem sprachlich, aber auch in einem deutlich konfrontierenderen Verhalten in Konfliktsituationen auf), aber außerdem bin ich noch alles mögliche andere: ich bin eine Frau, habe eine sexuelle Orientierung, einen Beruf, einen familiären Hintergrund, politische Ansichten, Hobbies, Interessen usw.
Auf Dauer ist es wirklich verletzend, ständig als Teil einer Gruppe wahrgenommen zu werden, die es in meiner Lebenswirklichkeit einfach nicht gibt.
Wie gesagt, das sind keine Gedanken von unauslotbarer Tiefe, aber wenn es denn mal tatsächlich zu Diskussionen kommt endet es meistens an diesem Punkt.
Für Vorschläge, das griffiger zu formulieren bin ich dankbar.
Grundlegend schön-schwierige Prämissen
Ich lese diskriminieren mit der modernen Bedeutung des Etymologischen Wörterbuchs des Deutschen als “jmdn. absondern, ihn durch unangemessene, unwürdige Behandlung in den Augen der anderen herabsetzen”. Und dann ergeben sich für mich drei ganz andere, grundlegendere Alltags- und Wissenschaftsannahmen, die das Verständnis oder besser die Beseitigung diskriminierender Strukturen behindern.
1. Diskriminierung entstehe aus Ungleichbehandlung von Gruppen. Daraus leitet man nämlich ab, dass Gleichbehandlung dieser Gruppen die Diskriminierung beseitige. Da man aber nun ständig auf die Verteilung zwischen den Gruppen achtet, wird die Unterscheidung ob des gruppierenden Merkmals verallgemeinert und damit die Diskriminierung teils erst geschaffen, jedenfalls aber perpetuiert und oft verstärkt.
Würde man hingegen die Gruppierung vermeiden — dann verschwände die Bedeutung der entsprechenden Unterscheidung. Das ist zwar schwer umzusetzen, aber zumindest in Ansätzen möglich. Man muss etwa in Werbung oder Presse dann Differenzen innerhalb der Gruppe betonen — statt Gruppen gegeneinander zu stellen.
2. Ungleichheit bedeute Mehr- oder Minderwertigkeit. Daraus leitet man nämlich ab, dass jede Differenzierung auch zu einer Bewertung führt und damit zur Abwertung einer Gruppe und zur Aufwertung der anderen Gruppe.
Würde man hingegen etwa mit Konfuzius jede Ungleichheit als Andersartigkeit und damit als Entwicklungschance begreifen — dann wäre keine individuelle oder gesellschaftliche Eingruppierung diskriminierend. Das ist zwar schwer zu vermitteln, aber zumindest in Eigenarbeit möglich. Man muss etwa in Wissenschaft oder Politik dann auch Andersdenkende akzeptieren — statt sie abwertend zu belehren.
3. Privilegien seien zwingend diskrimierend. Daraus leitet man nämlich ab, dass jedes Privileg zu beseitigen ist. Dann wird auf die Privilegien aber besonders geachtet und ihre gesellschaftliche Wirkung über diese Achtung oft mitbegründet oder verstärkt.
Würde man hingegen etwa mit dem Taoismus die zwingende Verbindung aller Privilegien mit der entsprechenden Verpflichtung betonen — dann wäre kein Privileg mehr diskriminierend. Das ist zwar schwer umzusetzen, aber zumindest wirtschaftlich möglich. Man muss etwa im Helfen oder Dienen dann auch Freude empfinden können — statt immer Lohn zu fordern.
Dann wird die Lösung der Probleme aber deutlich komplizierter und wir kommen mit unseren üblichen, überwiegend auch oben dargestellten Kategorien nicht weiter. Wir müssen dann etwa diskutieren was Schaden ist. Wir müssen aufhören ständig auf irgendwelche Diskriminierungen hinzuweisen oder gar positive Diskriminierungen einzuführen — denn mit Beidem wirken wir an der Diskriminierung kräftig mit.
Wir können dann anstrengend schön erleben, dass man von jedem Wesen etwas lernen kann — so trollig oder dumm es auch sein mag, es ist in vielem besser als wir es sind. Und das gilt auch für kleine Äußerungen und oft für scheinbar besonders trollige oder dumme. Und wir können von denen, die in einem Stereotyp gern leben, ebensoviel lernen wie von denen, die ihn kategorisch ablehnen. Und wir können (etwa an der Tür, beim Spielzeug oder in der Kleidung) mit den Rollen spielen, können beide erleben und werden merken, dass wir dadurch erst uns vervollständigen.
Und dann spüren wir vielleicht: Diejenigen, die scheinbar alles erreicht haben, die haben in Wirklichkeit nichts erreicht. Diejenigen aber, die scheinbar nichts erreicht haben, die haben in Wirklichkeit viel erreicht. Und diejenigen, die jeden Augenblick mit kindlicher Neugier leben, die erreichen alles — auch die Lösung aller Strukturprobleme unserer Gesellschaft(en).
Nachfrage an Pechmarie
Pechmarie schrieb: “Theorie: “Man kann jemanden in eine bestimmte Gruppe einordnen ohne dadurch automatisch gleich die gesamte Gruppe zu diskriminieren.”
Ist das Ihres Erachtens eine Alltagstheorie, die das Verständnis diskriminierender Strukturen behindert? Würde es also das das Verständnis diskriminierender Strukturen befördern, wenn man sich klar machte, dass man mit jeder Einordnung eines Individuums in eine Gruppe aufomatisch die gesamte Gruppe diskriminiert? Wenn Sie das so gemeint haben, wäre ich anderer Auffassung. Das zu begründen möchte ich aber erst unternehmen, wenn ich mir sicher bin, dass Sie es so gemeint haben.
@ Elaria: Lehrauftrag
Allerdings frage ich mich ob denn jede Feministin einen Lehrauftrag für Unverbesserliche hat, denn es kostet doch sehr viel Kraft und hat selten Erfolg.
Das müssen Sie schon selbst entscheiden. Je wichtiger Sie es finden, dass mehr Leute das mit der Diskriminierung und dem Privileg verstehen, desto eher werden Sie sich selbst einen solchen Lehrauftrag geben. Auch wenn es eine ziemlich frustrierende Sisyphus-Arbeit” sein kann.
Mir geht so, dass ich Themen, die mir wichtig sind, in Wellen mal mehr mal weniger aktiv beackere. Da die eigenen Bemühungen ja sowieso nur ein Tropfen im Ozean ist und für sich genommen nicht viel bewirken, kann man sich die Ruhephasen auch gönnen, in denen man weniger aktiv ist. Wenn genügend Leute an demselben Seil ziehen, wird sich am Ende doch etwas bewegen, und wenn es lange dauert.
@Phaeake
Sie haben’s erfasst. Genau das war die Crux an der Situation.
