Witwer und Witwerinnen

Von Anatol Stefanowitsch

Im Blog Kom­pe­ten­zteam für schöne und für schlimme Wörter wer­den, wie der Name schon sagt, „schöne und schlimme Wörter“ gesam­melt. Let­zte Woche sam­melte jemand das Wort Witwerin­nen in die Kat­e­gorie „schlimme Wörter“:

Witwerin­nen … Solch­es sprach in der Kom­bi­na­tion „Witwer und Witwerin­nen“ die Qual­ität­sjour­nal­istin Brigitte Büsch­er in der gestri­gen Aus­gabe von „Hart aber fair“. Und zwar mehr als ein­mal. Zeit für einen Seman­tik-Check. [Link]

Die Schuld an diesem Ver­sprech­er gab man umge­hend der „poli­tisch kor­rek­ten, ins­beson­dere gen­der­be­wußten Sprache“ [Lud­wig Tre­pl] und dem „durchge­gen­derten Medi­en- und Polit­deutsch“ [Nachtwächter].

Aber ganz so ein­fach ist es nicht. Das Wort wäre eigentlich (wie vielle­icht die Mehrzahl der vom Kom­pe­ten­zteam gesam­melten Wörter) in ein­er lei­der fehlen­den Kat­e­gorie „inter­es­sante Wörter“ bess­er aufgehoben.

Sich­er ist es nicht unplau­si­bel, dass die im Bemühen um gerechte Sprache häu­fig ver­wen­dete Formel [X und X-innen] bei dem Ver­sprech­er eine Rolle gespielt hat. Aber dafür, dass Büsch­er dieser Lap­sus aus­gerech­net bei dem Wort­paar Witwe/Witwer unter­laufen ist, gibt es tiefe sprach­struk­turelle Gründe. Die haben zwar auch etwas mit Geschlechterg­erechtigkeit zu tun, aber auf eine sub­tile Art und Weise, die mit poli­tis­ch­er Kor­rek­theit und durchge­gen­dertem Medi­en­deutsch nicht viel zu tun hat.

Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen fol­gen in der Regel einem von vier Mustern:

  1. Das­selbe Wort beze­ich­net männliche und weib­liche Per­so­n­en, z.B. Men­sch, Säugling, Gast, Per­son, Geisel, Hil­f­skraft, Mit­glied (hier stim­men gram­ma­tis­ches und natür­lich­es Geschlecht übri­gens nicht übere­in — auch eine Frau wird als der Gast, auch ein Mann als die Geisel, und Män­ner und Frauen als das Mit­glied bezeichnet).
  2. Es gibt es zwei völ­lig unter­schiedliche Wörter für männliche und weib­liche Per­so­n­en, z.B. Mann/Frau, Junge/Mädchen, Bruder/Schwester, Vater/Mutter (hier sit­m­men gram­ma­tis­ches und natür­lich­es Geschlecht weit­ge­hend übere­in, mit Aus­nah­men wie das Mäd­chen).
  3. Die Wörter für männliche und weib­liche Per­so­n­en sind gle­ich­berechtigt von ein­er gemein­samen Grund­form (einem Adjek­tiv oder Par­tizip) abgeleit­et, z.B. Deutscher/e, Grüner/e, Studierender/e, Reisender/e (auch hier stim­men gram­ma­tis­ches und natür­lich­es Geschlecht immer überein).
  4. Das Wort für weib­liche Per­so­n­en ist von dem für männliche abgeleit­et, z.B. Blogger/in, Erfinder/in, Meister/in, Torhüter/in, Vorstädter/in, usw. (hier stim­men gram­ma­tis­ches und natür­lich­es Geschlecht immer überein).

Uns inter­essiert hier die vierte Kat­e­gorie, da diese ja dem Ver­sprech­er Witwer und Witwerin­nen zugrunde liegt. Die einzige pro­duk­tive Endung (also die einzige, mit der regel­haft neue Wörter erzeugt wer­den kön­nen) ist hier die Endung -in, andere Endun­gen sind auf einzelne Wörter beschränkt (z.B. Steward/ess) und/oder ver­al­tet (z.B. Friseur/Friseuse). Die Pro­duk­tiv­ität der Endung -in ist der Grund dafür, dass die Formel [X und X-innen] sehr häu­fig ist. Die „männlichen“ Wörter in dieser Kat­e­gorie enden zwar nicht auss­chließlich auf -er (z.B. Kunde/Kundin, König/Königin), aber sehr häufig.

Die Häu­figkeit dieser Kat­e­gorie von Wörtern und die Pro­duk­tiv­ität von -in allein erk­lären aber den Ver­sprech­er noch nicht völlständig.

Hinzu kommt näm­lich noch, dass das Wort­paar Witwe/Witwer zu ein­er winzigk­leinen Gruppe von Wörtern gehört, die sich genau ent­ge­genge­set­zt zu der oben dargestell­ten vierten Kat­e­gorie ver­hal­ten, bei denen also die Beze­ich­nung für männliche Per­so­n­en von der für weib­liche Per­so­n­en abgeleit­et ist (die einzi­gen anderen Beispiele, die mir ein­fall­en, sind Hexe/Hexer und Braut/Bräutigam). Außer­dem passt das Wort Witwer for­mal und seman­tisch auch noch genau in die vierte Kat­e­gorie — es beze­ich­net männliche Per­so­n­en und endet auf -er. Wer also Witwer und Witwerin­nen sagt, passt damit nur eine for­male Aus­nahme an ein häu­figes, regel­haftes Muster an.

Diese Art der Reg­u­lar­isierung von Aus­nah­men lässt sich in der Sprachgeschichte immer wieder beobacht­en, sie hat mit „poli­tis­ch­er Kor­rek­theit“ und „durchge­gen­dert­er Medi­en­sprache“ zunächst nichts zu tun. So über­rascht es auch nicht, dass sich die Form Witwerin im Deutschen schon seit Hun­derten von Jahren nach­weisen lässt, in Tex­ten, deren Ver­fass­er kaum im Ver­dacht ste­hen, gen­derver­wirrte Gut­men­schen zu sein.

Ein schönes Beispiel ist diese Pas­sage aus der Land­sor­d­nung des Her­zog­tums Würtem­berg von 1661, in der es, wenn ich das richtig ver­ste­he, darum geht, Geldgeschenke zu besteuern (wer Frak­tur nicht lesen kann, find­et eine Tran­skrip­tion im Mouse-Over):

Solchem nun zu begegnen / setzen / ordnen und wöllen Wir hiemit ernstlich / daß hinfüro / ausserhalb Vater / Mutter / Eni / Ana / Schweher und Schwiger / die hierinn ihren Willen haben sollen / sonst niemands / der Brüder / Schwestern / Gesipte und Angesipte / Mann oder Frawenpersonen / weiter oder mehr nicht schencken soll / dann das paar alter Personen / ein Gulden zu sechzig Kreutzer gerecknet / und ein einzechtige Eheperson / oder Witwer / Witwerin und dergleichen einiger Personen / ein Pfund Heller / aber ein ledige Person / junge Gesellen oder Jungfrawen / eins nicht weiter noch mehr / dann zehen Schilling / alles Unser Würtembergischen Landswerung / oder so viel werth / oder darunder / aber nicht darüber / bey Poen und Straff / so jemand mehr schencken / es sey gleich waran es wölle / oder in was schein es wölle / daß dieselbig Person Uns als viel sie geschenkt hat / zugeben und zu bezahlen verfallen seyn soll.

Solchem nun zu begeg­nen / set­zen / ord­nen und wöllen Wir hiemit ern­stlich / daß hin­füro / ausser­halb Vater / Mut­ter / Eni / Ana / Schwe­her und Schwiger / die hierinn ihren Willen haben sollen / son­st nie­mands / der Brüder / Schwest­ern / Gesipte und Ange­sipte / Mann oder Frawen­per­so­n­en / weit­er oder mehr nicht schenck­en soll / dann das paar alter Per­so­n­en / ein Gulden zu sechzig Kreutzer gereck­net / und ein einzechtige Ehep­er­son / oder Witwer / Witwerin und der­gle­ichen einiger Per­so­n­en / ein Pfund Heller / aber ein ledi­ge Per­son / junge Gesellen oder Jungfrawen / eins nicht weit­er noch mehr / dann zehen Schilling / alles Unser Würtem­ber­gis­chen Landswerung / oder so viel werth / oder darun­der / aber nicht darüber / bey Poen und Straff / so jemand mehr schenck­en / es sey gle­ich waran es wölle / oder in was schein es wölle / daß diesel­big Per­son Uns als viel sie geschenkt hat / zugeben und zu bezahlen ver­fall­en seyn soll.

