Im Blog Kompetenzteam für schöne und für schlimme Wörter werden, wie der Name schon sagt, „schöne und schlimme Wörter“ gesammelt. Letzte Woche sammelte jemand das Wort Witwerinnen in die Kategorie „schlimme Wörter“:
Witwerinnen … Solches sprach in der Kombination „Witwer und Witwerinnen“ die Qualitätsjournalistin Brigitte Büscher in der gestrigen Ausgabe von „Hart aber fair“. Und zwar mehr als einmal. Zeit für einen Semantik-Check. [Link]
Die Schuld an diesem Versprecher gab man umgehend der „politisch korrekten, insbesondere genderbewußten Sprache“ [Ludwig Trepl] und dem „durchgegenderten Medien- und Politdeutsch“ [Nachtwächter].
Aber ganz so einfach ist es nicht. Das Wort wäre eigentlich (wie vielleicht die Mehrzahl der vom Kompetenzteam gesammelten Wörter) in einer leider fehlenden Kategorie „interessante Wörter“ besser aufgehoben.
Sicher ist es nicht unplausibel, dass die im Bemühen um gerechte Sprache häufig verwendete Formel [X und X-innen] bei dem Versprecher eine Rolle gespielt hat. Aber dafür, dass Büscher dieser Lapsus ausgerechnet bei dem Wortpaar Witwe/Witwer unterlaufen ist, gibt es tiefe sprachstrukturelle Gründe. Die haben zwar auch etwas mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun, aber auf eine subtile Art und Weise, die mit politischer Korrektheit und durchgegendertem Mediendeutsch nicht viel zu tun hat.
Personenbezeichnungen folgen in der Regel einem von vier Mustern:
- Dasselbe Wort bezeichnet männliche und weibliche Personen, z.B. Mensch, Säugling, Gast, Person, Geisel, Hilfskraft, Mitglied (hier stimmen grammatisches und natürliches Geschlecht übrigens nicht überein — auch eine Frau wird als der Gast, auch ein Mann als die Geisel, und Männer und Frauen als das Mitglied bezeichnet).
- Es gibt es zwei völlig unterschiedliche Wörter für männliche und weibliche Personen, z.B. Mann/Frau, Junge/Mädchen, Bruder/Schwester, Vater/Mutter (hier sitmmen grammatisches und natürliches Geschlecht weitgehend überein, mit Ausnahmen wie das Mädchen).
- Die Wörter für männliche und weibliche Personen sind gleichberechtigt von einer gemeinsamen Grundform (einem Adjektiv oder Partizip) abgeleitet, z.B. Deutscher/e, Grüner/e, Studierender/e, Reisender/e (auch hier stimmen grammatisches und natürliches Geschlecht immer überein).
- Das Wort für weibliche Personen ist von dem für männliche abgeleitet, z.B. Blogger/in, Erfinder/in, Meister/in, Torhüter/in, Vorstädter/in, usw. (hier stimmen grammatisches und natürliches Geschlecht immer überein).
Uns interessiert hier die vierte Kategorie, da diese ja dem Versprecher Witwer und Witwerinnen zugrunde liegt. Die einzige produktive Endung (also die einzige, mit der regelhaft neue Wörter erzeugt werden können) ist hier die Endung -in, andere Endungen sind auf einzelne Wörter beschränkt (z.B. Steward/ess) und/oder veraltet (z.B. Friseur/Friseuse). Die Produktivität der Endung -in ist der Grund dafür, dass die Formel [X und X-innen] sehr häufig ist. Die „männlichen“ Wörter in dieser Kategorie enden zwar nicht ausschließlich auf -er (z.B. Kunde/Kundin, König/Königin), aber sehr häufig.
Die Häufigkeit dieser Kategorie von Wörtern und die Produktivität von -in allein erklären aber den Versprecher noch nicht völlständig.
Hinzu kommt nämlich noch, dass das Wortpaar Witwe/Witwer zu einer winzigkleinen Gruppe von Wörtern gehört, die sich genau entgegengesetzt zu der oben dargestellten vierten Kategorie verhalten, bei denen also die Bezeichnung für männliche Personen von der für weibliche Personen abgeleitet ist (die einzigen anderen Beispiele, die mir einfallen, sind Hexe/Hexer und Braut/Bräutigam). Außerdem passt das Wort Witwer formal und semantisch auch noch genau in die vierte Kategorie — es bezeichnet männliche Personen und endet auf -er. Wer also Witwer und Witwerinnen sagt, passt damit nur eine formale Ausnahme an ein häufiges, regelhaftes Muster an.