Der Einer-ist-schuld-Mythos
Wichtig zu betonen scheint mir, dass es in der Alltagstheorie wichtig zu sein scheint, dass immer nur EINE Person schuldig sein kann, nie beide oder verschiedene Seiten. Das berühmte “Du hast angefangen”. Wobei ein “Du hast aber mitgemacht.” oder ein “Du hast es nicht verhindert.” unterschlagen wird. Zwei Sätze, die viele völlig verwirren, weil die Schuldzuweisung in die Absurdität geführt wird.
Ich denke, dahinter steht die religiöse Vorstellung von individueller Schuld (und Sühne).
Ich würde Anatol im großen und ganzen beipflichten. Wir müssen wirklich mal genauer hinschauen, wie diese häufigen Missverständnisse bei Diskussionen über Diskriminierung entstehen. In letzter Zeit ist wohl die Gender-Diskussionen besonders prominent, aber eine Meta-Diskussion, die alle möglichen Arten von Diskriminierung in Zusammenhang betrachtet, scheint mir durchaus notwendig.
Was mich stört, ist dass Anatol unterschwellig folgenden Kontext vorgibt:
Die verlinkten Blogartikel (Die Raummaschine, Dr.Mutti, Sprachlog, antiprodukt, Mädchenmannschaft) beschreiben die jeweiligen Diskriminierungen richtig und bewerten sie angemessen, die “empörten” Kommentatoren dagegen sind jedoch unverständig.
Anatol spitzt es noch weiter zu: Die Kommentatoren erst machen die Diskussion so gut wie unmöglich (Zitat Anatol: “Da weder die Feststellung noch die Empörung normalerweise mit Argumenten unterfüttert wird und da Erklärungs- und Diskussionsversuchen meist mit einer stumpfen Wiederholung der Feststellungen und der Empörung begegnet wird, steigt mit jedem Mal die Verlockung, diese Menschen als unverbesserliche Dummköpfe oder bösartige Trolle abzuschreiben, ihre Kommentare zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten und sich auch sonst nicht mehr auf Gespräche mit ihnen einzulassen.”)
Mich stört noch etwas anderes: Anatol hebt besonders hervor, dass das “Verstehen von Ungleichheit und Diskriminierung” bei den besagten Kommentatoren erschwert sei. Ich bezweifle aber, dass hier tatsächlich das Verstehen im Vordergrund steht. Meines Erachtens geht es durchaus um subjektive Einschätzungen – nicht bloss um die Wahrnehmung von Unterscheidungen. Das Wort Diskriminierung ist da doppelsinnig. Es bedeutet eben auch: Benachteiligung. Anatol irrt, wenn er meint, dass es hier in erster Linie um Verständnisprobleme geht. Es geht immer auch um ein Abwägen von Vor- und Nachteilen, ein Prozeß des gesellschaftlichen Aushandelns. Natürlich darf er sich in diesem Blogartikel auf das reine Verständnisproblem beschränken, das allein finde ich noch nicht kritikwürdig. Die von ihm zitierten Kleinmann und Copp sprechen aber explizit von “Schaden”. Das ist eindeutig ein wertender Begriff, und es macht keinen Sinn, die Beurteilung eines Schadens auf die Frage des “Verstehens” zu reduzieren.
Ich sehe sogar die Gefahr, dass durch diese Reduktion neue Missverständnisse in der ohnehin schon schwierigen Diskussion provoziert werden könnten.
Sehr gut lässt sich das Problem in Anatols Formulierung von “Alltagstheorie” Nr.1 erkennen:
1.) Schaden ist direkt und unmittelbar. Menschen gehen davon aus, dass die schädlichen Konsequenzen einer Handlung sofort eintreten und klar sichtbar sind und dass schädliches Verhalten klar von nichtschädlichem Verhalten unterschieden werden kann.
Wenn aber schädliches Verhalten nicht klar von nichtschädlichem Verhalten unterschieden werden kann, gerät die Diskussion AUTOMATISCH in eine schwierige Lage. Zunächst müsste mit geradezu objektiver Gewissheit bewiesen werden, dass überhaupt ein Schaden vorliegt. Andernfalls machst es keinen Sinn, anderen ein mangelndes Verständnis zu unterstellen. Diese behauptete “Alltagstheorie” ist gut dazu geeignet, sich um Beweise herumzudrücken. Man sagt einfach: Der Schaden ist “nicht direkt und unmittelbar”, wer ihn nicht erkennt, ist von seiner Alltagstheorie fehlgeleitet.
Die folgenden “Alltagstheorien” 2 und 3 sagen eigentlich das gleiche (ich sehe jedenfalls keinen Unterschied). Auch Anatol fasst sie im Verlauf des Blogartikels zusammen. Ich glaube, dass diese “Alltagstheorien” tatsächlich weit erbreitet sind. Aber eigentlich betreffen sie sehr viele Diskussionen. Leute fühlen sich durch die Meinung des anderen persönlich angegriffen, auch wenn das nicht gewollt war.
“Alltagstheorie” 4. finde ich ähnlich kritisch wir Nr.1. Muss gerade los, vielleicht führe ich das heut abend näher aus.
Interessanter Artikel …
… interessante Einwände von stefle.
Vor allem sollte man sich immer vor Augen halten, dass man sich selbst genauso leicht wie das Gegenüber von diesen Alltagstheorien blenden lassen kann.
wenn die leute sich freiwillig gegenseitig zerfleischen, wer nun mehr privilegien hat oder wer auf der straße knutschen oder hallo sagen darf usw., dann feuen sich die machthaber, denn niemand rückt ihnen auf die pelle. die guten menschen beschäftigen sich lieber damit, niemandes gefühle zu verletzen.
aber wehe es sagt einer, das sei laborieren am nebenwiderspruch.
“Opfer als bessere Menschen”-Theorie
Eine weitere Alltagstheorie, die mir schon häufiger begegnet ist, lässt sich ungefähr formulieren als
a) “Menschen, die Opfer von Diskriminierung sind, sind dafür die moralisch besseren Menschen.”
bzw. daraus folgt dann auch
b) “Menschen, die Opfer von Diskriminierung sind, müssen sich als die moralisch besseren Menschen verhalten.”
Um fürs Erste bei der sexistischen Version dieser Theorie zu bleiben, die ich als Frau zwangsläufig am Besten kenne: Das wäre die Annahme, dass Frauen von Natur aus kooperativer, friedliebender, fürsorglicher die besseren Chefinnen oder die besseren Politikerinnen wären. Das Unschöne daran ist, dass eine solche Theorie durchaus häufig von Menschen mit feministischen Grundüberzeugungen kommt, die nicht sehen, dass sie sich damit in eine schwierige Ecke manövrieren. Denn wenn ich bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten nur deshalb hätte, weil ich eine Frau bin, hieße das ja im Umkehrschluss, dass ich andere genau deshalb nicht habe. Und schon hat man wieder alles Mögliche als natürlich begründet, was ich zumindest nicht für natürlich halte.
Hinzu kommt, dass diese Theorie selbst auch noch auf andere Art zur Basis von Diskriminierung werden kann, nämlich dann, wenn b) greift, also wenn daraus der Anspruch abgeleitet wird, dass eine Menschengruppe, gegen die diskriminiert wird, sich selbst moralisch aber gefälligst einwandfrei zu verhalten habe.