Oder fol­gende Ver­hal­tensregel für Witwen aus den „Phan­tasien nach Petrarkas Manier“ von 1772:

Dir, armen Witwerin, in deinem Trauerklei­de / Dir thrä­nen­den geziemt es nicht, / in jenen Kreis zu gehn, wo die berauschte Freude / Sich junge Rosenkränze flicht!

Oder auch diese Pas­sage aus dem Teutschen Merkur von 1783 über einen teutschen Casanova:

Schon wieder, da Crispin! oft spielen muß Crispin, / das Ungeheuer das! von Lastern rettet ihn / nicht Eine Tugend! Schwach, was Gutes zu beginnen, ist er zur Lust nur stark! Er schont der Witwerinnen, / weil Hornaufsetzerey ihm lieblicher behagt!

Schon wieder, da Crispin! oft spie­len muß Crispin, / das Unge­heuer das! von Lastern ret­tet ihn / nicht Eine Tugend! Schwach, was Gutes zu begin­nen, ist er zur Lust nur stark! Er schont der Witwerin­nen, / weil Hor­nauf­set­zerey ihm lieblich­er behagt!

Ich kann über die jour­nal­is­tis­che Qual­ität und die gen­der­poli­tis­chen An- und Absicht­en der Brigitte Büsch­er nichts sagen. Aber sprach­lich set­zt sie sich hier (unbe­wusst) für die Regel­haftigkeit — und damit in gewiss­er Weise für die von Sprach­nör­glern so oft betrauerte „Logik“ — der deutschen Sprache ein.

Natür­lich ist diese Regel selb­st inhärent sex­is­tisch, und insofern ist Witwerin tat­säch­lich ein „schlimmes Wort“ — genau wie alle anderen Beze­ich­nun­gen für Frauen, die aus Beze­ich­nun­gen für Män­ner geform wer­den müssen wie Eva aus Adams Rippe.

Lei­der wäre die Alter­na­tive in vie­len Fällen, Frauen sprach­lich unsicht­bar zu machen und damit ver­hält es sich mit dieser Regel ähn­lich wie mit der Demokratie: Es ist die schlecht­este Option, mit Aus­nahme aller anderen.

 

Johann Friedrich, Her­zog zu Würt­tem­berg und Teck (1661): Deß Hert­zogth­umbs Würtem­berg gemeine Lands-Ord­nun­gen, Stuttgart [Google Books (Voll­text)]

Klamer Eber­hard Karl Schmidt (1772): Phan­tasien nach Petrarka’s Manier, Hal­ber­stadt und Lem­go [Google Books (Voll­text)]

Der Teutsche Merkur (1783) [Google Books (Voll­text)].

 

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

50 Gedanken zu „Witwer und Witwerinnen

  1. gnaddrig

    Kin­der­mund
    Meine Tochter hat im Alter von knapp drei Jahren mal von “die Bäck­erin” die männliche Form “der Bäck­erin­ner” abgeleit­et. Genau ana­log zu Witwe -> Witwer -> Witwerin, nur eben in umgekehrter Rich­tung, gendermäßig.

  2. Hermann Aichele

    Pro­grami­er-FehlerIn­nen?
    Und irgend­wo las ich mal vor Jahren, für einen Kirchen­tag habe man mit einem Com­put­er-Pro­gramm den Ein­ladung­s­text auf gen­der-gerechte Sprache durchko­r­rigiert. Ergeb­nis: Die prak­tis­chen Sitzgele­gen­heit­en in den Hallen wur­den als Pap­phock­erIn­nen oder Pap­phock­er und Pap­phock­erin­nen etikettiert.
    Ein paar Kon­ser­v­a­tive feix­ten, es geschehe den Ver­anstal­tern ger­ade recht.

  3. Felix

    gram­ma­tis­ches und natür­lich­es Geschlecht
    Wie lässt sich denn fest­stellen, ob in den Aus­drück­en der drit­ten und vierten Gruppe gram­ma­tis­ches und natür­lich­es Geschlecht übere­in­stim­men? Bevor die gen­der­be­zo­ge­nen Sprachregelung­s­ten­den­zen aufka­men, wurde die gram­ma­tisch männliche Form doch für bei­de natür­lichen Geschlechter gle­icher­maßen akzeptiert.
    Wäre das natür­liche Geschlecht in der Mor­pholo­gie der Nom­i­nal­isierun­gen indiziert, so hätte es niemals einen “weib­lichen Schüler/Reisenden” geben dür­fen, was aber m.E. vor 20 Jahren noch vol­lkom­men zuläs­sige Aus­drücke waren.
    Im Übri­gen müssten dann Nom­i­nal­isierun­gen unter­schiedlich behan­delt wer­den, je nach­dem ob sie sich auf belebte oder unbelebte Objek­te beziehen (vgl. “Kocher”, “Träger”), was mir nicht unbe­d­ingt plau­si­bel erscheint.

  4. Ludwig Trepl

    Doch durchge­gen­dert
    Warum, Herr Ste­fanow­itsch, wieder­holen Sie mehrmals, daß “Witwerin­nen” ein Ver­sprech­er gewe­sen sein soll? Was liegt Ihnen daran?
    Aber es war kein­er, wenn die Mel­dung wahr ist, daß die Qual­ität­sjour­nal­istin das Wort mehrmals wiederholte.
    Wie kam es dann zustande?
    Die Jour­nal­istin wußte vielle­icht nicht, daß es das Wort Witwe gibt, wohl aber kan­nte sie das Wort Witwer, und sie war der Mei­n­ung, daß Witwe unter Witwer mitläuft, so wie einst die Pro­fes­sorin unter Pro­fes­sor mitzu­laufen hat­te. Und so hat sie dann nach dem von Ihnen genan­nten Muster 4 ein “gen­derg­erecht­es” Wort gebildet.
    Oder sie hat ein­fach reflex­haft “Witwer und Witwerin­nen” gesagt, weil in der Äußerung eines Jour­nal­is­ten oder Poli­tik­ers (Entschuldigung, aber Sie ken­nen mich ja) eben pro Minute sound­sooft “… und ‑innen” vorzukom­men hat.
    In bei­den Fällen ist es angemessen, von „durchge­gen­derten Medi­en- und Polit­deutsch“ zu sprechen, wie es “Nachtwächter” getan hat.

  5. Anatol Stefanowitsch

    Natür­lich­es Geschlecht
    @Felix: Natür­lich­es Geschlecht gab es selb­stver­ständlich schon vor dem Aufkom­men gen­der­be­zo­gen­er „Sprachregelun­gen“ — man sieht das deut­lich an deik­tis­chen Ver­wen­dun­gen der Pronomen der/er und die/sie („Wie sieht er/der denn aus?“, „Was will die/sie denn?“, usw.).
    In der Tat kon­nte (und kann) man von „weib­lichen Schülern“ sprechen — inter­es­san­ter­weise aber nicht von „männlichen Schü­lerin­nen“ — eine Asym­me­trie im Ver­hält­nis von gram­ma­tis­chem und natür­lichem Geschlecht, die zu einem Teil darauf zurück­zuführen ist, dass die masku­line Form mor­phol­o­gisch unmarkiert und die fem­i­nine markiert ist, und zu einem anderen Teil darauf, dass die deutsche Sprache struk­turell sex­is­tisch ist.

  6. Markus G.

    Eine Frage
    Ich ver­ste­he nicht woran man fest macht das ein Wort aus dem anderen abgeleit­et wurde und nicht umgekehrt.
    Beispiel aus Fall 3: Deutscher/e
    Beispiel aus Fall 4: Blogger/in
    Das Beispiel aus Fall 3 kön­nte man doch auch so zeigen: Deutsche/r. Dann wäre es eigentlich auch aus Fall 4.
    Bezieht sich „abgeleit­et“ darauf welch­es Wort erwiesen­er­maßen his­torisch eher existierte? Oder gibt es irgen­deine Gram­matikregel die ich nicht kenne oder verstehe?

  7. Gast

    Passen doch in Muster 3
    Wieso soll Hexer/e und Witwer/e denn eigentlich ein eigenes fuen­ftes Muster brauchen, wenn sie doch genau in Muster 3 passen?

  8. Bernhard

    Muster 3 und 5
    @Gast:
    Par­tizip­i­en und Adjek­tive flek­tieren abhängig vom Deter­minier­er und haben das „r“ nur im starken (und gemis­cht­en, je nach Benen­nung) Nom­i­na­tiv, es ist eine Flex­ion­sendung, die nicht zum Wort gehört. (Man kön­nte sagen: Fem­i­ninum und Maskulinum sind in 3 ziem­lich gle­ich­berechtigt, insofern es kein „primäres“ Genus gibt.)
    „der Grüne“, „ein Grün­er“, „eines Grü­nen“, … „Witwer“ bleibt das „r“ aber und gehört zum Wort: „ein Witwer“, „der Witwer“, „des Witwers“, …

  9. Bernhard

    Spiel und Spaß
    Google bringt mir übri­gens für „+Schwes­t­erin­nen“ etwa 907 Treffer 😉

  10. Sprachen-Anwender

    Wit­frauen
    Meine Schwiegermut­ter beze­ich­net sich und die Frauen die sie vom Fried­hof ken­nt (allerd­ings nur im Plur­al) als “Wit­frauen”, ich nehme an weil Witwe noch aus der Ver­gan­gen­heit mit einem prekären Sta­tus ver­haftet ist, während diese Frauen Wert auf ihren Witwen-Sta­tus legen.

