Anglizismus des Jahres 2011

Von Anatol Stefanowitsch

Zugegeben, der „Anglizis­mus des Jahres“, den wir 2010 erst­ma­lig gekürt haben, ist nicht auf ein­hel­lige Begeis­terung gestoßen. Der Redak­tion­sleit­er des „wochenkuri­er Ennepe-Ruhr“, zum Beispiel, reagierte auf die Pressemel­dung, in der die Jury ihre Entschei­dung für das Wort leak­en bekan­nt­gab, mit der „her­zlichen“ Bitte, „kün­ftig von solchen Zusendun­gen abzuse­hen“. Seine Zeitung, ließ er uns wis­sen „ver­sucht aus Überzeu­gung, Anglizis­men weitest­ge­hend aus dem Blatt her­auszuhal­ten.“ Außer­dem wisse er nicht, was „Leak­en“ über­haupt bedeuten solle.

Auch in der Poli­tik stießen wir auf vere­inzelte Unmut­säußerun­gen. Hans-Peter Fan­ti­ni, Stadtverord­neter der FDP in Neuss am Rhein, beschuldigte uns per E‑Mail, mit der Wahl des Wortes leak­en „einen weit­eren Beitrag zur Verun­sicherung der­er geleis­tet [zu haben], die ver­suchen sich in die Fein­heit­en der deutschen Sprache einzuarbeiten.“ 

Wir wollen hier nicht nach­hak­en, ob der „wochenkuri­er Ennepe-Ruhr“ grund­sät­zlich nur über Dinge berichtet, die man auch im eige­nen Hause prak­tiziert — plau­si­bel wäre die Annahme. Wir wollen auch nicht darauf beste­hen, dass unsere dama­lige Presserk­lärung selb­stver­ständlich erk­lärt hat, was leak­en bedeutet. Eben­sowenig, wie wir darauf hin­weisen wollen, dass es nicht die Jury des „Anglizis­mus des Jahres“, son­dern die deutsche Sprachge­mein­schaft war, die das Wort leak­en in den Sprachge­brauch einge­führt hat, und dass wir uns für die Ver­wirrung möglich­er fein­heitlich ori­en­tiert­er Sich-in-die-Sprache-einar­bei­t­en­der Mit­men­schen nicht ver­ant­wortlich fühlen.

Stattdessen inter­pretieren wir diese (und ähn­liche) Reak­tio­nen als Sig­nal für den großen Aufk­lärungs­be­darf, den es bezüglich der Rolle und Funk­tion englis­ch­er Lehn­wörter im Deutschen noch gibt, und eröff­nen heute die Wahl zum „Anglizis­mus des Jahres 2011“.

Wir“, das ist wie schon im let­zten Jahr eine von mir ernan­nte Jury aus bloggen­den Sprachwissenschaftler/innen, die ich in den näch­sten Wochen aus­führlich­er vorstellen werde. Wie beim let­zten Mal sind Kristin Kopf (Sch­plock), Susanne Flach (decaf – cof­fee and lin­guis­tics) und Michael Mann (lexiko­gra­phieblog) dabei, neu dazu kommt Lehn­wor­t­ex­perte Jan Wohlge­muth (linguisten.de).

Wir hof­fen auch in diesem Jahr nicht vor­rangig auf Unwillen und Abwehrreflexe, son­dern auf span­nende Nominierun­gen, auf Spaß an der Sprache und ihrer Verän­derung und auf Freude an der Diskus­sion über die Bedeu­tung und den Gebrauch neuer Lehn­wörter — und gerne auch über deren Sinn und Unsinn.

