Schon seit ein paar Monaten geht eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Keith Chen durch die englischsprachige Presse, in der behauptet wird, dass die wirtschaftliche Mentalität eines Volkes von seiner Sprache abhängt. Eigentlich hatte ich nicht vor, diese Studie zu kommentieren (zu den Gründen gleich mehr), aber vor zwei Wochen hat auch FAZ.net darüber berichtet und seitdem bin ich mehrfach gebeten worden, etwas dazu zu sagen, vor allem von Leser/innen, die im Sprachlog gerne generell mehr über den Zusammenhang von Sprache und Denken lesen würden. Deshalb hier doch ein paar Gedanken zu der Studie.
Zunächst kurz zum Inhalt (wer es ausführlicher wissen will, dem sei der oben verlinkte FAZ-Artikel empfohlen, wer es noch ausführlicher wissen will, kann die Studie selbst [PDF, 450 KB] lesen). Chen teilt zunächst die Sprachen der Welt in zwei Gruppen ein: die mit „schwachem Zukunftsbezug“ (weak future-time reference) und die mit „starkem Zukunftsbezug“ (strong future-time reference). Grob gesagt (es wird gleich noch feiner) unterscheiden letzere in bestimmten Zusammenhängen grammatisch zwischen Gegenwart und Zukunft, während erstere das nicht tun. Will ich z.B. auf Deutsch ausdrücken, dass ich für morgen Regen erwarte, kann ich dazu die Präsensform (1) oder die Futurform (2) verwenden:
(1) Ich glaube, es regnet morgen.
(2) Ich glaube, es wird morgen regnen.
Auf Französisch kann ich dagegen die Präsensform pleut nicht verwenden, (3) ist also grammatisch falsch. Stattdessen muss ich entweder wie in (4a) die morphologische Futurform pleuvra verwenden (so eine Form gibt es im Deutschen gar nicht), oder wie in (4b) die syntaktische Futurform va pleuvoir (va bedeutet geht, man vergleiche das englische Futur mit going to):
(3) *Je pense qu’il pleut demain.
(4a) Je pense qu’il pleuvra demain.
(4b) Je pense qu’il va pleuvoir demain.
Deutsch ist deshalb eine Sprache mit schwachem Zukunftsbezug, Französisch eine mit starkem.
Chen korreliert nun in seiner Studie für eine große Zahl von Sprachen die Art ihres Zukunftsbezugs (stark/schwach) mit ökonomischen Faktoren wie Sparquote, Rentenvorsorge, Schulden. Er stellt dann fest, dass eine Korrelation dergestalt besteht, dass Sprecher/innen von Sprachen mit starkem Zukunftsbezug weniger Schulden machen, mehr sparen, bessere Altersvorsorge betreiben usw. als Sprecher/innen von Sprachen mit schwachem Zukunftsbezug. Diesen Effekt beobachtet er sowohl auf der Ebene ganzer Volkswirtschaften als auch auf der ebene einzelner Haushalte in vielsprachigen Ländern.
Seine Erklärung ist, dass Sprecher/innen schwach zukunftsbezogener Sprachen die Zukunft nicht klar von der Gegenwart trennen, da ihre Sprachen das auch nicht tun. Deshalb denken sie nicht daran, dass es ihnen in der Zukunft anders gehen könnte als in der Gegenwart und dementsprechend sorgen sie auch weniger vor. Sprecher/innen stark zukunftsbezogener Sprachen dagegen sehen die Zukunft als von der Gegenwart unabhängig, schließen nicht von ihrer aktuellen Situation auf die zukünftige Situation und sorgen deshalb stärker vor.
Sie werden mir zustimmen, dass dieser Erklärungszusammenhang an sich nicht unplausibel klingt. Allerdings vertritt Chen mit seiner Theorie eine extrem starke Version der sogenannten „Sapir-Whorf-Hypothese“, die besagt, dass unser Denken durch unsere Sprache determiniert ist. Wenn man einen solchen Determinismus nachweisen könnte, würde das nicht nur unserer Intuition widersprechen, sondern auch einer langen Forschungstradition, die bestenfalls sehr subtile Laboreffekte von sprachlichen Strukturen auf bestimmte kognitive Prozesse nachweisen konnte (nebenbei: die Namensgeber der Hypothes selbst, Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf, haben einen echten Determinismus nicht vertreten, aber dazu ein andermal mehr). Mit anderen Worten: Chens Studie wäre spektakulär. Sie müsste deswegen auch spektakulär sauber und ordentlich gearbeitet sein.
