Heute also das Tablet. Ein flacher, tastaturloser Computer von umstrittenem Nutzen und auf jeden Fall ein Wort, das mir für eine Analyse auf den ersten Blick ähnlich unattraktiv erschien wie die letztjährige App: Vor meinem inneren Auge türmten sich Berge von trockener Technikberichterstattung und Werbegefasel, ganz vorne mit dabei die Firma Apple. Aber, coole Sache: So schlimm war’s gar nicht bzw. man konnte sehr schnell drüberscannen. Und meine Recherche liefert sogar richtig schöne Ergebnisse, schaut mal:
Das war eine Korpusrecherche in den vier Zeitungen, die ich auch für -gate genutzt habe.1
Vom Tablet-PC zum Tablet
Gesucht habe ich sowohl nach Tablet/Tablets als auch nach Zusammensetzungen, die das Wort beinhalten. Dabei zeigt sich wunderschön, was ich vorher schon angenommen hatte:
Die ersten Formen sind noch Zusammensetzungen wie Tablet-PC, Tablet-Computer oder Tablet-Rechner, die meisten davon referieren auf ein Projekt von Microsoft, lest mal hier, niedlich. Tablet ist zu diesem Zeitpunkt also noch ein unselbständiges Element, das die Art des Computers näher beschreibt oder zumindest vom gewöhnlichen Computer abhebt.
Das Element Tablet löst sich erst im Jahr 2011 einigermaßen von den (aber weiterhin dominierenden) Zusammensetzungen, wie am wachsenden grünen Balken zu sehen ist. Und das sind ja nur die Daten für die erste Jahreshälfte 2011! Die Zunahme in den Medien war also eigentlich noch viel krasser.
Die generelle Zunahme der Tablet-bezogenen Bezeichnungen lässt sich natürlich unschwer auf das iPad zurückführen, das 2010 auf den Markt kam. Bei den Fundstellen handelt es sich daher auch häufig um Produkte oder Produktlinien bestimmter Hersteller.
’s wär kein Anglizismus ohne …
… englischen Quellbegriff. Der war tablet computer und als solcher hat er auch einen Eintrag im OED:
tablet computer n. Computing a computer in the form of a flat tablet; esp. one that accepts input through a stylus or a fingertip.
[Tablet-Computer N. EDV ein Computer in der Form einer flachen Tafel; insbes. einer, der Eingaben mit einem Stift oder den Fingerspitzen zulässt. (Meine Übersetzung)]
Eine Verkürzung auf tablet kennt das OED nicht – es gibt zwar einen computerbezogenen Eintrag, der bezieht sich aber auf das Grafiktablett (auch ein schönes Wort mit falschem Freund). Das muss nichts heißen, gut möglich, dass die Kurzform dennoch gebraucht wird. Die entsprechende Recherche überlasse ich aber aus Zeitgründen anderswem.
Exkurs: Tablett und Tablet
Das deutsche Tablett und das englische tablet sind etymologisch miteinander verwandt. Das Englische hat das Wort aus dem Altfranzösischen entlehnt, wo es als tablete, einer Verkleinerungsform zu table ‘Tisch, Tafel, Brett, Platte’ (dem Spenderwort für table), schon massenweise Bedeutungen haben konnte, die alle mehr oder weniger mit einer kleinen, flachen Tafel zu tun hatten (‘Tischchen, Schreibtäfelchen, Tablette, …’). Das Französische hatte sich das Wort natürlich aus dem Vulgärlateinischen heranentwickelt, letztlich landen wir also beim sicher bekannten tabula (wie in tabula rasa).
Das Deutsche hat mit seinem intensiven Französischsprachkontakt ein bißchen länger gewartet und dann Anfang des 18. Jahrhundert das Tablett von tablette als ‘Abstellbrett, Servierbrett’ entlehnt.
