Heute habe ich einen Buchtipp für euch: THE COMPLEAT ENGLISH GUIDE FOR THE GERMANS a.k.a. Der vollkommene Englische Weg=Weiser für die Deutschen. Erschienen 1715 in Leipsick/Leipzig.
Das ganze Buch ist superspannend, aber ich bin gleich bei den Aussprachehinweisen hängengeblieben. Das geht auf Seite 1 los, klassischerweise mit
A
Da gibt’s eine ganze Menge Beispielwörter mit Aussprachetipps für Deutsche, so z.B.
- face ‘Gesicht’ → fähs,
- blame ‘Schuld’ → blähm.
Ein modernes Lehrbuch würde hier eher fäis und bläim vorschlagen, also Diphthonge (Zwielaute). Das liegt nicht daran, dass der Autor keine Ahnung von englischer Aussprache hatte (er war immerhin “Englische[r] Sprach=Meister in London”), sondern daran, dass das Englische sein Vokalsystem im Verlauf seiner Geschichte ganz kräftig durchgerüttelt hat.
So begann unser face seine Karriere im Englischen um 1300 herum, als es aus dem Französischen einwanderte (steckt auch in den frz. Wörtern façade ‘Fassade, Front’ und en face ‘frontal, gegenüber’). Die damalige Aussprache war mit (langem) a. Gegen 1500 verwandelte es sich in ein offenes ä − in IPA: [æ:] −, gegen Mitte des 17. Jahrhunderts haben wir ein geschlosseneres ä − in IPA: [ɛ:] −, Mitte des 18. Jahrhunderts ist ein e: draus geworden und erst Mitte des 19. Jahrhunderts finden wir das heutige [eɪ].
A wie Aufstieg
Das klingt erstmal recht willkürlich, hat aber ein gewisses System: Der Laut kämpft sich im Mundraum immer weiter nach oben, wie hier zu sehen:
Das Lehrbuch von Beginn des 18. Jahrhunderts gibt also einen älteren Aussprachestand wider, den mit [ɛ:], das man im Deutschen prima mit <ä> verschriften kann.
Andere Vokale
Die ersten Schritte dieser Umwälzung des Vokalsystems heißen auf Englisch Great Vowel Shift (wörtlich ‘Große Vokalverschiebung’). Sie betraf neben dem langen a auch die anderen mittelenglischen Langvokale (vgl. Pyles 1971:188; Odenstedt 2000:97; Freeborn 1998:301):
- [e:] > [i:], z.B. feet ‘Füße’
- [ɛ:] > [e:] > [i:], z.B. speak ’sprechen’
- [i:] > [əɪ] > [aɪ], z.B. ride ‘reiten’
- [o:] > [u:], z.B. boot ‘Stiefel’
- [ɔ:] > [o:] > [ɔʊ] > [əʊ], z.B. hope ‘hoffen’
- [u:] > [əʊ] > [aʊ], z.B. house ‘Haus’
Der erste angezeigte Wandel ist hier die GVS, die weiteren (in Hellgrau) sind spätere Lautwandel. Auch hier sieht man schnell, dass der Artikulationsort im Mund tendenziell weiter nach oben verlagert wurde.
In unserem Fall hier ist die GVS schon vollzogen, aber die später noch folgenden Veränderungen noch nicht alle. Schaut man sich im Lehrbuch die Aussprachehinweise für die übrigen Langvokale an, die noch weitere Verschiebungen durchgemacht habe, so findet man auch Hinweise auf einen älteren Sprachstand für das mittelenglische [ɛ:] und [ɔ:]:
- appeal ‘anrufen, appelieren’ → appehl (statt apihl)
- open ‘offen’ → open (statt oupen)
Mit Nr. 3 ist das so eine Sache: Für das mittelenglische [i:] gibt das Buch das Beispielwort time ‘Zeit’ mit der Aussprache teim an. Sieht also so aus, als sei die Veränderung schon durch. Aber … im Deutschen gab es ja auch lustige Veränderungen, unter anderem den frühneuhochdeutschen Diphthongwandel, bei dem aus ei ein ei wurde. Äh, ja. Genau. In der Schreibung sieht man keinen Unterschied. Gesprochen aber schon: Aus [ɛɪ] (wie in ey!) wurde [aɪ]. Der Prozess war aber im 16. Jahrhundert abgeschlossen, d.h. hier ist tatsächlich die [aɪ]-Aussprache gemeint. Die Verschiebung von [u:] (Nr. 6) ist ebenfalls schon komplett durch, wie man an der Wiedergabe mit <au> sehen kann (house ‘Haus’ → haus).