Wie gesagt hatte ich eigentlich nicht vor, etwas zu der Studie zu sagen, und zwar aus zwei Gründen: erstens handelt es sich um eine unveröffentlichte Studie, die bisher nur als Arbeitspapier vorliegt, also keine Begutachtung durch Fachleute durchlaufen hat. Zweitens haben die Kolleg/innen vom Language Log im Prinzip alles zu der Studie gesagt, was auch ich dazu gesagt hätte und was man überhaupt außerhalb einer tatsächlichen strengen Begutachtung dazu sagen kann. Die folgenden Gedanken sind deshalb nicht viel mehr als eine Zusammenfassung diverser Language-Log-Beiträge (mit ein paar eigenen Kommentaren versehen). Um die betreffenden Beiträge nicht mehrfach verlinken zu müssen, verweise ich durch Fußnoten darauf und verlinke sie am Ende dieses Beitrags.
Grundsätzlich gibt es drei substanzielle Probleme an Chens Studie: Die Klassifizierung der Sprachen, die Richtung seiner Hypothese/Erklärung und die verwendeten Methoden.
Zur Klassifizierung der Sprachen in solche mit starkem und schwachem Zukunftsbezug ist zunächst zu sagen, dass die Lage deutlich komplexer ist, als Chen sie darstellt. Auch Sprachen mit sogenanntem „starkem Zukunftsbezug“ erlauben es nämlich an vielen Stellen, die Präsensform zu verwenden, um auf die Zukunft zu verweisen. Chen klassifiziert z.B. Englisch als „stark Zukunftsbezogen“, weil man nicht sagen könne It rains tomorrow, sondern nur It will rain tomorrow. Geoffrey Pullum entgegnet im Language Log [i], dass man im Englischen problemlos Sätze wie die folgenden sagen könne:
(5a) Meg’s mother arrives tomorrow.
(5b) My flight takes off at 8:30.
(5c) IBM is declaring its fourth-quarter profits tomorrow.
Ähnliches gilt für viele andere „stark zukunftsbezogene“ Sprachen; allerdings muss man Chen zugute halten, dass er für die Klassifikation ein spezifischeres Kriterium aus der sprachvergleichenden Forschung verwendet: „stark zukunftsbezogen“ sind danach solche Sprachen, die bei Vorhersagen von Ereignissen, die außerhalb der Kontrolle des Sprechers liegen, das Futur erfordern — so, wie in den Beispielen (1–4) oben. Pullums Sätze sind aber keine solchen Vorhersagen sondern einfache, auf externen Informationen beruhende Aussagen über die Zukunft (Megs Mutter, die Fluglinien und IBM haben angekündigt, dass sie vorhaben, diese Dinge zu tun). Macht man Vorhersagen daraus, z.B. indem man ein I predict (that) vor den jeweiligen Satz stellt, wird das Präsens merkwürdig bis ungrammatisch und muss tatsächlich durch eine Futurkonstruktion ersetzt werden (I predict that Meg’s mother will arrive tomorrow usw.).
Trotzdem gibt es zwei Probleme, wenn man aus dieser Art des Zukunftsbezugs Einflüsse auf Denken und Handeln ableiten will. Erstens stellt sich die Frage, warum ausgerechnet der spezielle Zusammenhang von „Vorhersagen“ relevant für die Denk- und Handlungsmuster der Sprecher/innen sein sollte, und nicht die vielen anderen Zusammenhänge, in denen auch in „stark zukunftsbezogenen“ Sprachen das Präsens verwendet wird um über die Zukunft zu sprechen. Zweitens wird schnell klar, dass die sprachliche Situation auch in den Vorhersage-Kontexten komplexer ist als eine einfache Trennung in „starken“ und „schwachen“ Zukunftsbezug vermuten lässt. Auch für das Englische lassen sich durchaus Zusammenhänge finden, in denen Vorhersagen durchaus im Präsens stehen (vgl. auch [i] und [vi]):
(6a) I predict the spring thaw is coming early this year. [Link]
(6b) Nova Scotia’s Shubenacadie Sam did not see his shadow which would predict winter is ending soon. [Link]
Solche Verwendungen sind vergleichsweise selten, aber sie zeigen, dass „starker/schwacher Zukunftsbezug“ kein binäres Merkmal ist, sondern dass Sprachen einen mehr oder weniger starken Zukunftsbezug haben können. Das stellt die Chens Studie zugrundeliegende Kategorisierung grundsätzlich infrage.