More fun facts: Unser Wort Tafel gehört ebenfalls zur Familie, kam aus dem Lateinischen, allerdings wesentlich früher (9. Jh.). Und die Tablette ist offensichtlich eine erneute Entlehnung von tablette, aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Im Englischen hat tablet ein extrem großes Bedeutungsspektrum (‘Schreibtafel, Notizblock, Plakette, Votivbild, Tablette, Seife(nstück), …’), die Entlehnungen ins Deutsche waren wesentlich spezifischer. Um die ganze Sache aber noch spaßiger zu machen, kann das Englische tablet die Bedeutung ‘Tablett’ nicht haben, das englische Wort dafür wäre tray.
(Manchmal findet man die Schreibung Tablett-Computer, ich frage mich, ob das Tippfehler sind oder Zeichen eines Anschlusses an das deutsche Wort über die einigermaßen passende Semantik, wie das bei Volksetymologien halt so ist.)
Der Artikel
Das Tablet hat mindestens zwei mögliche Strategien zur Festlegung des grammatischen Geschlechts: Es kann das Genus seiner Langversion übernehmen (der Tablet-Computer → der Tablet) oder es kann, soweit zumindest meine Vermutung, das Genus des extrem ähnlichen und etymologisch verwandten deutschen Wortes nehmen (das Tablett → das Tablet).
In meinen Belegen kam zwar beides vor, das Tablet hat aber entscheidend gewonnen: 38 zu 2. (In allen übrigen Fällen konnte man das Genus nicht erschließen.) Die beiden Maskulina könnten auch Fehler sein, z.B. dass der/die JournalistIn das Wort nachträglich von Tablet-Computer auf Tablet verkürzt hat. Hier sind sie:
- Heißen wird der Tablet von Apple wahrscheinlich iSlate. (MM, 2010)
- … ein eigenes WLAN-Netz aufbauen und darüber zum Beispiel den Tablet ins Internet bringen. (MM, 2011)
Mein Verdikt?
Ob Tablet als Anglizismus im Deutschen eine Chance hat, lässt sich heute noch nicht sagen – das hängt nämlich vom dauerhaften Erfolg des technischen Gerätes ab. Dass es aber aktuell stark im Kommen ist und 2011 intensiv verwendet wurde, ist unbestritten.
Wir haben es zunächst mit einem klassischen Fall von Wir-nehmen-das-Wort-gleich-mit-dazu zu tun: Eine neue Erfindung, deren Ursprung in einem anderssprachigen Land liegt, wird bei uns ebenfalls benutzt, zusammen mit seiner Originalbezeichnung. Die semantische Lücke wird also schon geschlossen, bevor sie so richtig entstehen kann.
Die Originalbezeichnung wurde in diesem konkreten Fall dann verkürzt, eventuell auch unter Originalspracheinfluss, das müsste man noch checken. Ich wage zu behaupten, dass sich die Form Tablet, falls das Gerät überlebt, auf lange Sicht gegenüber Tablet-Computer durchsetzen wird. Ist kürzer, und wenn man weiß, was gemeint ist, braucht kein Mensch eine mehr deskriptive Benennung.
Das Tablet erfüllt meiner Einschätzung nach alle Kriterien für den Anglizismus des Jahres. Auch wenn ich es, das muss ich zugeben, noch immer nicht viel spannender finde als am Anfang.
[Links zu allen bereits von der Jury diskutierten Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2011]
Quellen:
- OED Online (12/2011): “tablet, n.” 30.1.2012.
- Pfeifer, Wolfgang (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2. Aufl. 2 Bde. Berlin.
Fußnote:
1Die ersten fünf Jahre kann man nicht mit der weiteren Entwicklung vergleichen, weil ich hier nur Daten aus zwei der Zeitungen habe (MM und NN, die weit in die 90er zurückreichen), daher sind sie grau hinterlegt.
Wunderbare Beschreibung eines typischen Entlehnungsvorgangs plus Bonuswarnung vor einem false friend!
‘Tablet’ gehört der Alltagssprache schon aufgrund der Werbung m.E. eher an als die meisten anderen AdJ-Kandidaten.
Sogar ein bekannter Eindeutschungs-Verein hat ‘tablet-PC’ in typisch falscher Schreibweise bereits auf dem Index. ‘Tafelrechner’ taugt allerdings nicht wirklich zum Anglizismus des Jahres.
