Als die Nominierung Meme von Karoline abgegeben wurde, war ich überrascht: Denn eigentlich hielt ich es für die Pluralform von Mem, einem längst integrierten Fachterminus, dementsprechend mit deutscher Aussprache [me:mə], mir war nicht klar, dass es eigentlich und vermutlich einen, äh, phonologischen Anglizismus [mi:m] gibt. Ich krieche zu Kreuze! Ich lese wenn überhaupt nur von Meme, höre es seltenst, ja? (Die Pluralform von Mem könnte auch die folgenden Versuche zur Häufigkeitssuche beeinflusst und erschwert haben.) Beide Wörter bezeichnen im Englischen und Deutschen jeweils die gleichen Ideen und sind natürlich konzeptionell miteinander verwandt.
Wir haben hier — vorweggenommen — zwei Stadien zu betrachten: Die Übernahme von Mem vor 30 Jahren (mit morphologischer und phonologischer Integration) und der zweite Import mit anderer Bedeutung (offenbar) noch ohne die vollständige Integration eben erst jetzt. Ich halte die Nominierung deshalb auf der Basis des zweiten Imports für zulässig.
Ursprung
Die Intuition, dass Mem längst eingebürgert ist, geht auf die “Ursprungsbedeutung” von Mem zurück, die mir bekannt und präsent war: Richard Dawkins entwickelte in Analogie zu Genen das Mem-Modell, das wir auch in Deutschland bereits vor Jahrzehnten übernommen haben. Hier bezeichnet ein Mem einen kulturellen Replikator aus den Bereichen Verhalten, Sprache, Mode, Kultur — schlicht alles, was in kultureller Transmission durch Imitation weitergereicht (oder ausgesondert) wird und so im Mem-Pool überlebt oder eben nicht. Richard Dawkins schreib dazu 1976 (hier in der Fassung von 1989):
The new soup is the soup of human culture. We need a name for the new replicator, a noun that conveys the idea of a unit of cultural transmission, or a unit of imitation. ‘Mimeme’ comes from a suitable Greek root, but I want a monosyllable that sounds a bit like ‘gene’. I hope my classicist friends will forgive me if I abbreviate mimeme to meme* If it is any consolation, it could alternatively be thought of as being related to ‘memory’, or to the French word même. It should be pronounced to rhyme with ‘cream’.
Examples of memes are tunes, ideas, catch-phrases, clothes fashions, ways of making pots or of building arches. Just as genes propagate themselves in the gene pool by leaping from body to body via sperms or eggs, so memes propagate themselves in the meme pool by leaping from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.
Dawkins (1989: 192)
Entwicklung und Entlehnung
In dieser Bezeichnung ist Mem bei uns natürlich längst etabliert. Aber darum ging es Karoline in der Nominierung ja nicht. Um dahinzugelangen, gehen wir über die Entwicklung im Englischen: Nun ist dort also Folgendes passiert: mit engl. meme1, das viel allgemeiner die Replikation eines kulturellen Konzepts bzw. kultureller Informationen bezeichnet, werden in der Internetgeneration auch die Konzepte bezeichnet, das auf den Prinzipien der Mem- bzw. Informationsreplikation beruhen, die sich aber gänzlich im Internet abspielen, also als meme2 (mit einer subjektiv gefühlten Witzkomponente). Diese zweite Bedeutungsschattierung haben wir jetzt auch phonologisch übernommen und bezeichnen sie mit Meme [mi:m]. Während meme also im Englischen die zwei Bedeutungen meme1 und meme2 abdeckt, haben wir im Deutschen Mem(e) [me:mə] für meme(s)1 und Meme(s) [mi:m] für meme2 und somit eindeutig eine Bedeutungsdifferenzierung und eine Bereicherung für die deutsche Sprache.
Dieser Ansicht ist auch Karoline, die argumentiert, dass Meme die Bereiche abdeckt, die viral nicht abdecken kann. Das ist korrekt, allerdings ist es meiner Ansicht nach eine falsche Argumentation. Was mit Meme und viral bezeichnet wird, sind ‘Replikator’ bzw. ‘Replikation’: viral bezeichnet eine Art der Replikation, also wie die Replikatoren (Memes) verbreitet werden. Also in diesem konkreten Fall davon abgesehen, dass Meme ein Nomen und viral ein Adjektiv ist (die Sprachgemeinschaft hätte natürlich auch viral in ein Nomen konvertieren können, um die Bedeutung von Meme abzudecken).