Zweitens sehe ich ein Problem mit Chens Erklärung. Man könnte ja versucht sein, alle Einwände gegen die Unterteilung in „starken/schwachen“ Zukunftsbezug und gegen die Methoden (siehe unten) mit dem Argument vom Tisch zu wischen, dass Chen schließlich einen Effekt gefunden habe, der ja irgendwie erklärt werden müsse. Und vielleicht kommt Ihnen die Erklärung ja auch intuitiv plausibel vor.
Das Problem ist aber, dass man auch dann für einen Einfluss von Sprache auf Denken argumentieren könnte, wenn die Korreltation umgekehrt gewesen wäre [i, vi]. Denn wenn die Sprecher/innen, deren Sprache Gegenwart und Zukunft durch den Präsens ausdrückt, stärker für die Zukunft vorsorgen würden als diejenigen, die für die Zukunft immer (oder wenigstens in bestimmten Situationen) das Futur verwenden müssen, könnte man das wie folgt erklären: In schwach Zukunftsbezogenen Sprachen gibt es keinen sprachlichen Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft; dadurch ist die Zukunft den Sprecher/innen dieser Sprache viel näher, viel präsenter, und deshalb sorgen sie natürlich auch besser vor. In stark zukunftsbezogenen Sprachen wird die Zukunft aber durch das Futur in weite Ferne verlagert, sodass deren Sprecher/innen unbewusst davon ausgehen, dass später noch genug Zeit sein wird, um sich darum zu kümmern.
Und an dieser Stelle muss ich mich bei meinen Leser/innen entschuldigen, denn ich habe sie absichtlich in die Irre geführt: Die Korrelation und die dazugehörige Erklärung, die ich am Anfang des Textes Chen untergeschoben habe, habe ich mir ausgedacht. Tatsächlich hat Chen die Korrelation gefunden, die ich im vorangehenden Absatz genannt habe, und auch seine Erklärung ist die dort beschriebene. Wenn sie das nicht gleich am Anfang des Textes gemerkt haben, zeigt das (so zumindest meine Hoffnung), wie beliebig sich solche Erklärungen konstruieren lassen. Anders gesagt: Egal, in welche Richtung die Korrelation in Chens Studie ausgefallen wäre, die Hypothese vom Einfluss der Sprache auf das Denken hätte sich immer bestätigt (das ist übrigens ein Problem vieler Studien zu Sprache und Denken, aber dazu ein andermal mehr).
Drittens ist die Methode problematisch. Das einzige Ergebnis, das gegen einen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken spräche wäre bei Chens Studie die völlige Abwesenheit einer Korrelation. Nun lassen sich aber in ausreichend großen Datensätzen fast immer irgendwelche Korrelationen finden, ohne, dass die deswegen etwas bedeuten müssten [vgl. i]. Wenn man nicht eine extrem saubere Hypothese mit glasklaren Vorhersagen hat, sollte man die Finger von Verfahren lassen, die auf Korrelationen beruhen (bzw., sollte man solche Verfahren angemessen einsetzen, nämlich als explorative, erkundende Methode zur Verfeinerung möglicher Hypothesen).
