Im Sprachlog geht es zur Zeit um die Form Witwerin (statt Witwe) und ihre möglichen Ursachen. (Kurzversion: Es handelt sich um eine Analogiebildung zu all den anderen abgeleiteten Formen auf -in, die an Personenbezeichnungen auf -er angehängt werden.)
In den Kommentaren kam die Frage auf, ob Witwe und Witwerin einmal gleichberechtigt nebeneinander existierten:
Waren damals die Witwerin ein glecihberechtigtes Synonym zur Witwe? Oder war Witwe immer das Grundwort und die Witwerin war immer eine zweifelhafte Nebenform. Wann und warum setzte sich die Witwe durch?
Nun haben wir leider keine perfekten historischen Korpora, aber ich glaube, dass das, was es so gibt, auch ein ganz gutes Bild vermittelt.1 Ich habe mal bei GoogleBooks alle deutschsprachigen Bücher nach Jahrhunderten getrennt durchsucht, beginnend mit dem 16. Jahrhundert. (Vorher sah es ja bekanntlich mau aus mit dem Buchdruck.)
Kaum einer mag die Witwerin
Die Ergebnisse zeigen recht deutlich, dass Witwerin immer nur eine (mit gutem Willen) Nebenform war:Mhm, sie kommt in diesen Texten erstmals im 18. Jahrhundert vor, und zwar mit 5 Belegen (0,7%). Dann werden es 13 (1,6%) und schließlich 22 (2,7%), oft sind die Belege aber keine richtigen, weil es darum geht, dass es das Wort nicht gebe, wie hier:
Die Witwerin wird also zwar immer wieder gebildet, ist aber nicht von großer Bedeutung und scheint es auch nie gewesen zu sein.
Der und die Witwe
Die Witwe hatte übrigens schon früh ein männliches Gegenstück, das aber … auch Witwe lautete.
Der Grund dafür ist in der althochdeutschen Wortbildung zu suchen: Für Personen fügte man an den Wortstamm entweder -o für Männer (beck-o ‘Bäcker’) oder -a für Frauen (beck-a) an.
Dummerweise kam dann die Nebensilbenabschwächung, bei der alle unbetonten Silben in Schwa (-e) verwandelt wurden, sodass es für beide Geschlechter beck-e hieß. Dieses Schwa fiel dann auch noch in vielen Dialekten weg.
So wurde auch aus ahd. wituw‑a und wituw‑o beide Male witw‑e. Die männliche Form der Witwe blieb laut DWB noch bis ins 16. Jahrhundert erhalten, verschwand dann aber – vermutlich zugunsten der deutlicheren Form Witwer, genauso wie der Beck hochsprachlich verschwand und durch den Bäcker ersetzt wurde.2
Dass sich die Witwe halten konnte (im Gegensatz zu z.B. die Beck(e)), hängt wahrscheinlich mit dem Bezeichneten zusammen: Eine Frau, deren Mann verstorben war, musste viel eher als solche markiert werden als umgekehrt, hatte das für sie doch erhebliche soziale und finanzielle Konsequenzen. Der Mann hingegen konnte nach wie vor z.B. über seinen Beruf definiert werden. Die weibliche Form wird daher (das behaupte ich einfach mal so) viel häufiger gebraucht worden sein als ihr männliches Äquivalent.
Quellen:
- Grimm, Jacob und Wilhelm (1854–1960): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig.
- Köbler, Gerhard (1993): Althochdeutsches Wörterbuch. 4. Auflage.
Fußnoten:
1 Methodische Probleme damit gibt es massenweise. Ich nenne nur ein paar:
- Die Bücherzahl unterscheidet sich von Jahrhundert zu Jahrhundert ganz massiv.
- Ältere Bücher sind in Fraktur geschrieben, die oft fehlerhaft texterkannt wird, daher entgehen uns Belege.
- Einige Bücher sind in verschiedenen Ausgaben mehrmals erfasst, das ist besonders für die Jahrhunderte schlimm, in denen sowieso wenige Bücher vorhanden sind.
- Die Datierung ist nicht immer zuverlässig.
2 -er stammt übrigens aus dem Lateinischen -arius, das erstmals im Althochdeutschen als -ari auftaucht, im Mittelhochdeutschen dann zu -ære und schließlich zu -er wird. Es übernahm die Personenbezeichnungsbildungen zunächst graduell und schließlich quasi komplett. Aber dazu vielleicht ein andermal.
Das Wort „Witwe“ lässt sich relativ gut bis in indogermanische Zeit zurückverfolgen, außer dem germanischen Befund haben wir lat. vidua, air. fedb, aind. vidhávā, akslav. vьdova: *widhewā
Und obwohl all diese Sprachen über reichhaltige Motion verfügten, gibt es kein (bezeugtes) männliches Gegenstück, weder ererbt noch neugebildet (von „Witwer“ abgesehen, lat. viduus bedeutet etwas anderes.)
Die Ausgangsbedeutung scheint aber weiter gefasst gewesen zu sein, nämlich nicht nur „Witwe“, sondern auch „ledige Frau, Jungfrau“, also generell „Frau ohne Mann“.
Jetzt kann man spekulieren, dass die Frau ja auf einen Mann als Versorger angewiesen war und deshalb eine Frau ohne Mann etwas besonders war, das speziell benannt werden musste, während ein Mann ohne Frau dessen nicht bedurfte.
Ich muss mich korrigieren: im Russischen gibt es neben вдова (vdova, der Fortsetzer von urslav. *vьdova) den Witwer вдовец (vdovec).
Das Wort ist aber im Altkirchenslavischen nicht belegt und sicher auch von der weiblichen Form abgeleitet, ansonsten würde ich вдов (vdov) aus urslav. *vьdovъ erwarten.
Als alle anderen die Augen verdrehten und dachten “whatever”, weil der Prof sich im Etymologisieren verlor, waren meine glänzend und ich lauschte gebannt – und so kam es mir jetzt auch vor. Die eingestreuten Exkurse machen mich gleich wieder neugierig auf ganz viele Dinge… Danke 🙂
Wie? Es gibt keine Väterin? Gibt’s am Ende auch keinen Mütterich? 🙂