Ich war letztens kurzentschlossen eine Woche in Wales. Ein paar linguistische Eindrücke sind erwähnenswert — ein kleiner Feldforschungsbericht.
Wales brüstet sich mit dem “längsten offiziellen Ortsnamen der Welt”, der — man ahnt es — vor über 100 Jahren künstlich erschaffen wurde, um den Tourismus anzukurbeln. Offenbar profitiert man immer noch davon, obwohl ich betonen möchte, dass sich Llanf— (flamin’ hell!) nicht auf meiner To-See-Liste befand (genaugenommen befand sich nichts auf der Liste). Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch befindet sich auf der Insel Anglesey im Nordwesten Wales. Oder anders: Auf der Zugstrecke zwischen Bangor und Holyhead. Und hätte ich nicht aufgepasst, wäre Llanfairpw– an mir vorbeigerauscht. (Kennen Sie die “request stops” bei Bussen? Ja? In angelsächsischen Ländern, wo man den Arm ausstrecken muss, um den Bus heranzuwinken? In Wales gilt das aufm Land auch für Züge.)
Nun denn, es gibt tausend Webseiten, die eine ungefähre Entsprechung des Ortsnamen haben, ich hab mich mit einem vergleichsweise ordentlichen Online-Wörterbuch mal dran versucht, ein Gloss zu erstellen — aber ich muss dazu sagen, dass mir das nur leidlich gelingt, da ich von keltischen Sprachen an sich wenig Ahnung habe (und sich Walisisch von Irisch und Scots Gaelic dann doch deutlich unterscheidet, s.u.):
Llan- | fair- | pwll- | gwyn- | gyll- | go- | ger- | y- | chwyr- | n- |
village/ parish |
pool | white | hazel | rather | near | the | rapid | ? | |
drobwll- | llan- | tysilio- | go- | go- | goch | ||||
whirlpool | village/parish | (St. Tysilio) | cave (?, ogof-) | red |
Allgemein wird eine Übersetzung so angegeben:
the church of St Mary of the white hazel pool very near the fierce whirlpool in the parish of St Tysilio of the red cave
(Brake 2010: x)“Die Kirche der heiligen Maria in einer Mulde weißer Haseln direkt in der Nähe eines wilden Strudels in der (Pfarr-)Gemeinde von St Tysilio mit der roten Höhle.”
Bevor jetzt jemand in die Welt zieht und von der “unglaublich komplexen walisischen Sprache” erzählt — diese Art der Wortbildung ist, so wage ich zu behaupten, auch im Deutschen möglich (ich habe ja nie verstanden, warum Rothenburg ob der Tauber so gut wie nie abgekürzt wird). Gäbe es im Schwarzwald noch Platz für Touristen, wäre ich mir sicher, dass jemand auf die Idee kommen könnte, Post(er)karten mit “I’ve been to Derseenebendemgroßenbergmitseinenwildenblumenundseinenunglaublichschwarzenbäumenindergemeindedesheiligenchristkönigs” zu drucken.
Llanfairpwllgwyn— scheint zumindest soviel Sinn zu machen, dass es Walisischsprachigen auch zu fortgeschrittener Stunde noch möglich ist, den Ortsnamen unfallfrei auszusprechen (monolingualen Walisern gelang dies in einem sorgsam kontrollierten Kontrollexperiment nicht).
Was Walisisch für uns aber dann doch ganz exotisch erscheinen lässt, ist die auf den ersten Blick ungewöhnliche Häufung an Konsonanten: Morphemgrenzen hin oder her, aber bereits die eigentliche Ortsbezeichnung Llanfairpwll dürfte ausreichen, von einem Zungenbrecher zu sprechen. Einerseits ja, da der Digraph <ll> nicht das Phonem /l/ darstellt, sondern /ɬ/, ein stimmloser lateraler alveolarer Frikativ (an dieser Stelle kommen Ihnen Klingonischkenntnisse zugute!). Ein einfaches walisisches Sprachkursbuch würde Ihnen jetzt raten: Zunge wie zu einem ‘l’ anlegen, dann die Luft durchpusten, also irgendwo eine Mische aus unserem ‘l’ und ‘ch’ (wie Bach). Es bleibt ein Zungenbrecher — oder hab ich zu viel versprochen?
Der zweite, offensichtlichere Grund für den Zungenbrecher ist, dass <w> in den meisten Fällen die Phoneme /u:/ und /ʊ/ repräsentiert (‘langes’ bwz. ‘kurzes’ u), seltener auch ein Phonem ähnlich dem Englischen /w/, und deshalb zu den Vokalen zählt. Damit ist die Verwandschaft von <pwll> zu [pu:l] ‘pool’ dann nicht mehr ganz so so wirklich weit weg. Auch im Englischen spricht man bei /w/ phonetisch von einem Halbvokal (semi-vowel), da [w] in der Artikulation der von Vokalen ähnelt, phonologisch aber nicht-vokalische Eigenschaften aufweist.
