Als wir vor ein paar Wochen die Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2011 vorgestellt haben, gab es zu fast jedem Wort einen der folgenden Kommentare: „Das Wort ist viel zu alt, das kenne ich schon ewig“ und „Das Wort habe ich noch nie gehört, das kann es gar nicht geben.“ Das liegt natürlich in der Natur der Sache: Wir suchen zwar ein englisches Lehnwort, dass sich 2011 im Sprachgebrauch etabliert hat, aber die Entlehnung und breitere Akzeptanz eines Lehnwortes spielt sich eben nicht innerhalb eines einzigen Jahres ab, sondern ist ein Prozess, der leicht ein Jahrzehnt oder länger dauern kann.
Die Wörter Cyberwar und Cyberkrieg dürften für viele in die Kategorie „Zu alt, kenn ich schon“ fallen. Auf den ersten Blick scheint es keinen ernsthafen Anspruch auf den Titel erheben zu können. Wie wir gleich sehen werden, täuscht das aber: Alt ist das Wort, aber im breiteren Sprachgebrauch findet es sich noch nicht sehr lange.
Bevor ich mir die Wörter genauer ansehe, zunächst eine Bemerkung zum zweiten wichtigen Kriterium: Der Frage, ob das Wort die deutsche Sprache „bereichert“. Die Antwort darauf habe ich schon vor fast einem Jahr in einem Beitrag über die Wörter Cyberwar und Cyberkrieg und die Vor- und Frühgeschichte des Präfixes cyber- gegeben. Ich zitiere einfach meine Schlussfolgerung voon damals und verweise für die Begründung auf den Beitrag selbst:
Das Wort Cyberkrieg scheint mir eine sinnvolle Ergänzung der deutschen Sprache zu sein (für die Komplettübernahme des englischen Cyberwar gibt es tatsächlich außer individuellen Geschmackspräferenzen keinen besonderen Grund, da war und Krieg — anders als space und Raum — absolut bedeutungsgleich sind und Cyberwar damit kein differenzierendes Potenzial gegenüber Cyberkrieg hat).
Cyber- ist überhaupt ganz allgemein ein schönes Präfix, das an vielen Stellen nützlich sein kann. Seine Entstehungsgeschichte zeigt übrigens, dass Einzelpersonen — wie hier William Gibson — tatsächlich einen Einfluss auf die Entwicklung von Sprache nehmen können, wenn sie — ich habe das schon des öfteren ausdrücklich gesagt — Sprache einfach auf neue, interessante Weise verwenden, statt immer nur am Rand zu stehen und anderen Sprecher/innen Vorschriften zu machen.
Damit zurück zur Frage des Alters und der Häufigkeit der Wörter. Tatsächlich finden sich sowohl Cyberwar als auch Cyberkrieg schon seit Mitte der 1990er Jahre in deutschsprachigen Büchern und Zeitungen. Allerdings führen die Wörter danach viele Jahre ein Nischendasein und haben erst in den letzten Jahren einen deutlichen Häufigkeitsanstieg erfahren. Am besten sieht man das im Deutschen Referenzkorpus des Instituts für deutsche Sprache (DeReKo), in dem die Wörter (von punktuellen Schwankungen) bis 2010 vor sich hin dümpeln, und dann einen großen Sprung machen.
Auf dieser Grundlage allein wäre das Wort ein guter Anglizismus des Jahres 2010 gewesen, aber 2011 scheint es keinen nennenswerten Anstieg zu geben (Cyberkrieg wird sogar seltener). Allerdings ist zu bedenken, dass das Jahr 2011 im DeReKo bislang mit deutlich weniger Texten vertreten als die Jahre davor. Die Häufigkeit von Cyberwar und Cyberkrieg habe ich zwar für alle Jahre auf eine Bezugsgröße von 100 Millionen Wörtern normalisiert, aber diese Normalisierung ist natürlich umso ungenauer, je geringer die Textmenge ist.