Für eine Prise Chaos: Etymologische Schreibung
Das verweist auch gleich noch auf einen andere, wahrscheinlich recht offensichtlichen Punkt: Wie euch sicher schon oft aufgefallen ist, ist die englische Orthografie ein einziges Durcheinander. Die GVS und die folgenden Vokalwandel sind daran ganz erheblich mitschuldig.
Die englische Schreibung wurde ziemlich früh standardisiert. Lautwandel, die nach dem Ende des 15. Jahrhunderts auftraten, haben es i.d.R. nicht mehr in die Schrift geschafft, dort ist also ein älterer Sprachstand zu sehen. Eine Orthografiereform, die die Schreibung an die heutige Aussprache angepasst hätte, gab es aber nie. Das Deutsche hingegen wurde sehr spät orthografisch standardisiert (im 18./19. Jahrhundert, mit der ersten offiziellen Regelung 1901), als der heutige Lautstand bereits erreicht war. Wir haben daher nur ein paar kleinere Verweise auf die Lautwandelgeschichte in der Orthografie, die klassischen Beispiele sind:
- <Leib>/<Laib> – <ei> geht auf mittelhochdeutsches [i:] zurück (lîp), <ai> auf mittelhochdeutsches [ɛɪ] (leip)
- <Gäste>/<Reste>– <ä>geht auf althochdeutsches [a] zurück, <e> auf [e] oder [ɛ]
Das gilt allerdings zwar in vielen, aber nicht in allen Fällen, dazu habe ich hier mal was geschrieben.
Ein weiteres Beispiel für eine Sprache mit extrem etymologischer Schreibung ist das Französische, dessen Orthografie heute noch in vielen Punkten dem Lautinventar des Altfranzösischen folgt.
Quellen:
- Freeborn, Dennis (²1998): From Old English to Standard English. A Course Book in Language Variation across Time. Basingstoke, New York.
- Odenstedt, Bengt (2000): The History of English. A Textbook for Students. Lund.
- Pyles, Thomas (²1971): The Origins & Development of the English Language. New York u.a.
Im heutigen Liverpool ist die Aussprache „fähs“ bzw. „blähm“ absolut korrekt 🙂
Schöner Hinweis! Die Diphthongierung hat in zahlreichen englischen Dialekten nicht stattgefunden (schottisches Englisch, walisisches Englisch, nordengl. Dialekte, (teilw.?) irisches Englisch), dort ist also noch ein älterer Sprachstand zu finden.
“W lautet wie im Teutschen [sic]”
Ist dieser Satz auch den Sprachwandel (wenn, dann wohl des Deutschen) zuzuschreiben, oder einfach der Unwillen des Autoren, eine ungewohnte Aussprache zu beschreiben?
Hm, Sprachwandel ist es nicht, unser [w] war schon im Mittelhochdeutschen (1050–1350) ein [v] geworden. Vielleicht wurde die Ähnlichkeit aus pragmatischen Gründen für ausreichend erachtet? Da der Autor ja Muttersprachler war, müsste er den Unterschied auf jeden Fall hören gekonnt haben.
/er/ und /ur/ scheinen für den Autor noch nicht zusammengefallen zu sein (er gibt sie als “er” und “ör” wieder). /ir/ verteilt sich auf die beiden Klassen.
Sehr toll ist auch die Liste der Homophone und anderer leicht zu verwechselnder Wörter auf S. 17. Interessant die Gegenüber von “bruit, Gerücht, Geschrey — brute, unvernünfftig Thier”. “bruit” habe ich noch nie gesehen, wo das in den Zeitläuften wohl abgeblieben ist?
Die Beweisführung, dass Nomina im Englischen nicht durchdekliniert werden, ist hinreißend. Vokativ: ô Angel!
Danke für den Hinweis, das ist ein wirklich spannendes Buch.