Diese Art der Regularisierung von Ausnahmen lässt sich in der Sprachgeschichte immer wieder beobachten, sie hat mit „politischer Korrektheit“ und „durchgegenderter Mediensprache“ zunächst nichts zu tun. So überrascht es auch nicht, dass sich die Form Witwerin im Deutschen schon seit Hunderten von Jahren nachweisen lässt, in Texten, deren Verfasser kaum im Verdacht stehen, genderverwirrte Gutmenschen zu sein.
Ein schönes Beispiel ist diese Passage aus der Landsordnung des Herzogtums Würtemberg von 1661, in der es, wenn ich das richtig verstehe, darum geht, Geldgeschenke zu besteuern (wer Fraktur nicht lesen kann, findet eine Transkription im Mouse-Over):
Oder folgende Verhaltensregel für Witwen aus den „Phantasien nach Petrarkas Manier“ von 1772:
Dir, armen Witwerin, in deinem Trauerkleide / Dir thränenden geziemt es nicht, / in jenen Kreis zu gehn, wo die berauschte Freude / Sich junge Rosenkränze flicht!
Oder auch diese Passage aus dem Teutschen Merkur von 1783 über einen teutschen Casanova:
Ich kann über die journalistische Qualität und die genderpolitischen An- und Absichten der Brigitte Büscher nichts sagen. Aber sprachlich setzt sie sich hier (unbewusst) für die Regelhaftigkeit — und damit in gewisser Weise für die von Sprachnörglern so oft betrauerte „Logik“ — der deutschen Sprache ein.
Natürlich ist diese Regel selbst inhärent sexistisch, und insofern ist Witwerin tatsächlich ein „schlimmes Wort“ — genau wie alle anderen Bezeichnungen für Frauen, die aus Bezeichnungen für Männer geform werden müssen wie Eva aus Adams Rippe.
Leider wäre die Alternative in vielen Fällen, Frauen sprachlich unsichtbar zu machen und damit verhält es sich mit dieser Regel ähnlich wie mit der Demokratie: Es ist die schlechteste Option, mit Ausnahme aller anderen.
Johann Friedrich, Herzog zu Württemberg und Teck (1661): Deß Hertzogthumbs Würtemberg gemeine Lands-Ordnungen, Stuttgart [Google Books (Volltext)]
Klamer Eberhard Karl Schmidt (1772): Phantasien nach Petrarka’s Manier, Halberstadt und Lemgo [Google Books (Volltext)]
Der Teutsche Merkur (1783) [Google Books (Volltext)].
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Kindermund
Meine Tochter hat im Alter von knapp drei Jahren mal von “die Bäckerin” die männliche Form “der Bäckerinner” abgeleitet. Genau analog zu Witwe -> Witwer -> Witwerin, nur eben in umgekehrter Richtung, gendermäßig.
Programier-FehlerInnen?
Und irgendwo las ich mal vor Jahren, für einen Kirchentag habe man mit einem Computer-Programm den Einladungstext auf gender-gerechte Sprache durchkorrigiert. Ergebnis: Die praktischen Sitzgelegenheiten in den Hallen wurden als PapphockerInnen oder Papphocker und Papphockerinnen etikettiert.
Ein paar Konservative feixten, es geschehe den Veranstaltern gerade recht.
Weniger ist oft weniger
der Blogger — die Blogge — das Blog
grammatisches und natürliches Geschlecht
Wie lässt sich denn feststellen, ob in den Ausdrücken der dritten und vierten Gruppe grammatisches und natürliches Geschlecht übereinstimmen? Bevor die genderbezogenen Sprachregelungstendenzen aufkamen, wurde die grammatisch männliche Form doch für beide natürlichen Geschlechter gleichermaßen akzeptiert.
Wäre das natürliche Geschlecht in der Morphologie der Nominalisierungen indiziert, so hätte es niemals einen “weiblichen Schüler/Reisenden” geben dürfen, was aber m.E. vor 20 Jahren noch vollkommen zulässige Ausdrücke waren.
Im Übrigen müssten dann Nominalisierungen unterschiedlich behandelt werden, je nachdem ob sie sich auf belebte oder unbelebte Objekte beziehen (vgl. “Kocher”, “Träger”), was mir nicht unbedingt plausibel erscheint.