  11. Anatol Stefanowitsch

    .
    @ Markus G.: Bei Kat­e­gorie 3 gibt es jew­eils ein Adjek­tiv oder Par­tizip (z.B. deutsch, an das dann entwed­er eine „weib­liche“ Endung (-e) oder eine „männliche“ Endung (-er) ange­hängt wird, die dann für ver­schiedene Fälle unter­schiedlich dek­lin­iert wer­den. Deshalb ist klar, dass hier bei­de Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen jew­eils direkt vom Adjektiv/Partizip abgeleit­et sind. Bei Kat­e­gorie 4 gibt unter­schiedliche Grund­wörter (z.B. Sub­stan­tive wie Vorstadt, Verb­stämme wie erfind-), an die zunächst -er ange­hängt wird, um eine Per­so­n­en­beze­ich­nung zu erzeu­gen, und dann ggf. noch -in um Weib­lichkeit anzuzeigen.
    @ Gast: Wie Bern­hard schon sagt, sieht es nur ober­fläch­lich so aus, als passten Witwer/Witwe und Hexer/Hexe in Kat­e­gorie 3. Tat­säch­lich ver­hal­ten sich die Wörter in Kat­e­gorie 3 mor­phol­o­gisch wie Adjektive/Partizipien, Witwer/Witwe und Hexer/Hexe aber nicht:

    Mask. indefinit

    Nominativ
    ein Grüner
    ein Witwer

    Dativ
    einem Grünen
    einem Witwer (nicht: *einem Witwen)

    Akkusativ
    einen Grünen
    einen Witwer (nicht: *einem Witwen)

    Genitiv
    eines Grünen
    eines Witwers (nicht: *eines Witwen)

    Mask. definit

    Nominativ
    der Grüne
    der Witwer (nicht: *der Witwe)

    Dativ
    dem Grünen
    dem Witwer (nicht: *dem Witwen)

    Akkusativ
    den Grünen
    den Witwer (nicht: *den Witwen)

    Genitiv
    des Grünen
    des Witwers (nicht: *des Witwen)

    Fem. indefinit

    Nominativ
    eine Grüne
    eine Witwe

    Dativ
    ein­er Grünen
    ein­er Witwe (nicht: *ein­er Witwen)

    Akkusativ
    eine Grüne
    eine Witwe

    Genitiv
    ein­er Grünen
    ein­er Witwe (nicht: *ein­er Witwen)

    Fem. indefinit

    Nominativ
    die Grüne
    die Witwe

    Dativ
    der Grünen
    der Witwe (nicht: *der Witwen)

    Akkusativ
    die Grüne
    die Witwe

    Genitiv
    der Grünen
    der Witwe (nicht: *der Witwen)

    @ Mona, danke für die Hin­weise auf die Dialektformen.
    @ Sprachen-Anwen­der: Auch Wit­tfrau ist eine solche dialek­tale Vari­ante. Sie kön­nte tat­säch­lich aber auch ver­wen­det wer­den, um sich von Witwe bedeu­tungsmäßig abzu­gren­zen. Fra­gen Sie doch mal nach, wie bewusst die Wort­wahl ist!

  12. Ludwig Trepl

    @A.S. . 12.09.2011, 14:08
    Ich halte dieses Szenario auch nicht für beson­ders plau­si­bel, meine zweite Möglichkeit (reflex­haftes Benutzen üblich­er Jour­nal­is­ten- und Poli­tik­er-Formeln) scheint mir wahrschein­lich­er. Ver­sprech­er aber, meine ich, kann man auss­chließen — wie gesagt: wenn die Mel­dung stimmt, daß sie “Witwerin­nen” mehrmals wiederholte.

  13. Ludwig Trepl

    Sprachen-Anwen­der Witfrauen
    Ich kan­nte als Kind nur “Wit­frau”; “Witwe” gab es in meinem Dialekt gar nicht. Die Erk­lärung, daß “Witwe” mit einem “prekären Sta­tus ver­haftet” war, stimmt für diese Fall sich­er nicht.

  14. Gunnar

    Wit­tfrau
    @ Spo­rachen-Anwen­der und AS: Im Plattdeutschen wird reggelmäßig das Wort “Wit­fru” für Witwen ver­wen­det. Ver­mut­lich ist das “Wit­tfrau” aus qua­si als ein­hochdeutschung des Plattdeutschen herübergeschwappt.

  15. Sprachen-Anwender

    Wit­frauen
    @Gunnar und Lud­wig Trepl
    Meine Schwiegermut­ter ist wie ich fern von Platt aufgewach­sen — die Sin­gu­lar-Form Wit(t)frau habe ich sie noch nie benutzen gehört, ehrlich gesagt kan­nte ich die bis heute nicht. Ich bezwei­fle auch nicht dass es sich bei den Wit­frauen um eine einge­wan­derte dialek­tale Form handelt.
    Da diese Frau in ihren Sprach­mustern wie auch ihrem Wer­stesys­tem eine recht kon­ser­v­a­tive 60er-Jahre-Sozial­i­sa­tion erken­nen lässt halte ich es für sehr wahrschein­lich, dass das Wort Witwe für sie kon­notiert ist mit einem sozialen Sta­tus der sich von ihrem heuti­gen stark unter­schei­det. Es ist nur eine Annahme von mir. Zu bewusster Wort­wahl neigt sie allerd­ings nicht.

  16. Anatol Stefanowitsch

    Ver­sprech­er
    Nur, weil jemand etwas mehrmals sagt, heißt das nicht, dass es kein Ver­sprech­er ist. Ich weiß nicht, was „ reflex­haftes Benutzen üblich­er Jour­nal­is­ten- und Poli­tik­er-Formeln“ bedeuten soll — den Beitrag, den die Formel [X und X‑innen] leis­ten kön­nte, habe ich ja erwäh­nt. Der große Rest meines Beitrags han­delt davon, warum dieser Ver­sprech­er ger­ade bei Witwer/Witwerinnen passiert, und zwar seit Hun­derten von Jahren.
    Bin ich der einzige, der es langsam etwas anstren­gend find­et, dass sich nach jedem Beitrag gewisse Leute in den Kom­mentaren ein­find­en, die in kein­er Weise auf die Argu­men­ta­tion des Beitrags, die darin präsen­tierten Fak­ten einge­hen oder die Diskus­sions­beiträge ander­er Kommentator/innen einge­hen, son­dern statt dessen immer nur die Aus­sage „Ich bin aber trotz­dem mein­er unbe­grün­de­ten Mei­n­ung!“ wieder­holen? Wem „Erk­lärun­gen“ wie „Jour­nal­is­ten- und Poli­tik­er-Formeln“ genü­gen, dem sei das doch her­zlich gegön­nt, aber hier im Sprachlog dienen solche Ver­mu­tun­gen als Aus­gangspunkt von (sprach)wissenschaftlich motivierten Diskus­sio­nen, nicht als End­punkt. Wer let­zteres will, find­et das in Dutzen­den von Bas­t­ian-Sick-imi­tieren­den Sprachkolum­nen in deutschen Regionalzeitungen.

  17. Christoph Päper

    Gruppe 5 oder 3.2
    Es fehlt noch eine Gruppe, die über­wiegend, vielle­icht auss­chließlich, Kurzwörter enthält, z.B. Stu­di und Azu­bi. Obwohl sie gener­isch maskulin sind, lassen sich zu ihnen keine akzept­ablen geschlechtsspez­i­fis­chen For­men im Sin­gu­lar bilden (trotz der Qua­si­ex­is­tenz von Azu­bine) und im Plur­al sind sie stets geschlechtsneutral.
    Wäre Lin­guis­tik präskrip­tiv, wäre es eine inter­es­sante Auf­gabe, die Deriva­tion in Gruppe 4 so zu ändern, dass es markierte For­men für bei­de Sexus gäbe. Die anderen sind bzgl. des ange­blichen sprach­struk­turellen Sex­is­mus des Deutschen ver­gle­ich­sweise unproblematisch.
    Im übri­gen finde ich die Ety­molo­gie der markierten Sexus-/Genuslex­em­plare (Gruppe 2) recht inter­es­sant. So war bspw. Stute (wie noch in Gestüt ersichtlich) ursprünglich eine Beze­ich­nung für eine Menge von Pfer­den. Außer­dem gibt es zu ihnen oft noch ein neu­trales Hyper­onym / Kollek­tivum, z.B. Pferd, Kind oder das Plu­rale­tan­tum Eltern.
    PS: Mäd­chen ist natür­lich keine wirk­liche Aus­nahme, son­dern nur ein Beispiel für die der Sexus-Genus-Kor­re­spon­denz über­ge­ord­nete Regel, dass mit den Suf­fix­en -chen, ‑lein etc. gebildete Diminu­tive neu­trum sind. Über­haupt ist ger­ade -chen etwas speziell, da es m.W. das einzige heimis­che Mor­phem ist, mit dem sich ‹sch›-Graphemketten bilden lassen, die nicht mit dem Phonem ‹ʃ› korrespondieren.