Um kurz noch beim Sexismus-Beispiel zu bleiben: Verhalten, das bei einem Politiker für machtpolitisch normal gilt, wird bei einer Politikerin in den Medien viel schneller als “eiskalt” und machtbesessen verurteilt, weil es als ‘unweiblich’ verstanden wird. Ist zumindest mein (statistisch zugegebenermaßen gerade nicht weiter untermauerter) Eindruck.
Aus diesem moralischen Anspruch ergibt sich gleich noch eine weitere Alltagstheorie:
c) “Menschen, gegen die diskriminiert wird, dürfen selbst nicht diskriminieren. Tun sie es doch, ist die Diskriminierung gegen sie völlig gerechtfertigt.”
Das ist dann keine Form von Naturalisierung mehr sondern eher eine Form von “die müssten das doch besser wissen”.
Damit meine ich etwa Aussagen, die ich schon von eigentlich sehr klugen und tendenziell links wählenden Menschen gehört habe, die aber finden, Muslime in Deutschland wären deshalb ein Problem, weil unter ihnen Sexismus und Homophobie so weit verbreitet seien. Mein Eindruck ist bei solchen Aussagen, dass Sexismus und Homophobie von Menschen aus muslimisch geprägten Längern in eine völlig andere und viel grundsätzlichere Kategorie eingeordnet wird als Sexismus und Homophobie von, sagen wir, Menschen, die schon seit Generationen im selben norddeutschen Dorf leben. Bei den einen werden problematische Einstellungen direkt als Grund benutzt, sie hier nicht haben zu wollen — bei den anderen nicht.
Möglicherweise ist das genau betrachtet alles eine Form von Alltagstheorie 3, dass Schaden nur durch absichtsvolles Verhalten angerichtet werden kann, also nicht durch wohlmeinendes. Diese Form von zunächst wohlmeinender Theorie kann aber eine Menge Schaden anrichten.
@RRohleder, @All: Besser gibt es nicht
Zu Ihrem c hätte ich eine ‘Umkehrung’, die in der Gesellschaft allgemein akzeptiert ist — bis hinauf zu höchsten Politikern, Journalisten (siehe Spiegel-Beitrag) oder Juristen (siehe das Urteil in Sachen des NPD-Vorsitzenden Voigt, wobei das Verhalten des Hoteliers wahrscheinlich aber unbewiesen auf eine Initiative des Landes zurückgeht):
¬c) Menschen, die diskriminieren, dürfen diskriminiert werden.
Damit ist aber auch gesagt, dass wir eigentlich nicht gegen Diskriminierung sind — sondern nur für eine andere Diskriminierung. Und das ist ein (aus meiner Sicht) typisch deutsches Problem…
Aber das liegt daran, dass wir Andersartigkeit überhaupt nicht vertragen können. Und zwar generell nicht — denn angeblich gibt es eine richtige Lösung. Das betrifft auch — und jetzt begebe ich mich bewusst auf heikles Terrain — den sogenannten Sexismus. Ein Französin meinte einmal bei einem Deutschland-Besuch: Kein Wunder, dass Ihr keine Kinder habt.
Deutsche Männer sollen wie deutsche Frauen sein und deutsche Frauen wollen wie deutsche Männer sein — so jedenfalls die offizielle Ansicht. Als Mann verliere ich dort fast alles. Und zwar nicht, weil ich damit Macht, Prestige oder Ansehen verlöre — die lasse ich sowieso lieber Anderen, denn sie sind mir zu langweilig. Nein, weil damit Chancen der Begegnung verschwinden, Chancen für die vier Freuden pro Tag, Chancen meiner Entwicklung. Wenn die Frauen in meinem Leben genauso borniert gewesen wären wie ich — dann wäre ich ja immer noch derselbe. Wie traurig. Und wie unlebendig.
Ich will aber leben. Ich will mich entwickeln. Und ich will von Macht wegkommen, von Einseitigkeit und von Verachtung. Aber das kann ich nicht allein — dazu bin ich viel zu menschlich. Ich brauche dazu das Andere, ich brauche dazu die ‘Idioten’ und die ‘Trolle’ ebenso wie die ‘Wissenschaftler’ und die Weisen. Ich brauche alle Menschen und die Diskussion mit Ihnen, ihre Nachsicht und ihre Geduld aber auch ihre Härte und ihre Ungeduld. Sie müssen auch menschlich sein, denn sonst friere ich. Und dann schalte ich in den Verteidigungsmodus, dann bin ich unbarmherziger Tiger…
Aber darum freue ich mich eigentlich über die von Ihnen angeführte Kritik gewisser Politiker als ‘eiskalt’, als ‘machtbesessen’ oder als ‘berechnend’. Ohne diese Störung durch eine Frau hätten wir Männer nie unsere Fehler erkennen können, es wäre immer so weiter gegangen. Nun aber — so meine Hoffnung — nun können wir den Schatten der Macht sehen. Und ihn bekämpfen. Und wenn es ein paar Männer gibt wie diesen ‘Casper’ — ja dann sehen wir hoffentlich auch die Nachteile reiner ‘Weiblichkeit’. Und dann erkennen wir vielleicht mit der Bibel, dass jede Sache ihre Zeit hat, und jedes Verhalten.
Zu den Alltagstheorien nur aus dem Blog noch folgende Vorschläge:
d) Menschen, die klug sind, diskriminieren weniger.
e) Menschen, die links wählen, diskriminieren weniger.
f) Menschen, die belehren wollen, diskriminieren nicht.
Dass sie alle falsch sind, das scheint mir offensichtlich. Aber sicher diskriminiere ich auch damit schon wieder — habe ich doch dumm ebenso vergessen wie Mitte oder Rechts, und wie sieht es mit Erklären aus?
David: Da steht: “Menschen gehen davon aus, dass die schädlichen Konsequenzen einer Handlung sofort eintreten und klar sichtbar sind und dass schädliches Verhalten klar von nicht-schädlichem Verhalten unterschieden werden kann.”
Herr Stefanovitch hält es also offenbar für problematisch, wenn Menschen davon ausgehen, dass der Schaden einer Handlung nur gegeben ist, wenn ein solcher sofort eintritt (soweit kein Einspruch) und wenn Leute an einen Schaden nur glauben, wenn ein solcher klar sichtbar ist (hier widerspreche ich, dieses Kritefium halte ich keinesfalls für zu viel verlangt).
@ kathy über “kein Opfer sein”
*zustimm*, kenne ich auch.