Zum Vergleich habe ich deshalb Google News Deutschland für die letzten 10 Jahre nach den Wörtern Cyberwar und Cyberkrieg durchsucht und die Zahlen ebenfalls wie oben normalisiert. Das Ergebnis ist natürlich mit Vorsicht zu genießen, da nicht bekannt ist, wie Googles Algorithmus Häufigkeiten schätzt. Bei Google News ist die Textmenge umso geringer, je weiter man in die Vergangenheit geht, sodass dort die frühen Ergebnisse weniger genau sind als die späten.
Zunächst bestätigt sich in allgemeinen Zügen das Ergebnis aus dem Deutschen Referenzkorpus: Von einzelnen Schwankungen abgesehen gibt es ab 2009 einen durchgehenden Anstieg. Anders als im DeReKo zeigt sich hier ein großer Sprung zwischen 2010 und 2011 (vor allem für Cyberwar).
Es gibt leider keine guten zusätzlichen Datenquellen: Bei Google Books sind die Wörter insgesamt zu selten, als dass man den Schwankungen von Jahr zu Jahr zuviel Bedeutung beimessen kann, und bei Google Trends gibt es für Deutschland gar keine Ergebnisse, da nach den Wörtern nicht häufig genug gesucht wurde.
Auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten, und angesichts einer gewissen Unschärfe bei den Informationen zur Entwicklung der letzten zwei Jahre, erkläre ich deshalb Cyberwar und Cyberkrieg zu qualifizierten Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2011.
[Alle Beiträge der Jury zu den Wortkandidaten findet man über das Anglizismus-des-Jahres-Blog]
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Stuxnet und Cyberwar
Der starke Anstieg dürfte vor allem auf die Berichterstattung über Stuxnet zurückzuführen sein. Hier ein paar Beispiele:
Iran bestätigt Cyber-Angriff durch Stuxnet [Update]
Regierung hält Stuxnet nicht für Cyber-Terrorismus
Cyber-Angriff: Stuxnet-Bruder späht Rechner in Europa aus
Cyberwar gegen Iran: Nach Stuxnet kommt Stars
Ralph Langner: Stuxnet knacken, eine Cyber-Waffe des 21. Jahrhunderts
Cyberwar: Regierung hält Stuxnet nicht für Cyberterrorismus
Stuxnet alarmiert Schweizer Cyberexperten
.. und noch ein paar tausend Fundstellen mehr
Es scheint aber keine gute Idee, Cyberkrieg als Anglizismus zu nehmen, besser wäre einfach Cyber, denn man findet kaum Cyberkrieg im Internet, wohl aber Cyberterrorismus, Cyberangriff, Cyberwar.
Lesbarkeit
Hallo,
seit kurzem sind die Sprachlog-Beiträge, auch die alten, im Google-Reader unter Firefox kaum mehr sinnvoll lesbar, was ich sehr schade finde.
Beispiel:
“Bevor ich mir die Wörter genauer ansehe, zunächst eine Bemerkung zum zweiten wichtigen Kriterium: Der Frage, ob das Wort die deutsche Sprache „bereichert“. Die Antwort darauf habe ich schon vor fast einem Jahr in einem Beitrag über die Wörter Cyberwar und Cyberkrieg und die Vor- und Frühgeschichte des Präfixes cyber- gegeben. Ich zitiere einfach meine Schlussfolgerung voon damals und verweise für die Begründung auf den Beitrag selbst …”
Viele Grüße
speybridge
Lesbarkeit, die nächste
Interessanterweise wird der Text, in dem im Google-Reader/Firefox jedes Sonderzeichen und jede Formatierung mit sichtbarem HTML-Code versehen ist, im Kommentar wieder “störungsfrei” dargestellt …
Okay, da übersteht Cyberkrieg/Cyberwar also auch die zweite Auswahlrunde. Ein geeigneter Siegkandidat ist es für mich allerdings trotzdem nicht, dafür war die Bedeutung 2011 einfach zu gering.
Lesbarkeit
@speybridge Das Problem ist bekannt, aber nach Aussage unserer Technik „kann man da nichts machen“.
Ich selber kann das Problem unter Mac OS X in keinem Browser replizieren, und kann keinen echten Ratschlag geben. Allerdings haben einige User mir berichtet, dass die Probleme nur beim Atom-Feed, aber nicht beim RSS-Feed auftreten, bei anderen verschwand das Problem, wenn das Blog aus dem Reader entfernt und dann neu hinzugefügt wurde.