  18. Mueller

    #
    # Das Wort für weib­liche Per­so­n­en ist von dem für männliche abgeleit­et, z.B. Blogger/in, Erfinder/in, Meister/in, Torhüter/in, Vorstädter/in, usw. (hier stim­men gram­ma­tis­ches und natür­lich­es Geschlecht immer überein). –
    Inter­es­san­ter als die Frage, ob sich irgendw­er in ein­er Talk­show ver­sprochen hat oder nicht, finde ich die die Frage, ob obige Aus­sage wirk­lich aus­nahm­s­los gilt.
    Aus lat.-dt. Mag­is­ter lässt sich außer Mag­is­tra auch Mag­is­terin ableiten.
    Was ist nun mit all jenen Stu­dentin­nen, die sich, bei Ausstel­lung ihres M.A.-Zeugnisses vor die Wahl zwis­chen Mag­is­ter und ein­er dezi­diert fem­i­ni­nen Form gestellt, für “Mag­is­ter” entsch­ieden? Und die Box­erin, die einen Titel gewin­nt und im Inter­view sagt, sie sei jet­zt zum siebten Mal hin­tere­inan­der Meis­ter gewor­den: Kann sie nicht richtig Deutsch oder gebraucht sie schlicht eine umgangssprach­liche Kurzform?

  19. Advocatus diaboli

    .
    Also ich wäre ja dafür, die Dek­li­na­tion nach Geschlecht und auch bei Tätigkeits- und Herkun­fts­beze­ich­nun­gen im Deutschen ein­fach generell abzuschaf­fen. Kann es da nicht auch ein­fach eine Stan­dard­sprachre­form ana­log der Rechtschreibre­form geben?
    [trollface.gif]

  20. Felix

    Re: Natür­lich­es Geschlecht
    @ “In der Tat kon­nte (und kann) man von „weib­lichen Schülern“ sprechen — inter­es­san­ter­weise aber nicht von „männlichen Schü­lerin­nen” (A.S.):
    Aber sehr wohl von ‘männlichen Geiseln’. Meine Frage richtete sich auf die Behaup­tung, dass sich die Aus­drücke der Gruppe 3 und 4 grund­sät­zlich von denen der Gruppe 1 unter­schei­den, indem bei let­zteren (1) das gram­ma­tis­che Geschlecht kein­er­lei seman­tis­che Funk­tion hat (zumin­d­est keine, die mit dem natür­lichen Geschlecht des Ref­er­enten zu tun hätte), während erstere (3/4) in ihrer Ref­erenz auf Per­so­n­en beschränkt sind, deren Geschlecht mit dem gram­ma­tis­chen Geschlecht des Aus­rucks übere­in­stimmt. Ich sehe bish­er kein überzeu­gen­des Argu­ment für den zweit­en Teil dieser These (bzgl. Gruppe 3/4).
    Natür­lich ist es immer schwierig, ref­er­en­tielle Eigen­schaften sprach­in­tern zu erk­lären, da sie zum Teil schlichtweg kon­ven­tionell sind und somit auch leichter durch nor­ma­tive Regelun­gen bee­in­flusst wer­den kön­nen. Trotz­dem würde ich es begrüßen, wenn solche Regelun­gen durch sprach­in­terne Argu­mente gestützt wür­den. Die Mor­pholo­gie kön­nte in diesem Fall sicher­lich ein guter Anhalt­spunkt sein, allerd­ings überzeugt mich das ange­führte Argu­ment bezgl. der “struk­turell sex­is­tis­chen” Sprache noch nicht.
    @ “eine Asym­me­trie im Ver­hält­nis von gram­ma­tis­chem und natür­lichem Geschlecht, die zu einem Teil darauf zurück­zuführen ist, dass die masku­line Form mor­phol­o­gisch unmarkiert und die fem­i­nine markiert ist, und zu einem anderen Teil darauf, dass die deutsche Sprache struk­turell sex­is­tisch ist.” (A.S.):
    Der erste Teil der Begrün­dung (mor­phol­o­gis­che Unmarkiertheit) scheint mir unstrit­tig. Im zweit­en Teil dage­gen (“struk­turell” sex­is­tis­che Sprache) wird mein­er Mei­n­ung nach eben diese Markiertheits-Erk­lärung wieder ausgehebelt.
    Zunächst ein­mal ist mir noch gar nicht klar, was es eigentlich bedeutet, wenn eine Sprache “struk­turell sex­is­tisch” ist. Aber auch wenn man diese Prämisse als gegeben hin­nimmt, ist mir immer noch nicht klar, inwiefern dieser Sex­is­mus im Fall der unmarkierten Maskulin-Form eine Rolle spielt.
    Die Unmarkiertheit selb­st kann jeden­falls kein Indiz für struk­turellen Sex­is­mus sein, es sei denn man möchte die Tren­nung von seman­tis­chem und gram­ma­tis­chem Geschlecht kom­plett über Bord werfen.

  21. DirkNB

    Tier­show
    Neulich hörte ich auch zu meinem eige­nen Erstaunen bei “Tiere suchen ein Zuhause” von ein­er Kätzin. Das soll wohl die weib­liche Form von Katze sein. 😉

  22. phaeake

    Immer wieder
    Danke für diesen umfan­gre­ichen und pro­fun­den Seman­tik- oder vielle­icht doch eher Lin­guis­tikcheck. Ich habe das Wort im Kom­pe­ten­zteam vorgestellt, habe aber nicht die Schuld beim Gen­der­main­stream­ing gesucht. Ich hielt den Fall für rel­a­tiv klar, auch wenn ich den schö­nen Fach­be­griff “Reg­u­lar­isierung von Aus­nah­men noch nicht kan­nte. Ich kan­nte aber die ähn­lich gelagerten Fälle “Erstse­mes­ter und Erstse­mes­terin­nen” (let­zteres liefert über 14000 Google­tr­e­f­fer) sowie “Kinder und Kinderin­nen”, bei­des von der Witwerin­nen dadurch unter­schieden, dass das Erstse­mes­ter und das Kind bekan­ntlich der Kat­e­gorie 1 ange­hören. Aber es klingt eben so, als hät­ten wir die Kat­e­gorie 4 vor uns (beim Kind freilich nur im Plueal). Kluge Ver­fech­terin­nen der “diskri­m­inierungs­freien Sprache” wie Luise F. Pusch sehen in dieser Reg­u­lar­isierung einen krassen Rückschritt, denn die deutsche Sprache wird ja dort, wo sie vor­bildlich diskri­m­inierungs­frei ist (“das Erstse­mes­ter” kann einen Mann wie eine Frau meinen und legt sich deshalb äquidis­tant ein neu­trales Genus zu), erst patri­ar­chal­isiert, um dann mit­tels “-innen” wieder so einiger­maßen gerecht gemacht zu werden.
    Sehr inter­es­sant fand ich den Hin­weis auf die frühere Ver­wen­dung von “Witwerin­nen” — wobei ich glaube, dass wir die Möglichkeit ver­nach­läs­si­gen kön­nen, dass Frau Büsch­er hier ein beson­ders antiquiertes Deutsch sprechen wollte. Waren damals die Witwerin ein gle­ci­h­berechtigtes Syn­onym zur Witwe? Oder war Witwe immer das Grund­wort und die Witwerin war immer eine zweifel­hafte Neben­form. Wann und warum set­zte sich die Witwe durch?

  23. Michael Lange

    Azubi(e)ne
    Christoph Päper schrieb:
    “Es fehlt noch eine Gruppe, die über­wiegend, vielle­icht auss­chließlich, Kurzwörter enthält, z.B. Stu­di und Azu­bi. Obwohl sie gener­isch maskulin sind, lassen sich zu ihnen keine akzept­ablen geschlechtsspez­i­fis­chen For­men im Sin­gu­lar bilden (trotz der Qua­si­ex­is­tenz von Azu­bine) und im Plur­al sind sie stets geschlechtsneutral.”
    Nach­dem Mona dies mit der Kätzin so schon vorge­führt hat, kann ich mir jet­zt nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass auch die Azu­bine *tat­säch­lich* existiert, sog­ar wahlweise mit oder ohne “e”:
    http://www.duden.de/suchen/dudenonline/azubine

  24. Kristin

    @phaeake
    Nach­dem meine Antwort auf Deine Fra­gen etwas aus­geart­et ist, habe ich sie hier gepostet.
    Kurz zusam­menge­fasst: Die Witwerin war immer nur eine Nebenform.