Eine Ergänzung: Das “ich kann alles erreichen was ich will”-Narrativ spielt mE nicht immer eine so zentrale Rolle, wennn Frauen gleichstellungspolitische Maßnahmen von sich weisen. Oft haben sie das Gefühl, durchd diese Maßnahmen als irgendwie defizitär angesprochen zu werden. Zum Beispiel wenn es Seminar extra für Frauen zum Thema “Selbstmarketing” oder “selbstbewusst reden” gibt. Mich stört das zB, obwohl ich glaube, das Frauen strukturell benachteiligt sind und das aktiv bekämpft werden soll. Das wäre vieleicht eine weitere Variante, wie Diskrimminierung versteckt und stabilisiert wird: selbst die Aktivitäten, die strukturelle Benachteiligung bekämpfen sollen, fangen an, an vermeintlich persönlichen Defiziten herumzudoktorn. Zumindest ergibt sich diese Assoziation schnell.
Eine These, diverse Fragen
Ich denke, eine wesentliche Alltagsthese ist auch “wenn es häufig ist, ist es normal; wenn es normal ist, ist es okay oder zumindest akteptabel”. Eine dazu passende Rechtfertigung, die vielleicht auch etwas von einer Alltagsthese hat, ist “ich hab die Welt nicht so geschaffen, aber ich muss in ihr leben und will keine Nachteile dadurch haben, dass ich auf normales Verhalten verzichte”. Kürzer und ähnlich ist die Rechtfertigung “das machen doch alle/die meisten/viele so”.
Wenn man mit der breiten Masse schwimmt, erwartet man dafür keine Kritik; wenn man sie dann doch zu hören bekomm, scheint sie ungerecht. Ein Teil der Abwehrhaltung mag darin liegen, dass man für etwas kritisiert wird, das man bislang nicht als falsch gesehen hat und das allgemein verbreitet ist — “wieso werde ausgerechnet ich für etwas kritisiert, das gang und gäbe ist”.
Verschärfend gibt es noch Fälle, in denen das, was Fehlverhalten mit sich bringt, trotzdem beliebt und erfolgreich ist. Ein Beispiel wären solche Werbeanzeigen, die auf der Erfahrung beruhen, dass Männer auf sexuelle Reize reagieren und mit einer knapp bekleideten Frau etwas Angenehmes verbinden (und damit auch mit dem Umfeld). Nachteilig dürften solche Anzeigen erst dann werden, wenn in der Gesellschaft der Reflex weit verbreitet ist “was für eine schändliche Art, Werbung zu machen”. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Aussage einer heterosexuellen Freundin von mir, die meint, dass sie Werbeanzeigen mit knapp bekleideten Frauen denen mit knapp bekleideten Männern vorzieht — weil der weibliche Körper einfach ästhetischer sei. Ein interessanter Fall von gesellschaftlicher Prägung.
Ein anderes Beispiel für erfolgreiches Fehlverhalten sind die oft finanziell profitablen Romantic Comedies: Abgesehen von dümmlichen Rollenklischees ist auch das Beziehungsverhalten und ‑verständnis in diesen Filmen absolut pathologisch. Ich halte Romantic Comedies (und erst recht Arztromane) für das Beziehungsverhalten schädigender als die meisten Arten von Pornographie. Von anderen erfolgreichen Fällen wie “Twilight” und “50 Shades of Grey” will ich gar nicht erst anfangen…
@Ludmila: Vielleicht war besagter Mann auch in einem Rollenbild gefangen, nämlich dem, dass er, um höflich zu sein und “richtig zu handeln”, der Frau die Tür aufhalten muss. Wenn es nicht dazu kommt, ist es sein Fehler, weil er es nicht getan hat, er hat sich falsch verhalten und fühlt sich schuldig. Um diese Schuld zu mindern, weist er mit seiner “scherzhaften” Bemerkung im Subtext darauf hin, dass er es eigentlich besser weiß und dass er sich auch gerne richtig verhalten hätte, aber die Möglichkeit nicht hatte.
Ich habe auch als Kind gelernt, dass man Frauen die Tür aufhält (nicht explizit beigebracht bekommen, sondern durch Beobachtung und Kontext), und assoziiere dieses Verhalten mit Respekt. Inzwischen halte ich jedem, der direkt nach mit zur Tür kommt, die Tür auf — es ist für den anderen vielleicht ein bisschen bequemer, hat aber auch etwas mit “ich hab Dich gesehen, Du bist es wert, dass man Dich wahrnimmt, und dass man sich für Dich bemüht” zu tun. Überlegenheit fühle ich nicht wirklich, eher das gute Gefühl, etwas Richtiges getan zu haben. Insofern war die Reaktion auf seine Bemerkung vielleicht (und ich betone vielleicht) nicht gerecht — weil er sein Verhalten komplett anders verstanden hat.
Soziologisch-Psychologisch Problematisch
Diskriminierung werde beseitigt, indem man sie benennt oder bekämpft.
Wäre nochmal die aus meiner Sicht problematischste These, die auch im Kommentar von @MoebiusAL vorkommt — und dort auch widerlegt wurde. Denn was man bekämpft, das beobachtet man so stark, dass man es vertieft. Und weil viele ja in diesen so beobachteten ‘überkommenen’ Rollen glücklich scheinen, darum wächst auch die Sehnsucht danach — trotz rationaler Aversion.
Viel sinnvoller ist daher der Versuch, Alternativen vorzuleben — persönlich, in den Medien, in der Politik etc. Werden doch so Rationalität und Intuition versöhnt. Dann dürfte es mit dem Einwurf von @AW etwa aber nicht nur Seminare für Frauen geben, sondern auch Seminare für Männer und Seminare für Gruppen. Aber an der ‘Positiven Diskriminierung’ will ja niemand rütteln — und damit nicht am Vorbild für jede Diskriminierung.
Diskriminierte oder ‘Opfer’ seien schwach.
Jedenfalls in dauerhaften (Gruppen)Beziehungen ist das aber nicht der Fall, sondern oft das Gegenteil. Wer immer eigenes Können beweisen muss, der ist schwach. Wer hingegen den eigenen Teil zum Gelingen eines Projektes und des Gruppenlebens beiträgt, der ist stark — auch wenn sein Wirken im Verborgenen bleibt, oft gerade dann. Und wenn mann/frau das nicht merkt, dann oft ob fehlender Erfahrung mit dem Gegenteil oder ob Selbstverliebtheit. Wer etwa nicht immer nur aber doch auch einmal auf gute Assistenz zurückgreifen konnte, der weiß was ich meine. Aber das Prinzip ist viel allgemeiner.
Diese Situation ändert man nicht durch Bemitleiden oder durch Einsatz gegen etwas — nein viel effizienter durch Vorleben persönlicher Schwäche trotz situativer Stärke und Anerkennen persönlicher Stärke trotz situativer Schwäche. Im asiatischen Kulturkreis ist das übrigens ganz klar: Jede Führungsperson ist das nur wegen und mit der geleiteten Gruppe. Daher respektiert und schätzt man sich gegenseitig.
Diskriminierung werde durch Verhaltensänderung beseitigt.