Veraltet
In Bayern und Österreich sagen viele ältere Leute nicht Witwer, sondern “Wittiber”.
http://www.duden.de/rechtschreibung/Wittiber
Die Witwe hieß früher “Wittib”, dieses Wort ist aber heutzutage nicht mehr gebräuchlich.
http://www.duden.de/rechtschreibung/Wittib
Anscheinend gab es auch mal den Ausdruck “Witmann” für Witwer:
http://www.duden.de/suchen/dudenonline/wittiber
Doch durchgegendert
Warum, Herr Stefanowitsch, wiederholen Sie mehrmals, daß “Witwerinnen” ein Versprecher gewesen sein soll? Was liegt Ihnen daran?
Aber es war keiner, wenn die Meldung wahr ist, daß die Qualitätsjournalistin das Wort mehrmals wiederholte.
Wie kam es dann zustande?
Die Journalistin wußte vielleicht nicht, daß es das Wort Witwe gibt, wohl aber kannte sie das Wort Witwer, und sie war der Meinung, daß Witwe unter Witwer mitläuft, so wie einst die Professorin unter Professor mitzulaufen hatte. Und so hat sie dann nach dem von Ihnen genannten Muster 4 ein “gendergerechtes” Wort gebildet.
Oder sie hat einfach reflexhaft “Witwer und Witwerinnen” gesagt, weil in der Äußerung eines Journalisten oder Politikers (Entschuldigung, aber Sie kennen mich ja) eben pro Minute soundsooft “… und ‑innen” vorzukommen hat.
In beiden Fällen ist es angemessen, von „durchgegenderten Medien- und Politdeutsch“ zu sprechen, wie es “Nachtwächter” getan hat.
Natürliches Geschlecht
@Felix: Natürliches Geschlecht gab es selbstverständlich schon vor dem Aufkommen genderbezogener „Sprachregelungen“ — man sieht das deutlich an deiktischen Verwendungen der Pronomen der/er und die/sie („Wie sieht er/der denn aus?“, „Was will die/sie denn?“, usw.).
In der Tat konnte (und kann) man von „weiblichen Schülern“ sprechen — interessanterweise aber nicht von „männlichen Schülerinnen“ — eine Asymmetrie im Verhältnis von grammatischem und natürlichem Geschlecht, die zu einem Teil darauf zurückzuführen ist, dass die maskuline Form morphologisch unmarkiert und die feminine markiert ist, und zu einem anderen Teil darauf, dass die deutsche Sprache strukturell sexistisch ist.
Eine Frage
Ich verstehe nicht woran man fest macht das ein Wort aus dem anderen abgeleitet wurde und nicht umgekehrt.
Beispiel aus Fall 3: Deutscher/e
Beispiel aus Fall 4: Blogger/in
Das Beispiel aus Fall 3 könnte man doch auch so zeigen: Deutsche/r. Dann wäre es eigentlich auch aus Fall 4.
Bezieht sich „abgeleitet“ darauf welches Wort erwiesenermaßen historisch eher existierte? Oder gibt es irgendeine Grammatikregel die ich nicht kenne oder verstehe?
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Herr Trepl, Sie dürfen selbstverständlich gerne glauben, dass Frau Büscher das Wort Witwe nicht kennt. Ich selbst halte mich lieber an plausible Szenarien.
Passen doch in Muster 3
Wieso soll Hexer/e und Witwer/e denn eigentlich ein eigenes fuenftes Muster brauchen, wenn sie doch genau in Muster 3 passen?
Muster 3 und 5
@Gast:
Partizipien und Adjektive flektieren abhängig vom Determinierer und haben das „r“ nur im starken (und gemischten, je nach Benennung) Nominativ, es ist eine Flexionsendung, die nicht zum Wort gehört. (Man könnte sagen: Femininum und Maskulinum sind in 3 ziemlich gleichberechtigt, insofern es kein „primäres“ Genus gibt.)
„der Grüne“, „ein Grüner“, „eines Grünen“, … „Witwer“ bleibt das „r“ aber und gehört zum Wort: „ein Witwer“, „der Witwer“, „des Witwers“, …
Spiel und Spaß
Google bringt mir übrigens für „+Schwesterinnen“ etwa 907 Treffer 😉
Witfrauen
Meine Schwiegermutter bezeichnet sich und die Frauen die sie vom Friedhof kennt (allerdings nur im Plural) als “Witfrauen”, ich nehme an weil Witwe noch aus der Vergangenheit mit einem prekären Status verhaftet ist, während diese Frauen Wert auf ihren Witwen-Status legen.