  25. Anatol Stefanowitsch

    @phaeake
    Wie Kristin in dem von ihr ver­link­ten Beitrag schön zeigt, war Witwerin immer eine Neben­form. Die Belege soll­ten zeigen, dass es schon sehr lange immer wieder Mal Sprecher/innen des Deutschen gab, die diese Form bilden — eben, weil sie mor­phol­o­gisch plau­si­bel ist.

  26. phaeake

    Allerbesten Dank
    Ich bin ger­adezu gerührt, mit wieviel Akri­bie hier meinen Fra­gen nachge­gan­gen wird.
    Was ich noch nach­tra­gen wollte: Wenn schon der Wort­stamm auf ‑er endet, die masku­line Form also auf ‑erer, wird die fem­i­nine Endung ‑in niht ange­hängt, son­dern sie erset­zt das masku­line ‑er: Zauber­er — Zauberin, Wan­der­er — Wanderin.
    Andere Möglichkeit die weib­liche Form von der männlichen abzuleit­enist der ver­männlichende Endung — rich: Kröte — Kröterich.

  27. Ludwig Trepl

    Nur, weil jemand etwas mehrmals sagt, heißt das nicht, dass es kein Ver­sprech­er ist.“ Doch, denn ein Ver­sprech­er wird vom Sprech­er in aller Regel bemerkt und darum nicht wieder­holt, schon gar nicht mehrmals. Mein­ten Sie mit Ver­sprech­er vielle­icht, was ich mit „reflex­haftes Benutzen“ zu benen­nen ver­suchte? Wenn unter Auss­chal­ten des Denkens und des Wil­lens etwas über die Lip­pen kommt, auf einen bes­timmten Reiz hin? Das kann beliebig oft hin­tere­inan­der vorkommen.
    Sie mögen es nicht, wenn sich „gewisse Leute in den Kom­mentaren ein­find­en, die in kein­er Weise auf die Argu­men­ta­tion des Beitrags, die darin präsen­tierten Fak­ten eingehen…“
    Sie haben Ihren Artikel mit ein­er Kri­tik an mir begonnen: „Die Schuld an diesem Ver­sprech­er gab man umge­hend der ‚poli­tisch kor­rek­ten, ins­beson­dere gen­der­be­wußten Sprache’“. Sie haben dann Fak­ten präsen­tiert, die daran zu zweifeln Anlaß geben sollen. Ich habe darauf bezo­gen argu­men­tiert, und zwar habe ich auf Fak­ten hingewiesen – nur hingewiesen, nicht dies aus­ge­führt, denn ich kon­nte ja keinen Artikel schreiben –, die den Wert Ihrer Fak­ten im Hin­blick auf meine Behaup­tung in Frage stellen.
    Sie argu­men­tieren z. B. „dass sich die Form Witwerin im Deutschen schon seit Hun­derten von Jahren nach­weisen lässt, in Tex­ten, deren Ver­fass­er kaum im Ver­dacht ste­hen, gen­derver­wirrte Gut­men­schen zu sein.“ Das war als Argu­ment gemeint gegen die Behaup­tung, daß an dem „Ver­sprech­er“ in der Sendung die „gen­der­be­wußte Sprache“ schuld sei.
    Wenn auf eine Wiese die Mäuse­pop­u­la­tion schrumpft, dann sind „die Füchse waren es“ und „die Katzen waren es“ Hypothe­sen, deren Prü­fung sich lohnen dürfte, denn man weiß, daß Hunde und Katzen in der Gegend vorkom­men. Daß es die Schneeeulen waren, ist auch möglich, denn man weiß, daß sie sich gele­gentlich bis nach Mit­teleu­ropa verir­ren. Aber kein Biologe würde diese Hypothese prüfen – es sei denn, es gäbe im konkreten Fall beson­dere Anhalt­spunk­te, daß sie zutr­e­f­fen könnte.
    Die Hypothese, daß „Witwerin“ seit langem hin und wieder vorkam und die Jour­nal­istin es deshalb benutzte, ist von der Art der Schneeeulen-Hypothese (siehe auch @ Phaeake “immer wieder”). Ich habe dage­gen auf ein anderes Fak­tum – ja, Fak­tum – hingewiesen: näm­lich daß einem seit Jahren das „durchge­gen­derte Medi­en- und Polit­deutsch“ (Nachtwächter) in den Ohren dröh­nt und daß man das, was man ständig hören muß, leicht reflex­haft nach­plap­pert (let­zteres ist vom Typ der für selb­stver­ständlich genomme­nen regel- oder geset­zes­för­mi­gen Aus­sagen lebensweltlich­er Herkun­ft, auf der die Erk­lärun­gen in den his­torischen Wis­senschaften ganz über­wiegend beruhen und beruhen müssen). Man kann auch durch Selb­st­beobach­tung – die liefert eben­falls Fak­ten – wis­sen, daß einem die Formeln dieses Jar­gons selb­st dann über die Lip­pen möcht­en, wenn man sie gar nicht mag. Daraus läßt sich eine Hypothese von der Art der Katzen- und Füchse-Hypothese machen. Das ist eine prüfenswerte Hypothese („in der Gegend“ kommt die ver­mutete Ursache vor), aber doch, worauf Sie ja beste­hen, nur eine Hypothese: Es kön­nen, wie Sie schreiben, „solche Ver­mu­tun­gen als Aus­gangspunkt von (sprach)wissenschaftlich motivierten Diskus­sio­nen, nicht als End­punkt“ dienen. Aber, ent­geg­ne ich, es müssen eben prüfenswerte Ver­mu­tun­gen sein. Was Sie ange­führt haben („…tiefe sprach­struk­turelle Gründe. Die haben zwar auch etwas mit Geschlechterg­erechtigkeit zu tun, aber auf eine sub­tile Art und Weise, die mit poli­tis­ch­er Kor­rek­theit und durchge­gen­dertem Medi­en­deutsch nicht viel zu tun hat“), ergibt ein­fach keine prüfenswerten Hypothe­sen drüber, weshalb das Wort heute in ein­er Fernsehsendung auftaucht.
    Nun kön­nen Sie das alles natür­lich leicht umdrehen. Sie kön­nen darauf insistieren, daß ich erst ein­mal zeigen müßte, warum ihre und nicht meine Hypothese eine Schneeeulen-Hypothese ist. Ich bin mir sich­er, daß ich das kön­nte (aber dazu bräuchte ich min­destens mehrere Seit­en) – nicht mit­tels Dat­en, son­dern durch das Explizieren von Erfahrun­gen, die Sie eben­so haben wie ich. Das brächte Sie dazu, nicht mehr zu sagen „dass die im Bemühen um gerechte Sprache häu­fig ver­wen­dete Formel [X und X‑innen] bei dem Ver­sprech­er eine Rolle gespielt hat“ sei sich­er „nicht unplau­si­bel“. Son­dern sie wür­den dann sagen: Daß das die wahrschein­lich­ste Hypothese ist, liegt auf der Hand wie die Fuchs-Katzen-Hypothese, und man muß eine beträchtliche Beweis­last auf sich nehmen, wenn man zeigen will, daß das nicht stimmt. Sie müßten dann Ihre Erfahrun­gen — solche, die ihre Hypothese stützen — explizieren, und dann kön­nten wir ja sehen.
    Es tut mir leid, aber ich werde den Ver­dacht nicht los, daß Sie Füchse und Katzen lieben und die es ein­fach nicht gewe­sen sein dür­fen. (Diesen Ver­dacht haben Sie bei mir auch — oder?)

  28. Anatol Stefanowitsch

    Ver­sprech­er
    Herr Trepl,

    Doch, denn ein Ver­sprech­er wird vom Sprech­er in aller Regel bemerkt und darum nicht wieder­holt, schon gar nicht mehrmals.

    Wie wäre das: Sie ver­suchen nicht, mir zu erk­lären, was ein Ver­sprech­er ist, und ich ver­suche nicht, ihnen etwas über Land­schaft­sökolo­gie beizubringen.