Diskriminierend ist aber wie schon @Ludmila ansprach nicht das Verhalten selbst, sondern die damit verbundene Intention. Und @MoebiusAL hob treffend hervor, dass es mehr um die Interpretation der Verhaltensintention geht als um die wirkliche Intention. Und darin liegt gerade in Deutschland ein großes Problem, denn unser Fühlen ist nicht so frei — und darum kann das wirkliche Fühlen des Handelnden nicht gut von Anderen rezipiert werden, es fehlt das Mitfühlen (siehe nebenan beim MPI). Und damit müssen hier ob des Diskriminierungsrisikos viele Handlungen unterlassen werden, die anderswo normal sind (und dort weder diskriminierend gemeint sind noch so erlebt werden). Das ist aber ein Teufelskreislauf, denn damit fühlt man noch weniger mit und muss immer noch mehr Handlungen unterlassen.
Viel sinnvoller wäre der Austausch von Einstellungen und Fühlen. Damit würden sich die Gruppen nämlich annähern, die Beziehung sich auch durch ‘Streit’ vertiefen und mit der Sicht auf den Anderen auch das Verhalten zum Anderen ganz automatisch und tiefgreifend ändern. Und vor allem würden sich gerade unsere Kinder dann ebenfalls das Wichtigste abschauen: das Interesse an anderen Meinungen und Menschen.
Neuer Vorschlag für Alltagstheorie
Ich habe mir gerade sehr interessiert die bisherige Diskussion durchgelesen und dabei eine Alltagstheorie noch nicht gefunden, die ich auch für relevant halte. Man könnte sie auch als die “Merkel-Theorie” bezeichnen und etwa so formulieren: “Dass wir jetzt schon eine Frau als Bundeskanzler(in) haben, zeigt ja wohl, dass Frauen in unserer Gesellschaft alles erreichen können, wenn sie wollen.”
Das interessante an dieser Theorie ist, dass sie deutlich macht, dass prominente weibliche Führungspersonen möglicherweise eine zwiespältige Rolle in der Diskriminierungsentwicklung habe können. Denn andererseits hört und liest man ja immer wieder, dass es für junge Frauen gerade wichtig sei, wenn es erfolgreiche Rollenvorbilder gäbe, an denen man sich als selbstbewusste (und eventuell karrierebewusste) Frau orientieren könne.
Gleichzeitig kann eine Zunahme solcher weiblichen Führungspersonen auch dazu führen, dass die Diskussion um die Diskriminierung von Frauen zurückgeworfen wird, weil sich so ein neuer “Beleg” für die Gleichstellung der Frauen in unserer heutigen Gesellschaft findet. Dass es sich bei diesen wenigen weiblichen Führungspersonen natürlich um krasse Ausnahmen handelt, wird dann leicht übersehen, weil sie eben so leicht wahrnehmbar sind (und jede Besetzung einer wichtigen Führungsrolle mit einer Frau von den Medien auch ausführlich aufgegriffen und kommentiert wird, siehe DAX-Vorstandsposten).
Man könnte diese Alltagstheorie also auch “Informations-Verfügbarkeitstheorie” nennen, weil es darum geht, wie leicht verfügbar bestimmte Indikatoren für Gleichstellung bzw. Diskriminierung von Frauen sind. Und Angela Merkel ist eben nun mal eine sehr leicht verfügbare Information, während Statistiken zu Frauen in Führungspositionen schon deutlich schwieriger verfügbar sind (und deshalb von sehr viel weniger Menschen genutzt werden).
Zu Punkt 1 (direkter Schaden)
Wenn Menschen denken, dass nur direktes und unmittelbares Handeln schädlich ist — wie entstehen dann Sprichwörter wie “Steter Tropfen höhlt den Stein” oder Bilder wie das vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt?
Offenkundig ist den meisten Leuten doch bewusst, dass kleine Ursachen auf Dauer Wirkung zeigen können. Mir leuchtet jedenfalls Punkt 1 nicht ein.
Sind nicht Linkshänder “strukturell” beachteiligt? Also durch gesellschaftliche Normen, und nicht durch indiduelles Verhalten? Würde ich doch meinen!
Und können Verfechter von “Alltagstheorie 4” das nicht erkennen?
Fühlen die sich deshalb persönlich angegriffen, wenn man sie auf Benachteiligung der Linkshänder hinweist?
Weil Alltagstheorie 4 ihnenen sagt: Benachteiligungen MÜSSEN IMMER individuell, d.h. durch ungute Absichten einzelner, verursacht sein.
@Phaeake
Jetzt, wo Sie direkt nachfragen, muss ich sagen, dass das wirklich ungeschickt formuliert ist.
Ich argumentiere natürlich zurzeit stark aus der Sicht einer Betroffenen, d.h. was mich nervt ist, dass ich permanent auf meine Situation als “Deutsche in der Schweiz” reduziert werde, obwohl ich mich selbst (zumindest bevor ich ständig in diese Kategorie eingeordnet wurde) nie primär als solche betrachtet habe.
Für mich persönlich gibt es diese Gruppe überhaupt nicht, obwohl es natürlich in der Schweiz wirklich sehr viele Deutsche gibt, die offenbar von der Mehrheitsbevölkerung (bzw. den deutschsprachigen Schweizer Medien) als eine sehr einheitliche Gruppe wahrgenommen werden.
Hier kann ich leider wirklich nur für mich selbst sprechen: für mich gibt es tatsächlich ein Gruppengefühl von “Expats”, mit dem ich mich irgendwie identifizieren kann, eine “deutsche Gruppe” gibt es nicht, obwohl ich regelmäßig als “Sauschwob” oder “Schisdytschi” angefeindet werde.
Ich verkehre sehr viel mir anderen Ausländern (aber eben auch einer ganze Menge von Leuten, die meine diversen Interessen unabhängig meiner Nationalität teilen), wenig mit anderen Deutschen.
Wie gesagt, ich finde, dass meine Versuche diesen Sachverhalt griffig zu formulieren kläglich scheitern, doch glaube ich, dass ich mittlerweile zumindest ansatzweise nachvollziehen kann, was für Zumutungen man als Türke oder Türkin in Deutschland vermutlich häufig ausgesetzt ist.
Das lernt man wohl selbst erst, wenn man mal Teil einer der eher unpopulären “Minderheiten” ist.
Angst als alleinige Quelle?
@Pechmarie brachte mich gerade auf eine oben allenfalls angerissene, aber nicht wirklich benannte Alltagstheorie, die aber einigem im Beitrag von Anatol Stefanowitsch widerspricht.
Diskriminierung selbst ist sozial schädlich.
Ist es doch vermutlich genau anders herum — Diskriminierung erfüllt eine sehr wichtige soziale Funktion und darum ist sie sozial nützlich, jedenfalls für eine Gruppe.
Entsteht die (meiste) Diskriminerung doch aus der Angst, den eigenen Status, die eigene Funktion oder das eigene sichere Nest (teils) zu verlieren. Das passt nämlich sehr gut zu meinen Kenntnissen über die Schweiz — die von @Pechmarie angesprochene Verachtung gegen den gemeinen Deutschen ist danach wohl neueren Datums und entstand erst mit dem wirtschaftlichen Abstieg der Schweiz.
Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr scheint mir Angst die Grundlage jeder Diskrimination zu sein. Das würde nämlich viele Unterschiede zwischen Nationen erklären und auch zwischen Gruppen oder Personen. Denn Angst gibt es nur, wenn man um Ressourcen konkurriert — wenn man sich ergänzen kann und für jeden Platz ist, dann fehlt die Angst und mit ihr schwindet wohl auch die Diskriminierung.
Aber dann ist es noch weniger sinnvoll, gegen das Symptom zu kämpfen. Denn rein psychologisch muss dann die Angst verdrängt werden und wächst darum irrational. Also sollten wir die Angst bekämpfen, statt sie durch Verängstigung, Bestrafung oder Verhöhnung der Ängstigen zu fördern…
@Noyt der Tiger
Klar haben die Schweizer Angst,
im meiner Erfahrung in erster Linie um ihre VERDAMMT SCHÖNE SPRACHE:
zB Mani Matter http://www.youtube.com/watch?v=G83PIixn0iM
oder http://www.youtube.com/watch?v=yhNUdU1q7hM
(mit Übersetzung) es Zundhötzli natürlich nicht vergessen…
beides bärndütsch
oder vollkommen willkürlich von der Schnitzelbängg 2012(Basel)
http://www.youtube.com/watch?v=NLCxHcbYOk8 baseldytsch
Und sie haben damit vermutlich auch recht.
Das tragische daran ist, dass die viele Deutsche in der Schweiz die Schweizerdeutschen Dialekte (mit etwas Übung) ohne größere Probleme verstehen und auch gerne sprechen lernen würden, aber die allgemeine Meinung dazu ist: “Wenn Deutsche Schweizerdeutsch sprechen wollen, dann müssen sie das perfekt tun.” (aus dem Gedächtnis zitiert aus Qualitätspublikationen wie 20 Minuten oder Blick am Abend).
Von 0 auf 100 ohne Übung geht halt leider nicht.
@Pechmarie @Noyt der Tiger
@Pechmarie
Danke für die Erläuterung. Vielleicht stellt folgende Aussage auch eine Alltagstheorie dar, die das Verständnis von Diskriminierung erschwert: Jede pauschalierende Aussage über eine Gruppe ist eine Diskriminerung.
Ich finde ihre Berichte als Deutsche in der Schweiz sehr aufschlussreich. Und auch in meinen Augen stellen Anfeindungen und Beschimpfungen wie die von Ihnen zitierten ganz klar eine Diskriminierung dar, die durch nichts zu rechtfertigen ist.
Dass allerdings die Schweizer die deutschen Gastarbeiter als Gruppe einheitlicher wahrnehmen als die Gruppenmitglieder sich selber sehen, scheint mir ein allgemein gültiger gruppenpsychologischer Mechanismus zu sein, der noch keine Diskriminierung ist. Wer mit Musik wenig am Hut hat, sieht “die Musiker” gerne als homogene Gruppe. Die Musiker selber sehen himmelweite Unterschiede zwischen Rock‑, Pop‑, Jazz- und klassischen Musikern. Letztere sehen gewaltige Differenzen zwischen Streichern und Bläsern, etc.
Natürlich ist es mäßig intelligent, wenn ein Nichtmusiker sagt: Die Musiker sind ein lustiges Völkchen, gehen nach der Probe gerne einen trinken, sind sensibel etc. Aber ist das Diskriminierung?
@Noyt der Tiger
Es hat nicht unmittelbar was mit Diskriminierung zu tun, aber es würde mich schon sehr interessieren, woran sie den “wirtschaftlichen Abstieg der Schweiz” festmachen. An dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 81.000 US-$ (zum Vergleich Deutschland: 43.000 US-$)? An jährlichen Wirtschaftswachstumsraten um die 2,5%? An Arbeitslosenquoten um die 4%? An einer Inflationsrate um die 1%? Daran, das so viele Deutsche in der Schweiz arbeiten?
@Pechmarie,@Phaeake: Angst-Gruppierungen
Ich bin ganz bei Ihnen, @Phaeake und wohl prinzipiell auch @Pechmarie: Nicht jede Gruppierung ist Diskriminierung, was ich oben mit These 2 ausdrücken wollte. Und auch Verallgemeinerung ist menschlich.
Phaeakes Musiker-Beispiel ist aber aus meiner Sicht bezeichnend: Warum erleben die Musiker das denn überwiegend nicht als Diskriminierung und warum sehen wir als ‘Gesellschaft’ das ähnlich unproblematisch? Aus meiner Sicht, weil wir vor Musikern keine Angst haben, weil die uns Nicht-Musikern durch ihr Können keine Ressourcen streitig machen. Musiker sind anders, nicht besser und nicht schlechter, sie ergänzen uns.
Darum aber ist die Verallgemeinerung ‘Künstler’ diskriminierungsbezogen schon sehr viel problematischer, dort kommt es nämlich auf die Perspektive an.
Das Konkurrenz-Problem wird besonders kompliziert, wenn es um Sprache geht. Ich habe lange in Frankreich gelebt und kann Französisch mittlerweile zwar nicht ganz ohne Akzent (dazu habe ich viel zu spät angefangen), aber doch fast wie meine Muttersprache — und so gut, dass man mich im Süden für einen Franzosen hielt (und teils auch im Deutschen). Dennoch gab und gibt es Situationen, wo ich bestimmte Begriffe nicht kenne, insbesondere Namen (Tiere, Pflanzen etc.). Im Deutschen wären die mir irgendwie klar. Ich hatte damit kein Problem, ich wusste um meine Mängel ebenso wie um meine Qualitäten. Und die Franzosen hatten damit überwiegend auch keines.
Aber, und deswegen das Beispiel, wer sich in seinen Chancen beschränkt sah oder in seinen Kompetenzen angezweifelt, der versuchte dann doch, mich mit meinem ‘unvollkommenen’ Französisch abzuwerten. Das war nicht systematisch möglich, weil die kritische Zahl von Deutschen dort nicht überschritten ist und ich doch in Stil und Schrift meist mehr als nur mithalten konnte (ich durfte die Sprache im Grande-Ecole-Umfeld abschauen). In der Schweiz hingegen gibt es mittlerweile sehr viele Deutsche — und vor denen hat man Angst, und das Schweizerdeutsch ist ja eher gesprochene Sprache in der es nach meinem Wissen nicht so sehr auf komplizierten Stil ankommt. Darum kann man sich wohl nur über die Aussprache als besser definieren und bestätigen.
Dass das mittlerweile nötig scheint, hat aus meiner Sicht drei Hauptgründe.
1. Die Schweizer lernen Deutsch als Fremdsprache — wenn auch sehr früh und dann im gesamten Schulbetrieb. Dennoch ist ihre Verwurzelung in der Sprache nicht gleichermaßen breit und ihre Sprachfertigkeit im Hochdeutschen darum oft etwas gehemmt, gerade auch bei hochintelligenten Schweizern. Und dann sind denen halt mündlich auch weniger kompetente Deutsche überlegen.