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@ Markus G.: Bei Kategorie 3 gibt es jeweils ein Adjektiv oder Partizip (z.B. deutsch, an das dann entweder eine „weibliche“ Endung (-e) oder eine „männliche“ Endung (-er) angehängt wird, die dann für verschiedene Fälle unterschiedlich dekliniert werden. Deshalb ist klar, dass hier beide Personenbezeichnungen jeweils direkt vom Adjektiv/Partizip abgeleitet sind. Bei Kategorie 4 gibt unterschiedliche Grundwörter (z.B. Substantive wie Vorstadt, Verbstämme wie erfind-), an die zunächst -er angehängt wird, um eine Personenbezeichnung zu erzeugen, und dann ggf. noch -in um Weiblichkeit anzuzeigen.
@ Gast: Wie Bernhard schon sagt, sieht es nur oberflächlich so aus, als passten Witwer/Witwe und Hexer/Hexe in Kategorie 3. Tatsächlich verhalten sich die Wörter in Kategorie 3 morphologisch wie Adjektive/Partizipien, Witwer/Witwe und Hexer/Hexe aber nicht:
Mask. indefinit
Nominativ
ein Grüner
ein Witwer
Dativ
einem Grünen
einem Witwer (nicht: *einem Witwen)
Akkusativ
einen Grünen
einen Witwer (nicht: *einem Witwen)
Genitiv
eines Grünen
eines Witwers (nicht: *eines Witwen)
Mask. definit
Nominativ
der Grüne
der Witwer (nicht: *der Witwe)
Dativ
dem Grünen
dem Witwer (nicht: *dem Witwen)
Akkusativ
den Grünen
den Witwer (nicht: *den Witwen)
Genitiv
des Grünen
des Witwers (nicht: *des Witwen)
Fem. indefinit
Nominativ
eine Grüne
eine Witwe
Dativ
einer Grünen
einer Witwe (nicht: *einer Witwen)
Akkusativ
eine Grüne
eine Witwe
Genitiv
einer Grünen
einer Witwe (nicht: *einer Witwen)
Fem. indefinit
Nominativ
die Grüne
die Witwe
Dativ
der Grünen
der Witwe (nicht: *der Witwen)
Akkusativ
die Grüne
die Witwe
Genitiv
der Grünen
der Witwe (nicht: *der Witwen)
@ Mona, danke für die Hinweise auf die Dialektformen.
@ Sprachen-Anwender: Auch Wittfrau ist eine solche dialektale Variante. Sie könnte tatsächlich aber auch verwendet werden, um sich von Witwe bedeutungsmäßig abzugrenzen. Fragen Sie doch mal nach, wie bewusst die Wortwahl ist!
@A.S. . 12.09.2011, 14:08
Ich halte dieses Szenario auch nicht für besonders plausibel, meine zweite Möglichkeit (reflexhaftes Benutzen üblicher Journalisten- und Politiker-Formeln) scheint mir wahrscheinlicher. Versprecher aber, meine ich, kann man ausschließen — wie gesagt: wenn die Meldung stimmt, daß sie “Witwerinnen” mehrmals wiederholte.
Sprachen-Anwender Witfrauen
Ich kannte als Kind nur “Witfrau”; “Witwe” gab es in meinem Dialekt gar nicht. Die Erklärung, daß “Witwe” mit einem “prekären Status verhaftet” war, stimmt für diese Fall sicher nicht.
Wittfrau
@ Sporachen-Anwender und AS: Im Plattdeutschen wird reggelmäßig das Wort “Witfru” für Witwen verwendet. Vermutlich ist das “Wittfrau” aus quasi als einhochdeutschung des Plattdeutschen herübergeschwappt.
Witfrauen
@Gunnar und Ludwig Trepl
Meine Schwiegermutter ist wie ich fern von Platt aufgewachsen — die Singular-Form Wit(t)frau habe ich sie noch nie benutzen gehört, ehrlich gesagt kannte ich die bis heute nicht. Ich bezweifle auch nicht dass es sich bei den Witfrauen um eine eingewanderte dialektale Form handelt.
Da diese Frau in ihren Sprachmustern wie auch ihrem Werstesystem eine recht konservative 60er-Jahre-Sozialisation erkennen lässt halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass das Wort Witwe für sie konnotiert ist mit einem sozialen Status der sich von ihrem heutigen stark unterscheidet. Es ist nur eine Annahme von mir. Zu bewusster Wortwahl neigt sie allerdings nicht.