Vor allem bei der Korrelation zwischen unterschiedlichen kulturellen Praktiken (und Ökonomie und Sprache sind kulturelle Praktiken) muss man immer bedenken, dass sie sich nicht zufällig geografisch Verteilen, sondern dass sie sich über zusammenhängende geografische Regionen ausbreiten; vor allem breiten sich immer ganze Bündel kultureller Praktiken gemeinsam aus [ii]. Das führt automatisch zu starken Korrelationen in bestimmten Regionen (also an bestimmten Datenpunkten im entsprechenden Datensatz), die dann das Gesamtergebnis verfälschen. So berichtet Östen Dahl (von dem übrigens die Unterscheidung „starker/schwacher Zukunftsbezug“ stammt), dass er Chen auf dessen Nachfrage hin davon abbringen wollte, mit der Studie an die Öffentlichkeit zu gehen, da sich ähnliche Korrelationen auch zwischen der Anzahl vorderer gerundeter Vokale und dem ökonomischen Verhalten nachweisen lassen [iii].
Chen bestreitet die Möglichkeit zufälliger Korrelationen und verweist darauf, dass die Korrelation auch dann existiert, wenn man sich Familien mit unterschiedlichen Muttersprachen ansieht, die im selben Land leben und einen vergleichbaren sozioökonomischen Status haben [iv]. Das ist aber wenig überzeugend, da diese Familien ihre Sprache ja nicht zufällig auswählen, sondern gemeinsam mit anderen Aspekten kulturellen Verhaltens aus ihrer Heimat mitbringen bzw. von ihren Eltern und Großeltern übernehmen (vgl. auch [v]).
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass erste Kritik an der spezifischen statistischen Methode geäußert worden ist, die Chen verwendet hat [vii]
Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein kausaler Zusammenhang zwischen Muttersprache und ökonomischem Verhalten ist von vorneherein extrem unwahrscheinlich. Um ihn zu belegen, bedürfte es außerordentlicher (und außerordentlich überzeugender) Belege. Chens Studie liefert solche Belege nicht.
[i] Pullum, Geoff (2012) Keith Chen, Whorfian economist. Language Log, 9.2.2012. [Link]
[ii] Liberman, Mark (2012) Cultural diffusion and the Whorfian hypothesis. Language Log, 12.2.2012. [Link]
[iii] Dahl, Östen (2012) Kommentar zu Liberman (2012), Language Log, 13.2.2012. [Link]
[iv] Chen, Keith (2012), Whorfian economics, Language Log, 21.2.2012. [Link]
[v] Sedivy, Julie (2012) Thought experiments on language and thought, Language Log, 22.2.2012. [Link]
[vi] Pepinsky, Thomas B. (2012) If it rains tomorrow, I save, Indolaysia, 22.2.2012. [Link]
[vii] Galdino, Manoel (2012) The effect of language on savings, Pra falar de coisas, 27.2.2012. [Link]
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Dass ausgerechnet Deutschland in die Gruppe der chronischen Schuldenmacher gehören solle, hat mich schon stutzig gemacht, aber auf die Schliche gekommen bin ich ihnen nicht. Tatsächlich erscheint mir ihre falsche Interpretation sogar plausibler als die Chens. Ich kann mir gut vorstellen, dass es mir andersrum ginge, hätte ich die Original-Interpretation zuerst gelesen.
In der aktuellen Spektrum ist ja auch ein Artikel zum Thema von Lera Boroditsky zu finden, wobei ich noch nicht dazu gekommen bin, ihn zu lesen.
Ziemlich ähnlich bei mir.
Vielen Dank…
… wieder einmal ein wunderbarer Artikel. Bitte mehr davon!
Chens These erscheint mir schon deswegen abwegig, weil sich ökonomische Verhältnisse wesentlich schneller verändern als die Grammatik einer Sprache. Die Hyperinflation von 1923 hat die Deutschen geprägt, heißt es immer wieder (und das erscheint plausibel) — doch die Grammatik blieb offenkundig dieselbe.
