[AdJ 2011] — Welches ‑gate nimmst du?

Von Susanne Flach

Heute bloggen Kristin und ich zeit­gle­ich zum Kan­di­dat­en -gate. So ein Par­al­lel­post haben wir uns schon im let­zten Jahr gegön­nt: wir wis­sen also bis 22 Uhr nicht, welche Über­legun­gen die andere angestellt hat, wo sie gesucht hat und zu welchem Ergeb­nis sie kommt. Reizvoll.

(Hier geht’s zu Kristins Beitrag. Sie hat auch die Nominierungs­be­grün­dung von Patrick Schulz aus­ge­graben — ich hat­te gar nicht auf Kom­men­tar­seite 4 geguckt. Auch gut. Dann war ich wenig­stens nicht in eine von bei­den Rich­tun­gen vor­ein­genom­men, weil Patrick let­ztes Jahr das Siegerwort leak­en nominiert hatte.)

Nun denn: Zum ersten Mal in der tra­di­tion­sre­ichen Geschichte der Wahl zum Anglizis­mus des Jahres ist ein Affix nominiert bzw. hat die erste Runde über­standen: -gate. Die Nominierung, genauer gesagt eigentlich die Entlehnung eines gebun­de­nen Deriva­tion­s­mor­phems an sich, ist deshalb ein biss­chen erstaunlich, weil in den aller­meis­ten Fällen unge­bun­dene, also freie lexikalis­che Ein­heit­en entlehnt wer­den. Es sind also besoders Nomen und Ver­ben, die Sprachen mit Vor­liebe aufnehmen; mit ein klein biss­chen Abstand fol­gen Adjek­tive — und ganz sel­ten in der Entlehnung­shier­ar­chie ste­hen Ein­heit­en, die sich eher am gram­ma­tis­chen Ende unseres Wortschatzes befinden.

Jet­zt haben wir mit -gate also ein Suf­fix, ein (augen­schein­lich) gebun­denes Mor­phem, ein Nom­i­nal- bzw. Derivationssuffix.

Aktualität?

In der Kürze der Zeit im ausklin­gen­den Semes­ter war es mir unmöglich, eine eventuelle Häu­figkeit genau zu bemessen bzw. das Vorkom­men des — nen­nen wir es vor­läu­fig — Wortbe­standteils genauer auf einen Zeitraum einzu­gren­zen. Das liegt primär daran, dass -gate in ober­fläch­lichen Suchan­fra­gen alle möglichen Wortkom­bi­na­tio­nen auswirft, die auf -gate enden: eine flotte Aufzäh­lung bein­hal­tet beispiel­sweise Sur­ro­gate, Aggre­gate, Agate, Spa­gate oder Col­gate. Ander­er­seits wer­den all die “echt­en” -gates überse­hen, die sich bere­its in der Schrei­bung der deutschen Orthografie angepasst haben: also eben nicht Karatchi-Gate oder Bat­tery-Gate, die mit einem Binde­strich die Suche ermöglichen und erleichtern.

Die schnelle Suche in Zeitungsko­r­po­ra bei Cos­mas II ergibt ein eben­so ver­wirrtes Bild und hil­ft bei der Aktu­al­ität­süber­prü­fung nur so viel weit­er: -gate ist als Affix schon lange belegt, eigentlich deut­lich zu alt und für die Wahl 2011 schon vor­weg nicht qualifiziert.

Also müssen wir uns der Nominierung anders näh­ern. Ich werfe deshalb zwei Fra­gen in den Raum: 1.) Hat sich die Bedeu­tung in den let­zten Jahren vor und speziell in 2011 spür­bar vom Surrogat(e) Water­gate ent­fer­nt? Dann frage ich mich allerd­ings auch 2.): worum han­delt es sich eigentlich — um ein Deriva­tion­saf­fix oder vielle­icht doch um den Kopf eines Kompositums?

Ursprung

Na, das über­rascht jet­zt nie­man­den: Water­gate, 1972. Der OED (in der Aus­gabe von 1989, auf der die online ver­füg­bare Def­i­n­i­tion beruht) definiert es folgendermaßen:

A ter­mi­nal ele­ment denot­ing an actu­al or alleged scan­dal (and usu­al­ly an attempt­ed cov­er-up), in some way com­pa­ra­ble with the Water­gate scan­dal of 1972.