Verwendungsbeispiele seien hier kurz angeführt (inkl. der Belege, die bei der Nominierung aufgeführt wurden):
Die Kooperation von Youtube und dem Guggenheim-Museum Ende letzten Jahres sollte demonstrieren: Die Mutter aller Videoplattformen kann mehr als Musik, illegale Ausschnitte und Meme schleudern. (DRadio Wissen, 23.11.2011)
John Pike und das Hitler-Meme John Pike ist zu einem Meme geworden, so nennt man schnell sich über das Internet sich verbreitende Bildwitze und Filmchen. (Die Welt, 24.11.2011)
Die Buchliebhaber-Challenge – Das zweite Meme! (Nothing More Delightful, 15.11.2011)
Internet Memes im Überblick: Wo sie herkommen und was sie bedeuten. (Juliane Waack, blogwatch.germanblogs.org, 20.05.2011)
Aber einige der derzeit überall kursierenden Guttenberg-Meme sind einfach zu schön, um unterschlagen zu werden: (Florian Bayer, seite360.de, 17.02.2011)
Eine schöne Sammlung von eigentlichen Memes ist auch die Meme-Datenbank knowyourmeme.com.
Der Vollständigkeit halber: Genuszuweisung vermutlich ausnahmslos und eindeutig Neutrum (das Meme), möglicherweise in Analogie zu das Mem, das Gen; Plural die Memes.
(Wobei man natürlich nicht abschließend sagen kann, dass Meme auch immer [mi:m] ist: dafür sind einige hier nicht aufgeführte Verwendungen in Abwesenheit von numerusanzeigenden Artikeln (ein bzw. das Meme), sowie aufgrund der phonologischen Integrierbarkeit in unser Phoneminventar und natürlich der etymologischen und konzeptionellen Überschneidung von meme1 und meme2 nicht eindeutig als [me:mə] oder [mi:m] interpretierbar. Die Ambiguität ist aber auch gar nicht so entscheidend, sondern im Prozess des Bedeutungswandels normal.)
Kriterium der Differenzierung erfüllt? Ja.
Aktualität
Wie aktuell ist Meme? Wie oben angeführt, kann Meme als Plural von Mem die Suche erschweren. Hier soll der Blick in eine GoogleInsight-Suche für Mem und Meme genügen: Dort ist 2011 eine deutliche Häufigkeitstrennung von Mem und Meme zu erkennen. Bis etwa 2011 verlaufen Meme [me:mə] und Mem im Gleichschritt, ab 2011 steigt Meme sprunghaft an, auch der hypothesierte Plural von Meme, Memes nimmt erst neuerdings wirklich zu. Dies ließe den vorsichtigen Schluss zu, dass wir es 2011 tatsächlich mit einer Häufigkeitszunahme von Meme [mi:m] zu tun haben. Dies legen auch die Topsuchanfragen für meme nahe: facebook meme, meme generator oder internet meme, also eben nicht im Sinne von Mem (GoogleInsights untersucht allerdings nur nach Region [hier: DE], leider nicht nach Sprache).
Kriterium der Aktualisierung erfüllt? Vorsichtiges Ja.
Metabemerkung
Was mich fachlich fasziniert an Meme, Replikatoren und Replikation: in der Linguistik wurde von William Croft (1996, 2000) ein analoges Modell zum Gen- und Mem-Pool vorgeschlagen, um Sprachwandel im evolutionären Sinn erklären zu können: Theory of Utterance Selection (etwa: Theorie der Äußerungsauslese). Dort sind sprachliche Äußerungen die Replikatoren aus einer Population der Sprache, geäußert (repliziert) von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft. Eine Äußerungen wird danach dann mit höherer Wahrscheinlichkeit repliziert, je mehr oder besser sie eine expressive Funktion erfüllt (Darwins Idee “Survival of the fittest”). Dies ist nicht gerade Antwort 42 — aber ein modellierter Ansatzpunkt, um das Überleben und die Verbreitung von sprachlichen Äußerungen auf allen Ebenen der Sprache theoretisch erklären zu können (aber nicht voraussagen!). Das ist für die Wahl natürlich nur ein fachlicher und subjektiver Meta-Einschub, erinnert mich aber daran, dass ich mir das nochmal genauer anschauen [bitte Modalverb der Wahl einsetzen].