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Überdenk bitte deine ganze Herleitung noch mal. Der begriffliche Abriß, wie du ihn konstruierst, haut hinten und vorne nicht hin. Ausgangspunkt darf nicht der Tablet-PC sein, sondern muss das Grafiktablett sein.
Das Grafiktablett selbst wurde bereits in den 90er, vermutlich sogar noch früher schon mit Tablet abgekürzt.
(Die Google Groups-Suche liefert für Grafik-Tablet problemlos Belege aus den 90er.)
Deren Stift/Fingererkennungstechnik des Grafiktablet wurden dann mit einem Laptop und dessen Display kombiniert, der (Grafik-)Tablet-PC war geboren. Der Verweis auf Microsofts Show-Projekt bringt dich auf eine falsche Fährte, das Ding war nie relevant. Tatsächlich verfolgte Microsoft und die PC-Industrie praktisch das Konzept vollwertiger Laptops, die sowohl nur über Display als auch per Tastatur bedient werden konnten. Diese Rechner erreichten allerdings nie wirklich den Massenmarkt.
Später kam parallel(!) dazu Apple dann mit seinem iPad. Das Ding war schon ein Tablet-Rechner, aber eben kein vollwertiger Laptop (= kein Tablet-*PC* in den Augen der Techniker). So stand die Fachpresse vor einem Problem, nämlich beide Kategorien von einander unterscheiden zu können. Für die Rechner mit dem Drehdisplay und Tastatur etablierte sich deshalb “Convertible”, das iPad und dessen Verwandte wurden zu “Tablets”.
Tablet ist zwar ein Anglizismus, aber fachlich gesehen ein “Uralter”. Er kommt *jetzt* in die Medien, weil er eine Bedeutungserweiterung erfuhr.
Der Verweis übrigens auf einen vorgeblichen false friend wegen des Grafiktablets ergibt aus fachlicher Sicht wenig Sinn. Ich hab deinen Hinweis darauf auch beim ersten Lesen überhaupt nicht begriffen, jeder in der Materie wird kontextabhängig im Zweifel die Art des Tablets spezifizieren bzw. wird der Kontext im Büro auch zweifellos erkannt (ansonsten hat der Grafiker den falschen Beruf ergriffen).
Das Tablet, um das es hier geht, mag technisch teilweise auf dem Grafik-Tablet basieren. Vom Sprachgebrauch her sehe ich jedoch keine Vererbung, denn das Grafik-Tablet war immer nur wenigen Spezialisten (eben den Grafikern) geläufig, während das (PC-) Tablet 2011 ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gelangte und auch sonst m.E. die AdJ-Kritereien erfüllt (“Lücke im deutschen Wortschatz” usw.).
Der Hinweis auf den false friend (engl.: tray) bezog sich doch nicht auf das Grafik-Tablett, sondern das uralte Hilfsmittel zum Geschirrtransport.
Mich würde ja jetzt noch eine Analyse der Verwendung des hier behandelten Begriffs in Computer-Fachzeitschriften interessieren. Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass diese schon wesentlich früher ohne die Zusammensetzung mit Begriffen wie PC, Rechner oder Computer auskamen, da der Zielgruppe das Einsatzgebiet dieser Geräte durchaus bewusst war/ist. Das Anhängsel PC braucht’s hingegen in Massenmedien – wie den von dir zur Analyse herangezogenen – um dem Laien das Einordnen des Tablets zu ermöglichen.
Die Lehnübersetzung Tafelrechner findet sich schon hier: http://www.rhein-zeitung.de/startseite_artikel,-Apple-legt-den-Tafel-Rechner-auf-den-Tisch-_arid,92425.html
Zu diesem Zeitpunkt ging es offenbar weniger um puristische Eindeutschung, sondern um Erklärung eines neuen Gerätes. Auch heute liest man es manchmal, i.d.R. als Synonym für Tablet zur
Vermeidung von Wortwiederholungen.
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