Wenn das alles nicht klappt, bleibt nur eins: Abwarten, bis die SciLogs auf ein modernes Blogsystem umziehen (was seit Jahren „noch etwa ein halbes Jahr“ dauern wird), oder bis das Sprachlog die Geduld mit dem lustlos zusammengefrickelten Stück Blogsteinzeit verliert, dass sich „LifeType“ nennt, und sich unabhängig macht.
Wenn jemand weiß, wie sich der Feed abzapfen und in etwas lesbares überführen lässt, bin ich für Hinweise dankbar (bitte nicht hier in die Kommentare, sondern per E‑Mail).
Lesbarkeit, die dritte
Danke für den Tipp: Ich habe das Abonnement (war aber auch RSS) gekündigt und erneuert: Jetzt ist alles wieder störungsfrei lesbar.
Interessanterweise war das Problem erst mit dem vorletzten Post aufgetaucht; Sprachlog habe ich aber schon lange abonniert und nie Darstellungsprobleme gehabt. Warum diese dann plötzlich das Lesen erschwerten — keine Ahnung.
Cyber
Laut Wikipedia (D) ist Cyber entweder ein altgriechisches Präfix (mit k im Anlaut) oder (in englischer Aussprache, nehme ich an) ein Teil der Discoszene.
Ohne Suffix(e) geht’s also zwar auch, dann wird’s jedoch missverständlich.
Relevanz
Für „Cyberwar“ spricht für mich auch die Relevanz des Themas. Mit diesem Phänomen werden wir uns auf allen Ebenen wohl die nächsten Jahre intensiver auseinandersetzen als mit dem Phänomen „Bromance“.
Cyber-
…dafür!
Weil es ein als Anglizismus verkleideter Gräzismus ist. Und weil wir kein Wort dafür haben. Weil es — in seiner englischen Emigration — so einen Geschmack von “hyper-” angenommen hat. Weil kein Schwein versteht, was zwischen “hyper-” und “cyber-” liegt.
Haben wir wieder was zu erklären. Prima.
“Cyber-Hype”?
Klingt doch gut.
Jetzt drehen sie alle durch.
@Helmut Wicht : Kybernetik=>Cyber
Sie schreiben:
Wir haben schon lange einen Fachbegriff mit dem Wortstamm Cyber, nämlich Kybernetik
Nach Wikipedia hat dieses Fachgebiet folgende Geschichte:
Mir ist dieser Begriff — also Kybernetik — durchaus geläufig. Doch zwischenzeitlich geriet er in Vergessenheit. Jetzt kehrt Kyber als Cyber wieder zurück, wieder aufgekommen durch William Gibson’s Neuromancer, der den Begriff sicher nicht neu erfunden hat, sondern einfach aus dem entsprechenden Fachgebiet cybernetics entlehnt hat.
@ Holzherr
Ja, sicher. Das Praefix “Cyber-” stopft eine Lücke, die sich dem altphilologisch beschlagenen Sprecher/Leser nie aufgetan hat: “kybernetischer Krieg”, das klingt auch schön, und meint das gleiche.
Trotzdem bin ich — ausnahmsweise — diesem Anglizismus nicht ganz abhold. Wie gesagt — wegen der klanglichen Nähe zum “hyper” (aber auch zum “hypo”, was nun schon wieder das Gegenteil ist..), die das Wort sich als Anglizismus erworden hat. Da zeichnen sich die Konturen einer Buchstabenspielwiese ab…
Ein ähnlich gelegener Fall sind die griechischen Suffixe “-trop”, “-troph”, “-top”, die mit minimaler Konsonantenschieberei massive Bedeutungswechsel erfahren.
Futter für den Poeten.
Herr Wicht, es beeindruckt mich immer wieder, wie Sie mit so viel Text so wenig sagen können. Ich find’s auch toll, dass sie Wörter wie abhold aus der Asservatenkammer hervorkramen.