Ein Skan­dal mit großer poli­tisch-gesellschaftlich­er Strahlkraft, kön­nte man sagen. Damals.

Im Englis­chen war -gate übri­gens ganz flott pro­duk­tiv zur Stelle (OED):

  1. Vol­ga­gate (1973), Dal­las­gate (1975), Kore­a­gate (1976),
  2. Motor­gate (1975), Lance­gate [is no Water­gate] (1977),
  3. Wine-gate (1973), Ice Cream Gate (1977)

Dabei sind die Grup­pierun­gen hier seman­tisch motiviert vorgenom­men (die sich bis heute wenig ver­wun­der­lich gehal­ten haben): Gruppe 1 ist nach den Orten des Skan­dals, Gruppe 2 nach den Namen der involvierten Per­so­n­en oder Pro­duk­ten und Gruppe 3 nach der Sub­stanz des Skan­dals ein­ge­ord­net. Außer­dem scheint mit zunehmender Zeit die Wucht des Skan­dals und sein­er Öffentlichkeitswirkung doch recht deut­lich abzunehmen.

Inter­es­sant ist auch, dass der OED -gate nicht als pro­to­typ­is­ches Affix kat­e­gorisiert, son­dern als com­bin­ing form. Dies sind For­men, die wie Affixe auftreten (als gebun­dene Mor­pheme), also wie etwa die form medico- (von med­ical), dazu gehören auch beispiel­sweise gebun­dene Mor­pheme wie -olo­gy, bio-, physio- oder astro-, die man auch als Wort­bil­dungse­le­mente der soge­nan­nten neok­las­sis­chen Kom­po­si­tion beze­ich­net (Wort­bil­dung mit gebun­de­nen lateinis­chen oder griechis­chen Ele­menten). Mit -gate scheinen wir uns also in der Grau­zone zwis­chen Kom­po­si­tion und Deriva­tion zu befind­en: Kom­po­si­tion wäre es nur dann eindeutig(er), wenn -gate ein freies Mor­phem wäre. (Ich suche aber noch die Rel­e­vanz der Erken­nt­nis, dass es sich um ein Kom­po­si­tion­se­le­ment han­deln kön­nte.)

Kompositum?

Die Frage ist für die Wahl aber drit­trangig und abschließend beant­worten möchte ich sie nicht. Jaha, dann kam heute näm­lich Babette und tat uns und der Twit­terge­meinde einen ganz wun­der­baren Gefall­en! Das lustige Ket­ten­mail­gate aus dem Bun­destag förderte heute unter anderem diese Ver­wen­dun­gen von Gate als freies Mor­phem zu Tage:

Ein Gate und die #Pirat­en sind nicht dabei? Ich pran­gere das an! #kürschn­er­gate (25. Jan­u­ar 2012) [@AlterPirat]

Mal ein Gate, ohne dass #Pirat­en scheisse gebaut hät­ten. #kürschn­er­gate (25. Jan­u­ar 2012) [@TeleGehirn]

wüsste er, was ihr hier alles als “gate” beze­ich­net, würde richard nixon sich im grabe umdrehen. (25. Jan­u­ar 2012) [@dielilly]

Das ken­nen wir auch schon von Ismus (“Das ist doch bloß wieder so ein komis­ch­er Ismus!”) — das gernz­i­tiertes Beispiel von freige­set­zten Mor­phe­men (mit lexikalis­ch­er Bedeu­tung). Das macht Kom­mu­nis­mus oder Fem­i­nis­mus natür­lich nicht zu Kom­posi­ta. Aber bei Gate bestünde dur­chaus das Poten­tial, dass es sich für den kleinen, leicht amüsant anmu­ten­den Skan­dal für die Früh­stückspause dur­chaus verselb­st­ständigt. Abwarten. Aber Gemach, Gemach — immer­hin suchen wir hier den Anglizis­mus des Jahres 2011 und nicht das Freie Mor­phem 2012.

#kürch­n­er­gate ist seit Stun­den Top­trend bei Twit­ter. Das ist nicht über­raschend — und illus­tri­ert die Bedeu­tungsver­schiebung von -gate in die Rich­tung, dass sich bei dem entsprechen­den Ereig­nis eben noch nicht mal um einen Skan­dal han­deln muss, um ein Gate zu sein.

Produktivität?