  29. NörglerIn

    Ein paar Anmerkungen:
    Es ist eine alte Höflichkeit­stra­di­tion, die weib­liche Form zuerst zu nen­nen. Gängig ist daher weniger die Form [X und X‑innen] als die Form [X‑innen und X] („liebe Genossin­nen und Genossen“). So drück­en sich in der Regel (männliche?) Poli­tik­er aus. Nun kön­nte man darin ja auch eine Form des „Sex­is­mus“ erken­nen. Hat Brigitte Büsch­er vielle­icht deshalb die eher unübliche Rei­hen­folge gewählt? Spielt das vielle­icht eine Rolle? Würde Sie auch „Witwerin­nen und Witwer“ sagen?
    Zu Muster 1:
    Früher gab es auch die For­men Gästin/Gastin und der/die Geisel. Wenn jemand heute also „liebe Gästin­nen und Gäste“ sagt, hat das auch „tiefe sprach­struk­turelle Gründe“? Was ist mit dem anscheinend gar nicht so sel­te­nen „Mit­gliederin­nen und Mit­glieder“? Han­delt es sich vielle­icht eher um eine banale Ver­wech­slung der Mehrzahlen­dung –er mit der „männlichen“ Ableitungsendung –er?
    Zu Muster 3:
    Hier wer­den als Beispiele nur sub­stan­tivierte Adjek­tive und Par­tizip­i­en der Gegen­wart genan­nt. Zu diesem Muster gehören aber auch die Par­tizip­i­en der Ver­gan­gen­heit. Hier treten allerd­ings Beon­der­heit­en auf. Laut Duden gibt es nur der Beamte/die Beamtin, aber sowohl die Geandte als auch die Gesandtin. Nach der Wortherkun­ft müßten die weib­lichen For­men eigentlich die Beamte und die Gesandte heißen.

  30. David

    @Ludwig Tre­pl
    Da mir der Zusam­men­hang der Äußerung von Frau Büsch­er nicht bekan­nt ist, nehme ich an, daß es tat­säch­lich um ver­witwete Men­schen bei­der­lei Geschlechts ging. Meinem Sprachge­fühl nach ist es wed­er möglich, mit “Witwen” die Witwer mitzumeinen, noch umgekehrt. Wenn mich mein Sprachge­fühl hier also nicht sehr täuschen sollte, was es in der Regel nicht tut, so wäre die Forderung, sich in einem solchen Fall auf “Witwen” oder “Witwer” zu beschränken, absurd. Ich gehe auch davon aus, daß das nicht Ihre Posi­tion ist.
    Sie geißeln nun mit großem Eifer “reflex­haftes Benutzen üblich­er Jour­nal­is­ten- und Poli­tik­er-Formeln”. Fair enough. Der Umstand, daß Frau Büsch­er Aus­drücke für bei­de Geschlechter ver­wen­det hat, kann damit aber wie gese­hen nicht gemeint sein, son­dern nur die Anwen­dung des Schemas X und Xin­nen” als solch­es. Bemerkenswert ist, neben­bei bemerkt, daß Sie gle­ichzeit­ig gedanken­lose und darum fehler­hafte Ver­wen­dung eines Schemas ankrei­den und vehe­ment bestre­it­en, daß diese gedanken­lose Ver­wen­dung ein Ver­sprech­er gewe­sen sei. Aus der Behaup­tung, es habe sich nicht um einen Ver­sprech­er gehan­delt, kann man näm­lich eigentlich nur darauf schließen, daß Sie Frau Büsch­er unter­stellen, aus Grün­den der Geschlechterg­erechtigkeit grund­sät­zlich “Witwerin­nen” anstelle von “Witwer” zu sagen. Das wäre dann aber nicht mehr beson­ders gedanken­los, und was es außer­dem mit Geschlechterg­erechtigkeit zu tun haben sollte, ein weib­lich­es Wort durch die aus der daraus abgeleit­eten männlichen Form abgeleit­ete weib­liche Form zu erset­zen, bliebe im Dunkeln. Ich gehe davon aus, daß Sie das nicht wirk­lich mein­ten, da es ohne weit­ere Begrün­dung eine absurde Annahme wäre.
    Nun schreibt A.S.

    Sich­er ist es nicht unplau­si­bel, dass die im Bemühen um gerechte Sprache häu­fig ver­wen­dete Formel [X und X‑innen] bei dem Ver­sprech­er eine Rolle gespielt hat. Aber dafür, dass Büsch­er dieser Lap­sus aus­gerech­net bei dem Wort­paar Witwe/Witwer unter­laufen ist, gibt es tiefe sprach­struk­turelle Gründe.

    Ihre Behaup­tung, daß es sich um eine Anwen­dung des Schemas han­dle, wird von A.S. also gar nicht grund­sät­zlich bestrit­ten. Vielmehr wird ver­sucht, die Frage zu klären, warum diese Bil­dung weniger über­raschend sein dürfte als es etwa die Bil­dung “Män­nin” wäre (im außer­bib­lis­chen Kon­text), die man bei kon­se­quenter Anwen­dung des Schemas ja eben­falls erwarten kön­nen sollte.
    Die Sache würde sich also let­ztlich so darstellen: Aus sach­lichen Grün­den mußten die männliche und die weib­liche Form des Wortes bei­de ver­wen­det wer­den. Die übliche Weise, eine weib­liche Form eines Sub­stan­tivs zu bilden ist die Suf­figierung von “-in”. Weil sich “Witwer” auf­grund sein­er Form beson­ders für eine falsche Ein­regelung anbi­etet, wurde diese Weise tat­säch­lich und fälschlicher­weise gewählt, was etwa in der Form “Män­ner und Män­nin­nen” sich­er nicht geschehen wäre.
    Was von Ihrer Posi­tion übrig bleibt ist die behauptete Anwen­dung des Schemas, die wie gese­hen nie grund­sät­zlich bestrit­ten wurde. Selb­st diese ist aber sehr fraglich, denn wenn meine Aus­gangsan­nahme nicht völ­lig falsch ist, war die Ver­wen­dung der Wörter für bei­de Geschlechter ja tat­säch­lich sprach­lich zwin­gend notwendig, also wenig reflex­haft. Was dann vom Schema übrig­bleibt ist nichts weit­er als der Ver­sprech­er, die zwin­gend benötigte weib­liche Form in falsch regel­hafter Weise mit­tels “-in” gebildet zu haben, anstatt die webliche Aus­gangs­form zu ver­wen­den. Daß dieser Fehler aber auch ohne Gen­der­druck und Sche­mater­ror schon gele­gentlich vorgekom­men ist, hat A.S. bere­its belegt.

  31. Gschleiderkneis

    Ver­sprech­er
    Als Laie finde ich es abso­lut plau­si­bel, was Hr. Tre­pl schreibt, näm­lich dass man einen Ver­sprech­er nor­maler­weise nicht wieder­holt. Sollte diese Annahme falsch sein, wäre es nett, das zu erläutern und nicht nur her­ablassend darauf hinzuweisen, dass Herr Tre­pl in sprach­lichen Din­gen ver­mut­lich Laie ist.
    Ganz sich­er ein Ver­sprech­er war, was ich vor einiger Zeit in einem Inter­view hörte, das ich lei­der nicht aufgeze­ich­net habe: Kinderin­nen und Kinder, oder genauer gesagt “Kindernkinder”

  32. Ludwig Trepl

    @A.S. Ver­sprech­er 13.09.2011, 20:59
    “Wie wäre das: Sie ver­suchen nicht, mir zu erk­lären, was ein Ver­sprech­er ist, und ich ver­suche nicht, ihnen etwas über Land­schaft­sökolo­gie beizubringen.”
    Lieber wäre es mir, Sie erk­lären mir, was ein Ver­sprech­er ist, denn es scheint sich ja um etwas zu han­deln, wovon man in der Lin­guis­tik ein beson­deres Wis­sen hat. Ich dachte bish­er, das gehört zum lebensweltlichen Wis­sen, also in den Bere­ich, wo es wed­er Laien noch Fach­leute gibt.

  33. gnaddrig

    Lin­guis­tis­che Versprecher-Theorien
    @ Gschlei­derkneis und Lud­wig Trepl
    Man darf get­rost davon aus­ge­hen, das jede wis­senschaftliche Diszi­plin zu den Din­gen, mit denen sie sich beschäftigt, ein beson­deres Wis­sen hat. Wo ein solch­es beson­deres Wis­sen zu bes­timmten The­men nicht vorhan­den ist, dürfte in der Regel wenig­stens eine wis­senschaftliche Darstel­lung des „lebensweltlichen Wis­sens“ vor­liegen, das mehr oder jed­er sowieso hat.
    Zum Ein­stieg in das The­ma empfehle ich den Wikipedia-Artikel Wis­senschaftliche Ver­sprech­er-The­o­rien. Dort gibt es auch eine lange Lit­er­aturliste zur The­o­rie der Versprecher.