Fazit
Das hätte ich vor drei, vier Stunden (bzw.: vor der gestrigen Sperrung meiner Webseite) nicht gedacht: Meme ist sogar ein ziemlich guter Kandidat. Er hat echte Überlebungschancen, ist auf dem Vormarsch und da er nicht auf einen Social Media-Bereich beschränkt ist, steht Meme auch der breiten Sprachgemeinschaft offen — sofern sie natürlich im weiteren Sinne mit Internettechnologie vertraut ist und mit ihr umgehen kann. Und anders als bei vielen Kandidaten haben wir hier keine Entlehnung, die wir bedeutungstechnisch eingregrenzt, verallgemeinert oder verschoben haben (aber was nicht ist, könnte noch werden — obwohl ich das für eher unwahrscheinlich halte), sondern eine, die wir in konzeptioneller Gänze importiert haben.
Literatur:
Croft, William. 1996. Linguistic Selection: An Utterance-based Evolutionary Theory of Language Change. Nordic Journal of Linguistics 19: 99–139.
Croft, William. 2000. Explaining Language Change: An Evolutionary Approach. Longman.
Dawkins, Richard. 1989. The Selfish Gene. Oxford University Press. (Kapitel 11: Memes: the new replicators).
Ich finde derartige Nochmal-Entleghnungen ohnehin sehr aufschlussreich. Sie deuten u.a. ja auch darauf hin, dass die erste Entlehnung entweder nicht erfolgreich war, oder aber dass sie so weit integriert ist (und ein Eigenleben entwockelt hat), dass die erneute Entlehnung nicht “blockiert” ist.
ich weiß, dass ich auch beispiele gesehen habe, wo da die eine oder andere hochdeutsche Lautverschiebung für genügend große Unterschiede gesorgt hat. Aber die Entlehnung einmal mit und einmal ohne phonologische Assimilation, das hat was…
Zustimmung, allgemein — aber wo hat Mem ein Eigenleben entwickelt, bzw. eines, das sich von meme1 weit genug entfernt hätte? So gesehen würde ein hypothetisches Mem2 ja nicht blockiert. Ich denke, hier spielt die Lingua Franca Englisch (oder wie auch immer man das hier nennen will) und eine gewisse Anglophilie auch eine Rolle. Oder wir sehen die Entwicklung von Mem2 möglicherweise in der Zukunft, wenn es lautlich in unser Inventar integriert wird und/oder das “e” wegfällt.
Ich würde sagen die erste Entlehnung war nicht erfolgreich, zumindest nicht in den sogenannten “weiteren Kreisen der bevölkerung”.
Ja, plausibel. Da Meme aber vor allem (noch) im technologischen Kontext auftaucht (bzw. hier zu Hause ist, naturgegeben), kann man das schlecht überprüfen, oder?
…also, dass Meme nicht auf einer gewissen Anglophilie beruht. Moment, ich argumentiere potentiell zirkulär. *ähem*
Du denkst also, dass Meme [mi:m] sowohl Singular als auch Plural ist? Daran habe ich starke Zweifel, denn dass ein Anglizismus im Deutschen im Plural unverändert bleibt, scheint mir höchst selten.
Für viel wahrscheinlicher halte ich, dass der Plural von Meme [mi:m] Memes [mi:ms] ist und dass wir sehr wohl auch Mem(e) [me:m(ə)] für meme2 haben. Die Beispiel von DRadio Wissen und seite360.de würde ich so interpretieren.
Mir persönlich war Mem(e) [me:m(ə)] in beiden Bedeutungen geläufig; Meme [mi:m] im Deutschen ist mir ganz neu.
Ach so, mein. Ich korrigiere das (ist nicht komplett genug) — Meme(s) ist natürlich im Deutschen gut pluralisierbar (und wird es auch). Die Beispiele wären dahingehend in der Tat eher illustrierend für die “Konfusion” beider Begriffe und Bedeutungen, als für eine klare Trennung. Hm. Aber danke!
Äh ja, mir auch (s.o.), ich war ja von der Nominierung dann doch überrascht. Aber ich glaube, sobald wir Memes haben bzw. einen Modifikator mit Singularindikation + Meme, könnte man davon ausgehen, dass es doch meist [mi:m] gemeint ist und wir somit tatsächlich einen “neuen” Anglizismus haben. Außerdem sind mir in deutschen Texten zu häufig eindeutigere Anglizismuskomposita untergekommen, wie z.B. meme generator, alsdass ich dem Argument “zu alt” oder “zu integriert” voreilig zustimmen würde.
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