Diese Ein­schätzung wird von einem Beitrag in der Frank­furter All­ge­meinen (21.01.2012) gestützt:

Aber man kann Lauer, der ein­er von 15 Abge­ord­neten der Piraten­partei im Berlin­er Abge­ord­neten­haus ist, auch sehr schnell zum Aus­ras­ten brin­gen. Man muss nur „Part­ner­gate“ sagen, „Salz­gate“ oder „Eso­gate“. Es sind die auf Twit­ter benutzten Codewörter der Skandälchen, mit denen die Berlin­er Pirat­en es in let­zter Zeit regelmäßig in die Haupt­stadt­boule­vard­presse geschafft haben.

Also davon abge­se­hen, dass wir ver­mut­lich Prob­leme mit der Aktu­al­ität bekom­men, finde ich diese Bedeu­tungsver­schiebung eigentlich ziem­lich rel­e­vant für die Wahl. Die Suche im Cos­mas II bleibt hier ober­fläch­lich, aber ein gewiss­es Muster zeich­net sich ab:

Waterkant­gate” nen­nen spitze Zun­gen die kaum glaublichen Wahlkampfvorgänge, die bewirk­ten, daß laut und in allen Lagern von Poli­tik und Gesellschaft die Frage nach der Moral der Macht gestellt wird.
1987, Mannheimer Mor­gen, 3. Dezem­ber [H87/KM6.09413]

Welchen Song müßte er heute spie­len, um sein durch “Mon­ica­gate” ram­poniertes Image aufzupolieren?
1998, Frank­furter Rund­schau, 6. April [R98/APR.27953]

Die Lokal­presse fand einen grif­fi­gen Titel für den Abhörskan­dal im CDU-Haus: “Weser­gate”.
2003, Rhein-Zeitung, 1. Juli [RHZ03/JUL.00398]

Der Skan­dal hat­te als »Nip­ple­gate« für Schlagzeilen gesorgt.
2004, Nürn­berg­er Nachricht­en, 24. April [NUN04/SEP.02343]

Die Medi­en sprechen schon vom „Karatschi-Gate“ mit dem Poten­zial, Frankre­ichs neue Staat­saf­färe zu werden.
2010, Nürn­berg­er Nachricht­en, 23. Novem­ber [NUN10/NOV.02267]

Auch ein Kabi­nettsmit­glied ges­tand, dass ein Krawat­ten­verzicht erhe­blichen häus­lichen Ärg­er aus­gelöst hätte. Krawat­ten-Befür­worter sehen in See­hofers Vorstoß ein bedauer­lich­es Krawat­ten-Gate: „Stil­los“ und eine „Mis­sach­tung des Par­la­ments“, schimpfte ein auf Tra­di­tion bedachter CSU-Abgeordneter.
NUZ11/JUL.01355 Nürn­berg­er Zeitung, 14.07.2011

Es ist nur eine Stich­probe — aber wir sind im Deutschen offen­bar von der großen Staat­saf­färe zum kleinen Kan­ti­nen­witz gewan­dert. Von Water­gate zu bajuwarischen Empörung über Krawat­ten? Also da gehört schon eine gehörige Por­tion Dra­maque­enge­quen­gel, aus Let­zterem sowas wie Ern­sthaftigkeit rauszule­sen. Außer­dem fehlt der heuti­gen Ver­wen­dung der Aspekt der Ursprungs­be­deu­tung bzw. der, die noch in den 2000er Jahren vorherrschend war, näm­lich das des Staatsskan­dals und des die Öffentlichkeit täuschen­den Vertuschens.

Fazit?

Ich bin mir nicht sich­er, ob all diese Argu­mente -gate wirk­lich für einen der Top­plätze qual­i­fizieren. Was aber inter­es­sant ist, in Erman­gelung der son­st eher dürfti­gen Erfül­lung der Nominierungskri­te­rien: Wir haben eine Bedeu­tungsver­schiebung zum kleinen, amüsan­ten Skan­dal für zwis­chen­durch. Erneut ist für diese Ein­schätzung natür­lich der Sog von Twit­ter mitver­ant­wortlich. Und in der Kürze der Zeit dann trotz­dem eine span­nende und unter­halt­same Ent­deck­ung, auch für mich. So ist -gate dann doch irgend­wie ein putziger Kan­di­dat — vielle­icht mit Außen­seit­er­chan­cen, weil wir jet­zt ver­all­ge­mein­ert und unge­hemmt pro­duk­tiv auf alles anwend­bar die Gates belächeln dürfen.

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