Korrelationen
Wie einfach es heutzutage ist, fadenscheinig-zweifelafte Korrelationen zwischen sprachlichen und kulturellen Eigenschaften zu finden, wird sehr schön in diesen Beiträgen der Sprachevolutionsforschers Seán Roberts und James Winters deutlich gemacht, die unter anderem Korrelationen zwischen dem Vorkommen von Siestas und morphologischer Komplexität, sprachlicher Diversität und Autounfällen, sowie der Häufigkeit außerehelichen Beischlafs und der Größe des Phoneminventars in einer Kultur aufzeigen:
http://www.replicatedtypo.com/…00-hits/4374.html
http://www.lel.ed.ac.uk/…talHumanities_ForRT.pdf
http://www.replicatedtypo.com/…olution/4809.html
Auf mich als sprachwissenschaftlichen Laien wirken diese Thesen nie besonders plausibel. Insofern ist mir am Anfang auch nichts aufgefallen, abgesehen davon, dass es mir natürlich verdächtig vorkam, dass du (Oder sagt man hier Sie? Ich komme mit der Vielfalt nicht klar.) sie für plausibel erklärtest, insofern habe ich kurz gestutzt, aber dass es andersrum sein muss, wäre mir nicht in den Sinn gekommen.
Insofern war die Auflösung der Irreführung für mich aber auch eher ein Meh-Erlebnis. Falls das jemand wissen will.
Es leuchtet mir auch wirklich überhaupt nicht ein, dass die grammatische Zukunftsform über unsere Wahrnehmung der Zukunft bestimmen soll. Bloß weil ich keine Konstruktion benutze, die “Futur” heißt, lässt sich ja nicht schließen, dass ich den Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft verkenne.
Oder so.
@Michael
Obwohl — das mit dem außerehelichen Beischlaf und dem Phoneminventar leuchtet ein: Wer eine/n Fremde/n zum Sex verführen will, muss ihm/ihr das ja zunächst mitteilen — große Phoneminventare führen zu weniger Mehrdeutigkeit und zu mehr erfolgreichen Verführungen. Wer dagegen nur mit dem/der Ehepartner/in schläft, braucht dafür nicht viel zu reden (man macht das ja automatisch nebenher, beim Fernsehen und so) — hier gibt es keine Mehrdeutigkeit zu vermeiden, also wird auch kein großes Phoneminventar benötigt.
[Full disclosure: Dieser Kommentar ist nicht ernst gemeint. Ich habe ihn in meiner Freizeit verfasst und wurde dafür nicht aus Steuergeldern bezahlt.]
@A.S. 26.03.2012, 16:11
Genau das Umgekehrte trifft zu: Wer eine/n Fremde/n zum Sex verführen will, muss ihm/ihr das ja zunächst mitteilen — große Phoneminventare führen zu MEHR Mehrdeutigkeit und zu mehr erfolgreichen Verführungen.
Denn eindeutige verbale Angebote zum außerehelichen Beischlaf sind ja in monogamieorientierten Kulturen riskant/tabuiert. Daher braucht Don Juan viele zweideutige Worte.
Mehrdeutigkeiten erhöhen übrigens — wie klinische Studien beweisen — die Spiegel von Sexual- und Glückshormonen im Gehirn, was eine weitere Voraussetzung für Don Juans Erfolg ist.
In der Sprache/Ökonomie-Frage ist doch entscheidend, wie es mit dem Griechischen aussieht: Wenn die Griechen kein Futur haben, dann steht das morgen in der Blödzeitung. Und wenn die Griechen viel Futur haben, dann auch. Hauptsache, es gibt “kulturelle” (Neudeutsch für rassistische) Fixierungen, mit denen die Blödzeitung zum Ausdruck bringen kann, dass “die” alles nur denkbare Übel mehr als verdient haben, weil “die” nun mal so sind.
Übrigens: Ghettosprache in Deutschland hat ja kein Futur (z.B. “dann hol isch meine Brüda” statt “dann werde ich meine Brüder herbeirufen”), und wer sie benutzt ist schlecht versichert, hat nichts für die Rente zurückgelegt und macht mehr Schulden als Hochdeutsch-Muttersprachler. Quod erat demonstrandum.
[Full disclosure: Dieser Kommentar ist nicht ernst gemeint. Ich habe ihn in meiner Freizeit verfasst und wurde dafür nicht aus Steuergeldern bezahlt.]
“Siestas und morphologischer Komplexität”
Die Zahl der Siestas nimmt mit der morphologischen Komplexität selbstverständlich zu, da Wortbildung wie Kapitalbildung, Ausbildung und Einbildung kein Freizeitspaß sondern harte Arbeit ist, die auslaugt und Regenerationsphasen erforderlich macht. Außerdem stehen tendentiell mehr Wörter für unterschiedliche Arten von Siesta zur Verfügung, die alle ausprobiert sein wollen (die Siesta-Arten, nicht die Wörter).