2. Die Schweiz ist ein recht kleines Land — wenn sie also wie bisher die besten Akademiker auf die jeweiligen Stellen besetzt, dann sind das mittlerweile oft Deutsche, einfach weil die Anzahl der Deutschen nun mal rein statistisch zu einer absolut größeren Zahl guter Absolventen führt. Und die Schweiz zahlt gerade im Bildungssystem auch gut, weshalb nicht wenige Deutsche dorthin auswandern.
3. Auch als Antwort an @Phaeake: Die Schweiz hat zwar im Außenvergleich kein wirtschaftliches Problem, aber im Inneren. Soweit ich das mitbekommen habe, sind die Zeiten vorbei, wo etwa das Schweizer Rentensystem jedem Schweizer ein solides Auskommen garantieren konnte. Mittlerweile riskieren auch dort viele die Altersarmut — und damit kommt Angst auf, die sich mangels sichtbarer oder besser erkennbarer Feinde in der Nation auf die Ausländer richtet, bevorzugt auf jene, die einem selbst am ähnlichsten sind…
Ihre Prämisse, sehr geehrter Herr Prof. Stefanowitsch, ist ja offenbar, dass eine Mehrheit oder große Minderheit Diskriminierungen (lediglich) nicht sieht. Das mag für die “kleine Diskrimierung im Alltag” zutreffen: Die aufgehaltene Tür, der unbedachte Scherz usw. Darüber hinaus — so würde ich behaupten — wird sehr bewusst diskriminiert: Wenn schon ein “falscher” Nachname ausreicht, eine Mietwohnung nicht zu bekommen, wenn ganzen Bevölkerungsgruppen nur geringe Berufschancen eingeräumt werden, haben wir es schlicht mit absichtlichem Verhalten zu tun. Und die “Diskriminierer” wissen das sehr wohl; ihre “Empörung” ist gespielt. Es ist die Empörung der Ertappten.
@Baumeister: Sicher bewusste Absicht?
Sind Sie wirklich sicher, dass die ‘Empörung’ nur gespielt ist? Ich möchte das nämlich bezweifeln und zwar aus mehreren, überwiegend psychologischen Gründen. Und das sind Entkräftungen von Alltagstheorien.
Zunächst falsch: Wir könnten rein rational entscheiden.
Als (Vertrags)Partner suchen wir natürlich passende Menschen. Und selbst wenn wir versuchen rationale Kriterien anzuwenden, wir bewerten dieses Passen vielmehr über unsere Gefühle. Schon ein Name kann unbewusst schlechte Gefühle erzeugen und dabei ist egal, ob sie berechtigt sind — jeder kann das mit Vornamen sehr gut nachvollziehen: Trägt eine Begegnung den Vornamen einer uns bekannten sympathischen Person, dann wirkt auch die neu begegnete gleich netter (oder anders herum) Und das kann niemand unterdrücken, ja nicht einmal wirklich korrigieren ohne ausgiebige Kenntnis der Person.
Weiterhin falsch: Wir könnten ganz Unbekannten vertrauen.
Beruf und Team aber beruhen auf Vertrauen. Und wirkliches Vertrauen kann nur zu Personen entstehen, die wir kennen. Zwar kennen Arbeitgeber nicht Jeden, aber doch bestimmte Gruppen. Dort können sie also anhand gewisser Kriterien vertrauen. Die diskriminierten Gruppen hingegen kennen sie — zumindest in der jeweiligen Position — oft nicht oder weniger oder falsch. Denn sie wissen nur selten die kulturellen Differenzen auszugleichen. Bekannt ist diese Phänomen etwa zwischen Geschlechtern: Werden nämlich Frauen wie Männer bewertet, dann schneiden sie bei identischer Qualifikation oft deutlich schlechter ab — etwa weil sie bei ihren Kenntnissen und Fähigkeiten statistisch meist eher unter- denn übertreiben. Ähnliches gilt zwischen Osteutschen und Westdeutschen. Und die kommen alle aus einer vergleichbaren Kultur — bei anderen Bevölkerungsgruppen wirken da noch ganz andere Faktoren mit und niemand kann das wirklich kompensieren.
Schließlich falsch: Kommunikation sei rein sachlich möglich.
Jeder Kontakt aber erfordert Kommunikation, und selbst sachliche Aussagen führen oft zu Missverständnissen. Umso mehr, je weniger man über den Anderen weiß. Es kommt also zwischen (Vertrags)Partnern schon allein der Kommunikation wegen zu vielen Problemen. Und diese Probleme wachsen mit dem fehlenden Kulturverständnis erneut. Was etwa bei uns direkt gesagt werden darf, darf in Frankreich nur angedeutet werden. Und das ist umso problematischer, als unsere Gesellschaft insgesamt (und die Wirtschaft insbesondere) auf konfliktfreie Kommunikation ausgelegt ist. Man darf nicht streiten, sondern muss gute Mine zum bösen Spiel machen. Damit aber bilden sich interne Gräben, die irgendwann auch die Fassade einstürzen lassen. Dürften wir streiten und sähen die daraus wachsende Beziehungstiefe als Chance, dann wäre auch Diskriminierung weit weniger verbreitet.
Die Empörung ist also oft echt, auch wenn der Empörte sich unbewusst trotzdem ertappt fühlen mag. Nur liegt dort ein weiteres Problem unserer aktuellen Diskriminierungsbekämpfung: Jeder, der ‘ertappt’ wird, gilt in den Augen der Gesellschaft und oft auch den eigenen als schlecht. Sein Selbstbewusstsein wird gekränkt — und das umso mehr, als er allein doch gar nichts ändern konnte. Damit wächst aber die Angst, etwas falsch zu machen — und mit ihr wachsen alle drei oben genannten Probleme…
Wir erreichen also heute oft das Gegenteil des Gewollten — und langfristig bewegen wir uns dann auf den Weg der Hypokrisie zu, wie er heute schon in Amerika weiträumig herrscht oder in angelsächsisch geprägten Unternehmen in Deutschland. Diesen Teufelskreislauf können wir nur an der Wurzel unterbrechen — und damit durch Aufgaben unserer falschen Grundlagen-Prämissen, denn: Wenn wir alle Gruppen verstehen lernen, dann passen wir zu allen. Wenn wir alle Gruppen kennen, dann können wir allen vertrauen. Wenn wir uns mit allen Gruppen austauschen, dann können wir mit allen Missverständnisse verringern. Und dann nehmen wir allen die Angst vor dem Unbekannten und damit den inneren Grund der Diskriminierung…
@jgoschler Behältermetapher
Kurz vorab: Thx an den Macher für diesen Blogbeitrag.
Für mich ist er nicht nur so erhellend, da einleuchtend (die Alltagstheorien), so hilfreich, sondern auch bewegend, denn er führt vermutlich eine Jede und einen Jeden, die/der hier aufmerksam liest, dahin, als erstes mal vor der eigenen Tür zu kehren, wenn es um Vorurteile und Diskriminierung geht.