Das walisische Alphabet kommt ohne <k>, <q>, <v>, <x>, und <z> aus, hat darüber hinaus noch die Digraphen <dd>, <ff>, <ng>, <ph>, <rh> und <th>, die neben <ch> und <ll> als, hm, Einzelbuchstaben gelten (ähnlich wie <ij> im Niederländischen). Das tut <ch> im Deutschen nicht (obwohl nur einen Laut repräsentierend) und wir schreiben <ch> in Kreuzworträtseln in zwei Kästchen. (Digraphen im Walisischen haben übrigens auch Auswirkungen darauf, wie Wörter im Wörterbuch stehen.) <f> und <ff> repräsentieren im walisischen zwei Phoneme — <ff> entspricht dabei /f/ und <f> dem Englischen /v/, also etwa wie bei wife-wives; <ng> gilt für walisische Kreuzworträtselfreunde und Lexikonschreibern als ein Buchstabe, entspricht dem /ŋ/im Englischen oder im Deutschen. <dd> ist ein ’stimmhaftes th’ (that), <th> das stimmlose Pendant (thing).
Mehrere Waliser haben mir versichert, dass Walisisch eine vergleichsweise phonetische Sprache ist, das heißt, dass man fast alles (so) ausspricht, wie man es schreibt. Verglichen womit ist dabei aber immer die entscheidende und selten gegebene Zusatzinformation. Verglichen mit Englisch trifft das wohl zu (verglichen mit Irisch erst recht). Die Einfachheit der Aussprache behauptet auch Brake (2010: x), aber die will ihr Sprachlehrbuch verkaufen, welches sich ob der Reichweite von Walisisch wohl überwiegend an Waliser, englischsprachige Einwanderer und/oder von Sprachbildungspolitik missbrauchte Briten wendet. Da kann ich in der Einleitung schlecht schon damit loslegen, dass es zusätzlich zur exotisch anmutenden Anlautmutation noch stimmlose Nasale /m̥/, /n̥/ und /ŋ̊/ gibt (Morris-Jones 1953[1921]). Williams (1994) kommt dann fürs Walisische auf 51 Phoneme — zum Vergleich: Englisch und Deutsch haben jeweils (je nach Auffassung und Zählweise) etwa 44. Wenn man aber dieser Tabelle einigermaßen Glauben schenken kann, kommt Walisisch sogar auf bis zu 58.
Haha! Und plötzlich sieht Walisisch mit seinem schnuckligen Alphabet aus zwanzig Monographen und acht Digraphen gar nicht mehr so phonetisch aus. Nun ist es wohl so, dass im Walisischen jedes Graphem tatsächlich ausgesprochen wird — womit es sich natürlich einfacher gestaltet, sich an der Schrift entlangzuhangeln, wenn man die Sprache lernen möchte bzw. eine bessere Vorstellung davon haben könnte, wie ein unbekanntes Wort ausgesprochen wird. Im Vergleich zu Englisch (<draught> als [drɑːft], aber <drought> als [draʊt]) oder Irisch (<thabhairt> als… okay, lassen wir das, aber ich finde, es klingt n büschen wie ‘heart’) stimmt die Auffassung vermutlich weitgehend.
(Ein unterhaltsamer und informativer Kommentar zur Graphem-Phonem-Korrespondenz findet sich übrigens bei Kristin.)
Weiter oben schrieb ich, dass Walisisch von Irisch und Schottisch-Gälisch relativ weit weg ist, obwohl alle drei Sprachen zur keltischen Sprachfamilie gehören. Während sich Sprecher des Irischen und Schottisch-Gälischen mit etwas gutem Willen verstehen können, ist das zwischen Schottisch-Gälisch und Irish auf der einen und Walisisch auf der anderen Seite nicht möglich. Denn nur weil Sprachen verwandt sind, muss das nicht heißen, dass sich Sprecher verstehen können (etwa wie Deutsch und Englisch). Walisisch gehört mit Kornisch und Bretonisch zu den Britannischen Sprachen, während Schottisch-Gälisch und Irisch mit Manx zu den Goidelischen Sprachen gehören. (Zu einem Überblick der Klassifizierung hier entlang.)
Mir war aber noch was anderes aufgefallen.
In Wales ist die Sprache allgegenwärtig. Nahezu alles ist zweisprachig ausgeschildert und benannt. Straßenschilder, Zugdurchsagen, Baustellenhinweise, Werbung in jedweder Form, Busschilder, Restaurantkarten, Kassenautomatenanzeigen, Lebensmittel, Verpackungen — im Prinzip alles, was in Wales produziert wird und nicht aus England oder sonstwo importiert ist oder dorthin exportiert wird (sogar aufwändigst hergestellte Schilder und Poster bei Marks & Spencer). Ich sage mal: das macht das Sprachenlernen wirklich denkbar einfach: so war’s mir beispielsweise möglich, bereits nach dem zweiten Schild den typischen Pluralmarker -au auszumachen: toiled/toilet > toiledau/toilets.