“sprachlicher Diversität und Autounfällen”
Auch dies klar: Entweder die Verkehrsschilder berücksichtigen alle Sprachen, womit es lange dauert sie zu lesen, was zur Unfallvermeidung dringend nötige Aufmerksamkeit kostet. Oder es werden nicht alle Sprachen berücksichtigt, weshalb nicht alle Verkehrteilnehmer in der Lage sind, die Stopschilder zu entziffern.
[full disclosure: Dieser Kommentar ist Teil einer gemeinsamen Initiative von Bundesverkehrsministerium und Bundesarbeitsministerium. Er wurde durch Vergnügungssteuereinnahmen finanziert und ist ohne Unterschrift gültig.]
Ich habe ja mal gehört, dass Singles im Gegensatz zu verheirateten Menschen viel mehr verschiedene Wörter für Sex haben.
Über 9.000 offenbar.
[Dieser Kommentar wurde Ihnen präsentiert von der Internationalen Vereinigung Pseudobildungsbürgertümelnder Langweilerwebseiten.]
[quote]Sie werden mir zustimmen, dass dieser Erklärungszusammenhang an sich nicht unplausibel klingt. [/qoute] Gar nicht. Tatsächlich habe ich über diese Schlussfolgerung nur den Kopf geschüttelt und für mich die später im Text gebrachte “echte” Folgerung Chens formuliert.
Interessant wäre hier noch die Erwähnung dieses merkwürdigen Amazonas-Volkes, der “Piraha”, die gar keine grammatische Zukunftsform und tatsächlich auch keine Vorsorge kennen. Und wie Hebräisch in diese Gliederung fallen würde, das ursprünglich ganz ohne Gegenwartsform auskam.
hiervon gerne mehr
“(das ist übrigens ein Problem vieler Studien zu Sprache und Denken, aber dazu ein andermal mehr)”
Das ist spannend und ich freue mich darauf.
Mich beschäftigt immer noch die Einordnung der zukunftsbezogenen Sprachen: Wieso ist Englisch stark und Deutsch dagegen schwach zukunftsbezogen?
Engl: It rains (Verb 3P Sg)
Dt: Es regnet (Verb 3P Sg)
Engl: It will rain (Hilfverb & Infinitiv)
Dt: Es wird regnen (Hilfsverb & Infinitiv)
Sowohl im Englischen, als auch im Deutschen finden wir hier keine morphologische Zukunftsvariante, wie z.B. im Französischen.
Habe ich das — mit Bitte um Nachsicht, ich bin blutiger Anfänger — richtig beobachtet oder bin ich auf dem Holzweg?
Ehrenrettung(s‑Versuch)
Gewiss trifft dieser (dieses?) Essay mit seiner reductio ad absurdum exakt und elegant:
Eröffnung mit einer verdeckten Gegenthese, spielersch-argumentativ der favorisierten und gewürdigten Untersuchung implantiert
Zwei kontradiktorische Zentral-Aussagen lassen sich mit gleichem empirischen Material belegen. Insofern ist die Argumentation nicht haltbar. Wäre sie haltbar, so ist logisches Argumentieren nicht möglich. Und das will keiner.
Immerhin könnte — nach Kenntnis der Schneeproblematik, der Farbwahrnehmungsproblematik — doch noch das fokussierbar sein, was vielleicht nach Randbezirken der Whorf-Hypothese aussieht und mit ihr ganz gut erklärt werden kann (?).
a) Konnotationen und Humboldt
b) Abstrakte Begriffe
c) Kinder und ihr Verstehen der Erwachsenensprache
Zu den ersten beiden Bezirken hier Material:
a) Konnotation und Humboldt
„Die Vermessung der Welt“, Daniel Kehlmanns Roman, rückt zwei historische Figuren in den Vordergrund, den Forscher Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauß, beide auf ihre Art an exakten Daten und Fakten interessiert, der eine bewegt sich allerdings kaum aus Göttingen weg, der andere ist Weltreisender von Beruf. Auf seiner Fahrt den Amazonas entlang schlägt Humboldt von seiner Mannschaft eine gereizte Stimmung entgegen. Es droht die rohe Gewalt, der Aufruhr, die Insubordination. Selbst sein französischer Begleiter, der Chirurg Aimé Bonpland, lässt es immer wieder an der nötigen Haltung und Disziplin fehlen.