  34. Ludwig Trepl

    @ gnad­drig Lin­guis­tis­che Versprecher-The
    Danke!, ich hab’ in dem Wikipedia-Artikel nachge­le­sen, und muß nun zugeben, daß Herr A. S. recht hat. Dort ste­ht: “Oft bemerkt man sie [die Ver­sprech­er] aber auch nicht und meint, geäußert zu haben, was man sagen wollte.” In der Tat, da würde man auch in der All­t­agssprache von “Ver­sprech­er” reden. Man muß das — für die Diskus­sion hier ist das wichtig — aber von den Ver­sprech­ern, die ich meinte und die man sofort bemerkt, unter­schei­den. — Das, was ich als “reflex­haftes Benutzen von Formeln” beze­ich­net habe, deckt sich aber nicht ganz mit diesen unbe­merk­ten Ver­sprech­ern, scheint mir.

  35. Ludwig Trepl

    @ Nach­trag gnad­drig Lin­guis­tis­che Verspr
    Damit man nicht falsche Schlüsse zieht: darauf, daß A.S. recht hat und nicht ich im Falle des “Ver­sprech­ers”, hat mich nicht eine Wis­senschaft gebracht; das hätte mir jed­er Laie, der etwas aufmerk­samer ist als ich, auch sagen können.
    Daß die Psy­cholo­gie und die Lin­guis­tik einem Laien ins­beson­dere über die Ursachen von Ver­sprech­ern vieles beib­rin­gen kön­nen, worauf er von sich aus nicht kom­men kön­nte, ist selb­stver­ständlich richtig.

  36. Ludwig Trepl

    @ David @Ludwig Tre­pl 14.09.2011, 03:28
    „Aus der Behaup­tung, es habe sich nicht um einen Ver­sprech­er gehan­delt, kann man näm­lich eigentlich nur darauf schließen, daß Sie Frau Büsch­er unter­stellen, aus Grün­den der Geschlechterg­erechtigkeit grund­sät­zlich “Witwerin­nen” anstelle von “Witwer” zu sagen.“
    Nein, diesen Schluß kann man nicht ziehen. Daß es kein Ver­sprech­er in dem Sinn war, den ich meinte (inzwis­chen habe ich gel­ernt, daß das nicht der einzige Sinn von „Ver­sprech­er“ ist), soll nicht heißen daß Frau Büsch­er „geschlechterg­erecht“ sein wollte. Son­dern die Hypothese, die ich für die wahrschein­lich­ste halte (das habe ich ja geschrieben), ist: Sie hat reflex­haft die „X und X‑innen“-Formel benutzt. Ob sie damit „geschlechterg­erecht“ sein wollte, wäre eine andere Frage, und eine ziem­lich über­flüs­sige, denn Sie haben recht: weib­liche und männliche Form zu benutzen ist hier zwin­gend, selb­st ein ver­bis­sener Feind „geschlechterg­erecht­en“ Sprechens wäre dazu gezwun­gen; wenn, dann hat sie nur ganz all­ge­mein „geschlechterg­erecht“ reden wollen. Und in dem „reflex­haft“ steckt ja, daß die Jour­nal­istin gar nicht absichtlich gehan­delt hat. Sie hat, so meine Ver­mu­tung, ohne etwas dabei zu denken eine Formel von sich gegeben, wie das ja in unzäh­li­gen Fällen gemacht wird, beson­ders im Politikerjargon.
    Sie schreiben: „die Ver­wen­dung der Wörter für bei­de Geschlechter“ war „tat­säch­lich sprach­lich zwin­gend notwendig, also wenig reflex­haft“, dann stimmt daran, daß die Ver­wen­dung der Wörter für bei­de Geschlechter tat­säch­lich zwin­gend ist, aber nicht (falls Sie das damit sagen woll­ten), daß die Ver­wen­dung der „X und X‑innen“-Formel nicht reflex­haft ist.
    In der Tat, „was dann vom Schema übrig­bleibt ist nichts weit­er als … die zwin­gend benötigte weib­liche Form in falsch regel­hafter Weise mit­tels “-in” gebildet zu haben“. Für Sie ist damit vielle­icht fast nichts übrig: ein winzig kleines Fehlerchen. Ich frage mich aber, wo es herkommt. Man kann wohl auss­chließen, daß die Jour­nal­istin nicht wußte, daß es „Witwe“ heißt, und wenn, dann wäre das wenig inter­es­sant, man kön­nte allen­falls über den Nieder­gang der Qual­ität der Schule jam­mern. Inter­es­sant ist – und das macht die Komik der For­mulierung aus, nicht, daß da jemand ein Wort nicht ken­nt –, wo der Reflex her­stammt. Vor allem in Reden von Poli­tik­ern der linken Hälfte des Spek­trums sind Sätze oft beina­he dop­pelt so lang wie sie sein müßten, weil ein „X und X‑innen“ auf das andere fol­gt. Der Zwangscharak­ter, den das inzwis­chen hat, hat nun eine schöne Stil­blüte her­vorge­bracht (die Lin­guis­ten mögen mich kor­rigieren, falls dieses Wort hier nicht paßt – falls sie, was ich nicht weiß, dafür zuständig sind). – Daß die Form X‑innen die einzige regel­haft anwend­bare ist („pro­duk­tive“, so wurde das in dem Artikel genan­nt), mag auch ein wenig dazu beige­tra­gen haben – so möchte ich das Argu­ment von Her­rn A.S. umdrehen, der es ja für nicht ganz unplau­si­bel hält, daß die „durchge­gen­derte“ Sprache eine gewisse Rolle gespielt haben mag.

  37. David

    @Ludwig Tre­pl
    Daß es auch eine reflex­hafte Ver­wen­dung des Schemas war, läßt sich prinzip­iell natür­lich nicht auss­chließen. Ander­er­seits, das zeigen eben die von A.S. ange­führten Beispiele, wurde der Fehler auch schon vor der Zeit der geschlechterg­erecht­en Sprache gele­gentlich gemacht, wenn die weib­liche Form benötigt wurde. Da sie auch im hier disku­tierten Fall benötigt wurde, reicht A.S. Erk­lärung für das Vorkom­men des Fehlers somit alleine aus. Sie kön­nten aber natür­lich bei­de Recht haben, was sich jedoch schw­er entschei­den lassen wird.

  38. Ludwig Trepl

    @ David @ Lud­wig Trepl
    „Da sie auch im hier disku­tierten Fall benötigt wurde, reicht A.S. Erk­lärung für das Vorkom­men des Fehlers somit alleine aus.“
    Ja; aber meine auch, und eine dritte, z. B. daß die Jour­nal­istin in der Schule nicht aufgepaßt hat, reicht auch aus. Und eine vierte … . Auch kön­nen mehrere Ursachen zusam­mengewirkt haben. Sie kön­nte z. B. in der Schule nicht aufgepaßt haben und das Wort „Witwe“ war ihr darum nur sehr nebel­haft präsent, und dann hat sie die „X und X‑innen“-Form gewählt, weil die halt in der Regel zu nehmen ist und der Poli­tik­er­jar­gon, den sie ständig im Ohr hat, hat einen weit­eren Antrieb gegeben.
    Inter­es­sant ist Ihr näch­ster Satz: „Sie kön­nten aber natür­lich bei­de Recht haben, was sich jedoch schw­er entschei­den lassen wird.“ Ja, wie kön­nte man das entschei­den? Man müßte wohl erst ein­mal klären, was hier über­haupt eine der Unter­suchung werte Frage ist. Wir disku­tieren immer so, als ob uns daran gele­gen wäre, her­auszufind­en, was in dieser Jour­nal­istin wirk­lich vorge­gan­gen ist. Da müßte man sie halt als Indi­vidu­um im Zusam­men­hang mit dieser speziellen Sit­u­a­tion unter­suchen, in der Art, wie z.B. ein Krim­i­nalkom­mis­sar oder ein Arzt einen beson­deren Fall unter­sucht, müßte die Biogra­phie erforschen usw.
    Doch das inter­essiert uns in Wirk­lichkeit ja gar nicht, wir sind nicht Kom­mis­sare oder Ärzte. Der Fall ist für uns nur inter­es­sant, wenn sich daran etwas von all­ge­mein­er Bedeu­tung zeigt. Also etwa: Welche Auswirkun­gen hat eine bes­timmte Art des Sprechens, die in bes­timmten Kreisen üblich ist, auf … ? Da ste­ht eine Posi­tion, die ver­mutet: große, gegen eine andere, die ver­mutet: kleine (hin­ter jed­er ste­ht eine bes­timmte kul­turell-poli­tis­che Hal­tung, die sich bestätigt sehen möchte). Sollte sich nun her­ausstellen, daß es im Falle dieser Fernsehsendung große Auswirkun­gen gab, daß ich also recht hat­te, wäre für die uns wirk­lich inter­essierende Frage wenig gewon­nen: Es ist ja nur ein einziger Fall.
    Man sollte Ihre Frage darauf beziehen, wie man diese uns wirk­lich inter­essierende Frage entschei­det. Das wäre doch ein The­ma für diesen Blog: Was kön­nte man mit sozialem­pirischen Unter­suchun­gen aus­richt­en? Was mit phänom­e­nol­o­gis­chen? (Daß es so etwa Ähn­lich­es sein müßte, habe ich oben in einem Kom­men­tar zu A.S. recht apodik­tisch behauptet, aber so sich­er bin ich mir natür­lich nicht.). Und was es son­st noch so geben mag.
    Inter­es­sant wäre auch, wie man mit dem Ver­hält­nis der die ganze Diskus­sion motivieren­den kul­turell-poli­tis­chen Hal­tun­gen und dem Anspruch der Wis­senschaftlichkeit umge­hen soll. So wie es jet­zt läuft, daß jed­er immerzu nach Bestä­ti­gun­gen für seine wis­senschaft­sex­tern (lieb-)gewonnene Vormei­n­ung sucht, gilt ja seit Pop­per nicht mehr so recht als eine anstrebenswerte Ein­stel­lung von Wis­senschaftlern. Man kön­nte auch die Berech­ti­gung der jew­eili­gen kul­turell-poli­tis­chen Hal­tun­gen unter­suchen; das hätte mit Lin­guis­tik nur noch wenig zu tun, würde aber sich­er manche Diskus­sio­nen unter Lin­guis­ten (oder zwis­chen Lin­guis­ten und „Sprach­nör­glern“) bess­er zu ver­ste­hen erlauben.