Denn tat­säch­lich stieß die Wahl von leak­en sein­erzeit über­wiegend auf ein pos­i­tives Echo. Bernd Matthies lobte im Tagesspiegel den „ganz neuen Aspekt“, den die Wahl in die Debat­te um Anglizis­men gebracht habe, die ja anson­sten häu­fig für „Angst und Schreck­en“ sorgten und „deshalb von engagierten Sprach­schützern gern mit dem Flam­men­schw­ert bekämpft“ wür­den. Leak­en hielt er für eine „gute Wahl“, eine Ein­schätzung, der sich im Großen und Ganzen auch Alexan­der Dick in der Badis­chen Zeitung anschloss und zu Bedenken gab, dass die „Sprach­be­gabten“ unter uns spürten, „dass alle Über­set­zungs- und Ein­deutschungs-Ver­suche ein­er gewis­sen Hil­flosigkeit nicht ent­behren: Wik­ileck, Wikien­thül­lung – nee, nä?“.

Sog­ar der Guardian berichtete sein­erzeit über die Wahl und das Siegerwort, und merk­te an, dass die Liste der nominierten Wörter, „per­haps inevitably“, stark durch Wik­ileaks, Face­book und andere Net­zphänomene inspiri­ert war.

Wird das auch in diesem Jahr der Fall sein? Nominierun­gen wer­den ab sofort ent­ge­gengenom­men, und zwar auf der Nominierungs­seite der Aktion Anglizis­mus des Jahres.

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

5 Gedanken zu „Anglizismus des Jahres 2011

  1. Wentus

    Tech­nol­o­gis­che Erneuerung
    Was viele Sprach­schützer nicht ver­ste­hen, ist die Notwendigkeit, für neue Tech­nolo­gien auch neue Wörter zu schaffen.
    Bes­timmt hat auch jemand früher ein­mal sin­ngemäß gesagt: “Was soll die Red­erei von einem Faustkeil? Ich kann doch auch jeman­den mit einem Holzknüp­pel erschlagen!”
    Wer die Tech­nol­gie nicht ver­ste­ht, kann auch nicht ein­schätzen, in wieweit ein vorhan­denes Wort die Funk­tion erfüllen kann.

  2. fatmike182

    Warum ich die 2010er-Auswahl nicht opti­mal fand:
    ‘Leak­en‘ erfüllt viele Verge­hen ander­er Lehn­worte an deren Ursprungssprache nicht. Das wort wird in konkreten Fällen ange­wandt, für die es kein exakt passendes präg­nantes Wort gab und wird kaum in die All­t­agssprache einge­hen, da der Anwen­dungs­fall sehr speziell ist. Weit­ers wird kein Miss­brauch des Vok­a­bels an sich began­gen wie es bsp bei gewis­ser­maßen ‘Handy’ der Fall ist.
    Circeln habe ich nie wahrgenom­men, hoffe auf Frien­den doer ein Wirtschafts-blah-Wort

  3. Markus Schäfer

    Knos­re­va­tivis­mus und Technik
    Da die Sprach­be­wahrer von kon­ser­v­a­tivenm Geist getrieben wer­den, sind sie bes­timmt auch keine Ear­ly Adopters. Ergo sehen sie bes­timmt nicht die Notwendigkeit, für tech­nis­che Neuerun­gen Aus­drücke zu find­en, bevor diese von diversen Sprach­schutzkom­mi­tees in jahre­langer Beratung abge­seg­net sind.

  4. Phaeake

    Und was bedeutet “leak­en” I.E. genau?
    Lei­der habe ich die Pressemit­teilung von 2010 auf der Anglizis­mus-des-Jahres-Web­site nicht mehr gefun­den. Und im Netz gibt sehr unter­schiedliche Auf­fas­sun­gen darüber, was leak­en bedeutet. *Gehört* habe ich das Wort noch nie.

  5. Stefan Sasse

    Vorschläge
    Mein Favorit:
    — adden
    Begriff, um jeman­den irgend­wo hinzuzufü­gen, etwa Skype, ICQ oder Steam. “Jeman­den adden”, “adde mich”
    Weitere:
    — Frienden
    — Liq­uid Democracy
    — Haircut
    — Occupy

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