Aber von seinem Ziel lässt sich der preußische Beamte und Naturforscher nicht abbringen. Er will vom Orinoko zum Amazonas durchstoßen, mitten durch den Dschungel. Dafür muss er in jeder Minute seine Autorität behaupten. Eines Tages wird Humboldt von den angeheuerten Männern, einfachen Burschen, die sich die Zeit mit Geschichtenerzählen vertreiben, gebeten, auch einmal etwas zu erzählen. Humboldt begegnet der Bitte mit Unverständnis und winkt ab.
Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt […]. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt.
Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach dem Sextanten.
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.
Daniel Kehlmann (2005): Die Vermessung der Welt. Reinbek: Rowohlt, S. 128
Das Goethe-Gedicht lautet im Original:
J. W. Goethe: Wanderers Nachtlied (entstanden 6.September 1780)
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Was an sprachlichem “Mehrwert” wird von Humboldts Paraphrase nicht erfasst?
(b)Abstrakte Begriffe
Eine gewisse Bestätigung für Whorf findet man, so man die eher “konkreten” Begriffe (Zahlen, Schnee u.ä.) verlässt und in den Bereich Abstrakta, Mentalität, soziokulturelle Semantik streift:
[…]Menschenrechte und politische Rechte werden auf chinesisch mit “Quan Li” umschrieben (Berechtigung, Nutzen). Auch hier geht es nicht um “Recht”, sondern Berechtigungen, Vollmacht, Privilegien, die die Obrigkeit gnädig den Untertanen gewährt hat und jederzeit zurücknehmen kann. Daß Menschenrechte etwas Primäres sind und es gilt, staatliche, vielleicht notwendige Beschränkungen dieser Rechte zu kodifizieren, wird deshalb nicht verstanden — auch wenn Präsident Jiang Zemin die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auswendig hersagen kann.
Die chinesischen Führer haben keine Schwierigkeiten, sich im Gespräch mit ausländischen Würdenträgern zur Demokratie (Min Zhu) oder Rechtsstaatlichkeit (Fa Zhi) oder Menschenrechten (Quan Li) zu bekennen. Sie meinen stets die chinesische Bedeutung. Und daß man mit Demokratie nicht “westliche Demokratie” meint, sondern die “sozialistische”, die auch im Chinesischen “Volksdemokratie” heißt, verschweigt man dem Besucher taktvoll. Ist es Zufall, daß regelmäßig Juristen, die auf Dolmetscher angewiesen sind, aus den Ministerien nach China entsandt werden und nicht etwa China-Experten? Die chinesischen Gesprächspartner sind meist bestens geschulte Desinformationsexperten der Staatssicherheit, die das westliche Rechtsvokabular beherrschen und sich gerne nach London, Göttingen oder Kopenhagen zu einem Seminar einladen lassen. Solche regierungsamtlichen Menschenrechtsexperten werden gelegentlich westlichen Besuchern als “Menschenrechtler” vorgeführt.
SIEGFRIED THIELBEER
Bei aller polemischen Unterströmung in Thielbeers Text:
Wie sauber ist hier die These abzusichern, dass es soziokulturelle, ethische Normbegriffe gibt, die in einer bestimmten Kultur missverstanden werden. Und ist solches Missverstehen nicht ein schwacher Beleg für die schwach formulierte Whorf-Hypothese?
Nachsatz:
Dass Kinder bestimmte Worte nicht verstehen oder noch nicht verstehen, haben wir alle erlebt, sei es in Erinnerung an unsere eigene Kindheit, sei es es in gegenwärtiger Beobachtung an Kindern.
Dass damit bestimmte Verstehensprozesse und darauf basierte Handlungsweisen kaum möglich sind, scheint einleuchtend.
Dass sich bestimmte Konzepte erst bei entsprechender Erfahrung im mentalen Lexikon aktualisieren, das .…..