In Pubs, Cafés und Bussen wird häufig kaum Englisch gesprochen — zugegeben, diese Einschätzung beruht auf meinem Urlaub in Zentral- und Nordwales, in Südwales oder in größeren Städten ist die Situation auch mal englischer. Spannend fand ich aber so Inselbeobachtungen, dass Gespräche unter Fremden häufig auf Englisch beginnen, beispielsweise in Cafés und Kiosken. Irgendwo in den ersten Sätzen müssen sie aber so n Code versteckt haben, denn irgendwann wechselt man ziemlich unvermittelt ins Walisische. Der Zeitpunkt dieses Wechsels nähert sich zeitlich immer stärker der Begrüßungsformel, je weiter nordwestlich man fährt. In Caernarfon passierte es mir sogar, dass mich jemand auf der Straße auf Walisisch ansprach.
Laut Volkszählungen und Studien sprechen etwa 20% der Waliser walisisch zumindest “ordentlich” (fair, was immer das heißen mag). Das ist für die inselkeltischen Sprachen ein beinahe phänomenaler Wert. In Schottland sind es weniger als 2% (hier sind aber wohl Muttersprachler gemeint). In Irland sind derartige Umfragen notorisch schwer vom Einfluss des Nationalstolz der Iren zu trennen und davon, dass jeder Ire Irisch als Zweit‑, de facto aber nur als Fremdsprache lernen muss. Die (Selbstein)Schätzungen der Iren liegen deshalb traditionell irgendwo zwischen 70,000 (Muttersprachler) und 1,8 Millionen — wobei meist genügt, auf Irish sagen zu können, dass man auf Klo muss, um durch die Sekundarstufe zu kommen und sich als Irischsprecher zu bezeichnen. Die niedrigere Zahl erscheint deshalb im Vergleich zu den Zahlen aus Schottland und Wales realistischer und entspricht somit ebenfalls etwa 2% (1,7 Millionen entsprächen fast 40%). Die Unterschiede sind nicht einfach zu interpretieren: denn wenn in der Umfrage in Wales “fluent or fair speaker” von 21% mit “ja” beantwortet wird (der Link zur Studie im Wikipedia-Artikel ist leider tot, aber beim UNHCR wird zusammengefasst und aufgeschlüsselt: 16% “read, write and speak it”, 8% “with less proficiency”), in Irland aber gefragt wird, “how often do you speak Irish?”, dann werden hier zwei völlig verschiedene Sachverhalte abgefragt. Die Zahlen sind also zu verwirrend — mein Eindruck aus einer Woche ist aber, dass ich persönlich mit mehr Walisern gesprochen habe, die untereinander Walisisch sprachen, als mir in drei Jahren Irish Pub Irischsprechende übern Weg gelaufen sind.
Und soweit ich informiert bin, gibt es in Wales keine offiziellen Schutzgebiete, die den irischen Gaeltacht entsprechen würden — obwohl unterschiedlich stark ist die Sprache flächendeckend recht lebendig.
Nicht nur deshalb: Wales war nett, ist ne Reise wert!
Literatur
Brake, Julie. 2010. Complete Welsh. Hodder Arnold.
Morris-Jones, J. 1953[1921]. An Elementary Welsh Grammar. Oxford/Claredon Press.
Williams, Briony. 1994. Welsh letter-to-sound rules: rewrite rules and two-level rules compared. Computer Speech and Language 8: 261–277. [Link zu einer Onlineversion]
Dass Sprachlehrbücher nicht immer die Einfachheit der Aussprache der zu lernenden Sprache behaupten müssen, habe ich als Bohemist oft erfahren. Mir sind einige Tschechischlehrbücher untergekommen und in den allermeisten kommt ziemlich früh der zwar sinnarme, aber grammatisch korrekte und vollständige Satz “Strč prst skrz krk” vor. Das ist wohl eine absichtliche Schocktherapie, die zum frühen Aussieben dient: Wer sich davon nicht abschrecken lässt, den schockt auch später nichts mehr. Wer diese Hürde hingegen nicht hinnehmen kann oder will, der sollte sich dann vielleicht eine andere Sprache suchen…
Hm ja, Strč prst skrz krk dürfte den gewünschten Effekt haben. Erinnert mich spontan an: US deploys vowels to Bosnia (The Onion, 1992?). Man kann also so oder so versuchen, seine Bücher zu verkaufen.
(Btw — hast du ein Gloss zu Strč prst skrz krk?)
http://www.radio.cz/fr/rubrique/tcheque/le-virelangue-jazykolam-strc-prst-skrz-krk
strč: stecken–IMP-SIN-2P (von strčit)
prst: Finger
skrz: durch
krk: Hals, Kehle
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