Und ja, je mehr ich lese, reflektiere, suche, welche Alltagstheorien auch mich vielleicht zur Akteurin von (evt. unabsichtlicher) Diskriminierung Anderer werden lassen, desto mehr Beispiele finde ich im eigenen Tun und Denken.
Ich möchte die Behältermetapher von @jgoschler erweitern um die Kategorie “Liebende”, Familie.
Sie hatte als gutes Beispiel Menschen, die sich in die Kategorie “netter Mensch” einordnen und sich eben drum, weil sie sich als “nett, hilfreicht etc.” einordnen, sich nicht gleichzeitig auch der Kategorie: diskriminierend zuordnen (können), obwohl sie es evt. sind.
Noch gravierender (und ebenso ‘alltagsüblich’) dürfte dieses Phänomen in Familienverbänden und unter ‘Liebenden’ vorkommen.
“Ich liebe eine/n…(man füge beliebig ein: z.B. Schwulen, Farbigen, …” = ich kann unmöglich diskriminierend sein gegenüber …(man füge wieder beliebig ein:…) oder “Ich bin Mutter/Vater/Tante/Cousin…”
Hier dürfte der eventuell stattfindende Selbstbetrug, bzw. das fehlende Erkennen um so gravierender sein, weil das Entsetzen über die Erkenntnis vielleicht größer wäre/ist.
Hier ein paar Alltagstheorien von Julia Schramm, passend zum Thema Diskriminierung.
http://juliaschramm.de/…und-poststrukturalismus/
Das Posting zeigt, wie man es sich schön einfach machen kann. Typische Strohmann-Argumentation. Verbunden mit einem schwer erträglichen Wissenschaftlichkeitsgehabe.
Sisyphusaufgabe
Zitat:
“unabhängig davon, ob der Schaden, den diese Strukturen anrichten, in jedem Fall sofort erkennbar ist.”
-> Allein darunter fallen eine unzählige Menge von Begebenheien und Abläufe. Und wenn man den Blickwinkel (also die Intenzion) wechselt, gibt es wiederum tausende anders zu bewertende Einflüsse und Zielsetzungen.
Das Problem ist: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Aber gehobelt werden muß trotzdem. Aber schon richtig: Man solle das eben üben, damit möglichst wenig Späne anfallen.
Ein bischen Anmaßend und “realitätsfern” erklärt aber diese Aussage, dass es tatsächlich schwer sei:
kein (sozialer, kognitiver oder sonstwie erforderliche) Umgang (sprich Kontakt), keine (spezifische) Diskrimminierung.
Das aber scheint nicht einzurichten zu sein.
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Diskrimminierung sei in diesem Sinne (wie oben beschrieben) manchmal tatsächlich nur dann zu bestehen (subjektiv), wenn umgehend eine (negative) Folge daraus interpretiert werden kann oder sich ergibt. Der Erkenntnis im Wege stehend sei hier leider die naturgemäß beschränkte Bandbreite für Objektivität und RealitätEN (also plural). Meinen Erkenntnissen zufolge kann man dabei aber über neurologische Methoden und begleitenden therapeutischen Maßnahmen eine “Besserung” herstellen. Eine begleitende therapeutische Maßnahme wäre eben der Artikel oben (und seine Pendants in den Medien und Öffentlichkeit). Also Gehirnwäsche durch permanente “Bereitstellung” von Informationen (dieser Art).
Trunkenbold
Ich würde in Frage stellen, dass die Verwendung des Wortes “Trunkenbold” dazu beiträgt, Einsichten in die Problematik der Alkoholabhängigkeit und des gesellschaftlichen Umgangs damit zu generieren.
Gut, das war auch nicht Thema des Artikels. Dann würde ich es anders formulieren:
Ich glaube, dass die Verwendung des Wortes “Trunkenbold” dazu führt, Personen, die alkoholabhängig sind, zu diskreditieren. Meines Erachtens ist das falsch, als dass Alkoholabhängigkeit wie alle anderen Suchtabhängigkeiten, nicht allein ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Problem darstellen. Besonders in den Reaktion auf “Trunkenbolde” zeigt sich, wie die Gesellschaft sich ein korrektes Leben vorstellt. Um die rassistischen Untertöne/ die rassistische Struktur von Pippi Langstrumpf zu kritisieren, muss man nicht andere gesellschaftliche Hierarchisierungen aufmachen.
Ich formuliere es noch weiter zugespitzt:
Trunkenbolde, Asoziale, Schmarotzer etc. sind gesellschaftliche Zuschreibungen, die spezifische Personen als gesellschaftlich nicht wertvoll, oder: minderwertig, oder: lebensunwert (mit Bezug auf die NS-Ideologie) qualifizieren.
Nun könnten wir — sofern sich bei diesem Kommentar eine Abwehrreaktion zeigen sollte — die vier Kategorien von Copp und Kleinman darauf anwenden. 😉
Rechtschreibpedanz
Danke für diesen Artikel zu einem mich brennend interessierenden Thema!
Ohne mich in die Diskussion einmischen zu wollen: In Zeile sechs ist beim Wort “Zeitschrift” ein “r” verrutscht.
Dieser Kommentar kann gerne wieder gelöscht werden, trägt er doch nichts weiter Sinnvolles bei 🙂
Die “ich habe Recht”-Theorie
Die “ich habe Recht”-Theorie geht folgendermaßen:
Ich habe Recht. Ich habe eine privilegierte Sicht auf die Probleme der Welt. Ich kann den Finger in die soziale Wunde legen. Wenn meine Meinung in mehr Köpfen wäre, dann gäbe es in der Welt weniger Schmerz. Deswegen rede ich mit möglichst vielen Menschen, um alle auf meine Seite zu bringen. Denn meine Seite ist der Fortschritt, und sollte sich durchsetzen.
In meinen Augen sind das die Grundzüge einer sehr weit verbreiteten Theorie, mit der sich sehr viele Menschen von anderen abgrenzen und gegenüber anderen erhöhen.
Leider ist ist diese Theorie strukturell Gewalttätig, was oft nicht eingesehen wird.
die “Ich habe Recht Theorie”
Die “ich habe Recht”-Theorie geht folgendermaßen:
Ich habe Recht. Ich habe eine privilegierte Sicht auf die Probleme der Welt. Ich kann den Finger in die soziale Wunde legen. Wenn meine Meinung in mehr Köpfen wäre, dann gäbe es in der Welt weniger Schmerz. Ich will weniger Schmerz, die anderen wollen mehr Gewalt. Deswegen rede ich mit möglichst vielen Menschen, um alle auf meine Seite zu bringen. Denn meine Seite ist der Fortschritt, und sollte sich durchsetzen.
In meinen Augen sind das die Grundzüge einer sehr weit verbreiteten Theorie, mit der sich sehr viele Menschen von anderen abgrenzen und gegenüber anderen erhöhen.
Leider ist ist diese Theorie (auch wenn sie das Gegenteil wünscht) strukturell gewalttätig, was wohl oft übersehen wird.