Leider ist es mir ein Rätsel, wo Sie die klangliche Nähe zwischen dem cyber- in Cyberwar oder Cyberkrieg und dem im Deutschen verbreiteten hyper- sehen. Dies spricht man in der Standardsprache [hyÐpP] aus, während cyber- in Anlehnung an das Englische [saebP] ausgesprochen wird. Es gibt eventuell ganz wenige Ausnahmen, wo man hyper- ebenfalls [haepP] ausspricht, aber außer vielleicht Hyperlink (was viele auch zu [hyÐpPljKk] eindeutschen) und Scooters Hit aus den 90ern, werden eigentlich alle hyper-Verbindungen im Deutschen nicht in Analogie zum Englischen ausgesprochen, vgl. Hyperaktivität, Hyperrealität, Hypertonie, Hyperglykämie, hyperventilieren usw.
Kann der Kommentarbereich jetzt neben kyrillischen Buchstaben auch kein IPA mehr? Das ist für einen sprachwissenschaftlichen Blog natürlich besonders praktisch.
Wie, bitte, ist ein ‘kybernetischer Krieg’ dasselbe wie Cyberwar? Und wenn wir schon dabei sind, was soll ein kybernetischer Krieg überhaupt sein?
Dierk, wie immer auf der Sinnsuche.
@ impala
Entschuldigung, da habe ICH schlampig gebloggt. Mit der “klanglichen Nähe” der unterschiedlichen Praefixe meinte ich deren reimende Anklänge im ENGLISCHEN. Das ist natürlich, da es hier ums Deutsche geht, ein intellektueller Kurzschluss, den mir nachzusehen ich bitte.
Wenn mir eine entschuldigende Erklärung erlaubt ist — ich muss dauernd auf Englisch vn “Hypophysis”, “Hypothalami”, “Hypertension” und ähnlichem biomed. Kram reden und schreiben — mir sind die Alliterationssphären verrutscht.
Gereimte Apologese:
Das Feld voll toter Leiber war
gestern. Heut’ ist Cyberwar.
Das sind die neuen Hyperkriege
die dennoch ich schon überkriege.
Denn ich finde allemal:
Krieg ist stets hypoptimal.
@ Dierk
“kybernetischer Krieg” — “Krieg der Steuermänner/Steuerungen/Steuersysteme” — warum nicht?
Hab’ aber wirklich nicht den Ehrgeiz, NOCH mehr Woret zu machen. Wie gesagt: “ßeiberwoars” find ich ganz gut.
@Dierk: kybernetischer Krieg=Cyber war?
Auch ich bin mir nicht im klaren was kybernetischer Krieg sein soll, während cyber war durch die Art wie es gebraucht wird (z.B. im Zusammenhang mit Stuxnet oder mit online-Spionage) in seiner Bedeutung viel klarer ist.
Doch im Internet findet man zum Beispiel im mehrsprachigen Archivdie folgende Definition:
Cyber-Kriegsführung (alias kybernetischer Krieg[1]oder Cyberwar) ist der Gebrauch Computer und Internet beim Leiten Kriegsführung in Cyberspace.[2]
oder im Studienbuch Informatik und Gesellschaft
von Christian Fuchs,Wolfgang Hofkirchner:
Es herrscht also grosse Unsicherheit. Gegen die Verwendung des Begriffs kybernetischer Krieg spricht die fehlende Sprachpraxis.
@ impale
“Ich find’s auch toll, dass sie Wörter wie abhold aus der Asservatenkammer hervorkramen.”
Sie dauern mich. Die Wörter.
Der Anglizismus oder
…oder die Lücke des Jahres. Gähn…
Wie erfrischend hingegen ist dieser Wettbewerb: http://deutschesprachwelt.de/sprachwahrer/
Da geht es gerecht zu wie beim Zahnarzt. Menschen ohne Lücken bekommen das Lob.
Cyberspace, Cyberutopismus, Cybermobbing
In der NZZ vom 31.01.2012 finden sich unter dem Titel Säkularisierung des Cyberspace (Thema Twitter-Zensur) folgende Passagen:
Im Tagesanzeiger vom 31.01.2012 findet sich auf Seite 12 (auf der Kehrseite) folgender Untertititel
Im Text dazu findet sich dann folgende Passage