  39. Dierk

    Ja; aber meine auch, und eine dritte, z. B. daß die Jour­nal­istin in der Schule nicht aufgepaßt hat, reicht auch aus. Und eine vierte … 

    Ockham’s Razor bzw. das Prinzip der Sparsamkeit greift hier: Die These, die am wenig­sten Voraus­set­zun­gen benötigt, ist als Erk­lärungsmod­ell vorzuziehen.

  40. Kai Hiltmann

    Vierte Kat­e­gorie
    >Außer­dem passt das Wort Witwer for­mal und
    >seman­tisch auch noch genau in die vierte
    >Kat­e­gorie
    Nein, passt nicht. M.E. ist das Grund­wort “Wit”. Während der Duden das Wit-Tum (entsprechend Eigen-Tum) und das Verb wid-men zusam­men­fasst, den Wit-Wer (ver­witweter Mann) und die Wit-Frau oder Wit-Wib -> Witwe aber auf eine andere Wurzel zurück­führt, sehe ich das nicht als zwin­gend. Logisch fände ich *uidh = pri­vat, frei von anderen Ansprüchen. Der Wit-Men­sch ist damit aus der Ehe befre­it und kann wieder heiraten.
    Der Witwer ist also nicht auf Grund sein­er Aktiv­ität­sendung “-er” in Kat­e­gorie 4, son­dern nur zufäl­lig und scheinbar.
    Wer daraus eine Witwerin macht, hat kein Gefühl für seine Sprache.

  41. Ludwig Trepl

    @ Dierk kein Betreff
    “Ockham’s Razor bzw. das Prinzip der Sparsamkeit greift hier: Die These, die am wenig­sten Voraus­set­zun­gen benötigt, ist als Erk­lärungsmod­ell vorzuziehen.”
    Nein, das greift hier nicht. Es ist ja eine Tat­sachen­be­haup­tung, daß z.B. die Unaufmerk­samkeit in der Schule zu dem “Ver­sprech­er” beige­tra­gen hat. Wenn ich diesen nun durch die Hypothese “Wirkung des gegen­derten Jar­gons” allein erk­lären kann, die Unaufmerk­samkeit aber trotz­dem fak­tisch mit­gewirkt hat, dann kann ich nicht das eine das anderem vorziehen, son­dern muß bei­de benen­nen. Der razor ist ein ökonomis­ches Prinzip für den Fall alter­na­tiv­er Hypothe­sen, und zwar für die The­o­riefind­ung, nicht für die Erk­lärung sin­gulär­er Sachver­halte; auch da nur ein ökonomis­ches Prinzip: Es kön­nte ja sein, daß die Hypothese, die mehr Voraus­set­zun­gen benötigt, die zutr­e­f­fende ist.

  42. David

    Unrasierte Einzelfälle
    Wenn auf dem Bürg­er­steig vor mein­er Woh­nung ein Stück Kot liegt, dann sollte ich in diesem Einzelfall also nicht davon aus­ge­hen, daß es von einem Hund aus der Nach­barschaft stammt, weil es fak­tisch auch dur­chaus sein kön­nte, daß Angela Merkel vor­beigekom­men ist und mich neck­en wollte? Das scheint mir nicht sehr plausibel.
    Sie haben allerd­ings Recht, wenn Sie darauf hin­weisen, daß das Rasier­mess­er ein method­ol­o­gis­ches Prinzip (und nicht etwa ein Wahrheit­skri­teri­um) ist. Aus dem Sta­tus als method­ol­o­gis­ches Kri­teri­um fol­gt aber, daß andere method­ol­o­gis­che Kri­te­rien in gewis­sen Fällen Vor­rang vor dem Rasier­mess­er haben kön­nen, und wenn es um Eigen­schaften oder das Ver­hal­ten von Men­schen geht, dann stünde das prin­ci­ple of char­i­ty ganz oben auf mein­er Liste der Kan­di­dat­en dafür.

  43. Ludwig Trepl

    @ David unrasierte Einzelfälle
    Ich meinte mich zu erin­nern, daß sich das Ock­ham-Prinzip nur auf The­o­rien bezog, kann mich aber irren. – In ihrem Einzelfall-Beispiel geht es um alter­na­tive Hypothe­sen, in meinen dage­gen um Fälle, in denen Mehreres an einem Ergeb­nis mitwirkt und die Hypothe­sen nicht alter­na­tiv sind. Eine Hypothese in Ihrem Beispiel-Typ muß zunächst ein­mal aus welchen Grün­den auch immer plau­si­bel sein, egal wie kom­pliziert sie ist (siehe Ihr Merkel- und oben mein Schneeeulen-Beispiel). Dann erst gilt die Regel, daß man die plau­si­ble Hypothese nicht unnötig kom­plizieren sollte. – Mit dem Char­i­ty-Prinzip wäre ich vor­sichtig. Unter „Ver­hal­ten“ ver­ste­ht man ja gewöhn­lich etwas nicht durch Über­legun­gen oder wil­lentlich Geleit­etes, im Unter­schied zu „Hand­lun­gen“. Und dann wird die Sache ja durch Ide­olo­gien (im Sinne „notwendig falschen Bewußt­seins“) kom­pliziert, wo der Begriff des Ratio­nalen nicht mehr so ein­fach ist.

  44. Anatol Stefanowitsch

    @ Kai Hiltmann
    Wie ich schon sagte: Das Wort passt for­mal (= endet auf -er) und seman­tisch (= beze­ich­net eine männliche Per­son) genau in die vierte Kat­e­gorie. Dass es ety­mol­o­gisch nicht in diese Kat­e­gorie gehört und deshalb die Form Witwerin eine reg­u­lar­isierende Analo­gie darstellt, ist sozusagen die Ker­naus­sage meines Beitrags. Ety­molo­gie spielt für die Sprecher/innen ein­er Sprache keine Rolle, da sie ihnen nicht zugänglich ist. Wer ety­mol­o­gis­che Beziehun­gen ignori­ert, beweist damit keineswegs ein fehlen­des Sprachgefühl.
    Was Ihre ety­mol­o­gis­che Her­leitung bet­rifft, die ist falsch (sind Sie jet­zt nicht froh, dass Ety­molo­gie nichts mit dem „Gefühl für seine Sprache“ zu tun hat?). Witwe kommt vom indoger­man­is­chen *ṷidh „tren­nen“ über ahd. wituwa (übri­gens mit dem männlichen Pen­dant witu­wo) und mhd. witewe, der Wort­stamm hat sich erstaunlich erfol­gre­ich in vie­len indoeu­ropäis­chen Sprachen erhal­ten, z.B. engl. wid­ow über altengl. widewe, altirisch fedb, walis. guedeu, russ. wdowa, Hin­di vid­hwa, u.v.m. Mit dem Wit­tum und dem wid­men hat das nichts zu tun, das kommt von indoeu­rop. *uedh „führen, (eine Braut) heim­führen, heirat­en“. Man kann dem Duden da schon ver­trauen, denn der beruht nicht auf dem, was man „logisch“ find­en kön­nte, son­dern auf den Ergeb­nis­sen sys­tem­a­tis­ch­er his­torisch­er Sprachwissenschaft.

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