Versprecher
Nur, weil jemand etwas mehrmals sagt, heißt das nicht, dass es kein Versprecher ist. Ich weiß nicht, was „ reflexhaftes Benutzen üblicher Journalisten- und Politiker-Formeln“ bedeuten soll — den Beitrag, den die Formel [X und X‑innen] leisten könnte, habe ich ja erwähnt. Der große Rest meines Beitrags handelt davon, warum dieser Versprecher gerade bei Witwer/Witwerinnen passiert, und zwar seit Hunderten von Jahren.
Bin ich der einzige, der es langsam etwas anstrengend findet, dass sich nach jedem Beitrag gewisse Leute in den Kommentaren einfinden, die in keiner Weise auf die Argumentation des Beitrags, die darin präsentierten Fakten eingehen oder die Diskussionsbeiträge anderer Kommentator/innen eingehen, sondern statt dessen immer nur die Aussage „Ich bin aber trotzdem meiner unbegründeten Meinung!“ wiederholen? Wem „Erklärungen“ wie „Journalisten- und Politiker-Formeln“ genügen, dem sei das doch herzlich gegönnt, aber hier im Sprachlog dienen solche Vermutungen als Ausgangspunkt von (sprach)wissenschaftlich motivierten Diskussionen, nicht als Endpunkt. Wer letzteres will, findet das in Dutzenden von Bastian-Sick-imitierenden Sprachkolumnen in deutschen Regionalzeitungen.
Gruppe 5 oder 3.2
Es fehlt noch eine Gruppe, die überwiegend, vielleicht ausschließlich, Kurzwörter enthält, z.B. Studi und Azubi. Obwohl sie generisch maskulin sind, lassen sich zu ihnen keine akzeptablen geschlechtsspezifischen Formen im Singular bilden (trotz der Quasiexistenz von Azubine) und im Plural sind sie stets geschlechtsneutral.
Wäre Linguistik präskriptiv, wäre es eine interessante Aufgabe, die Derivation in Gruppe 4 so zu ändern, dass es markierte Formen für beide Sexus gäbe. Die anderen sind bzgl. des angeblichen sprachstrukturellen Sexismus des Deutschen vergleichsweise unproblematisch.
Im übrigen finde ich die Etymologie der markierten Sexus-/Genuslexemplare (Gruppe 2) recht interessant. So war bspw. Stute (wie noch in Gestüt ersichtlich) ursprünglich eine Bezeichnung für eine Menge von Pferden. Außerdem gibt es zu ihnen oft noch ein neutrales Hyperonym / Kollektivum, z.B. Pferd, Kind oder das Pluraletantum Eltern.
PS: Mädchen ist natürlich keine wirkliche Ausnahme, sondern nur ein Beispiel für die der Sexus-Genus-Korrespondenz übergeordnete Regel, dass mit den Suffixen -chen, ‑lein etc. gebildete Diminutive neutrum sind. Überhaupt ist gerade -chen etwas speziell, da es m.W. das einzige heimische Morphem ist, mit dem sich ‹sch›-Graphemketten bilden lassen, die nicht mit dem Phonem ‹ʃ› korrespondieren.
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# Das Wort für weibliche Personen ist von dem für männliche abgeleitet, z.B. Blogger/in, Erfinder/in, Meister/in, Torhüter/in, Vorstädter/in, usw. (hier stimmen grammatisches und natürliches Geschlecht immer überein). –
Interessanter als die Frage, ob sich irgendwer in einer Talkshow versprochen hat oder nicht, finde ich die die Frage, ob obige Aussage wirklich ausnahmslos gilt.
Aus lat.-dt. Magister lässt sich außer Magistra auch Magisterin ableiten.
Was ist nun mit all jenen Studentinnen, die sich, bei Ausstellung ihres M.A.-Zeugnisses vor die Wahl zwischen Magister und einer dezidiert femininen Form gestellt, für “Magister” entschieden? Und die Boxerin, die einen Titel gewinnt und im Interview sagt, sie sei jetzt zum siebten Mal hintereinander Meister geworden: Kann sie nicht richtig Deutsch oder gebraucht sie schlicht eine umgangssprachliche Kurzform?
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Also ich wäre ja dafür, die Deklination nach Geschlecht und auch bei Tätigkeits- und Herkunftsbezeichnungen im Deutschen einfach generell abzuschaffen. Kann es da nicht auch einfach eine Standardsprachreform analog der Rechtschreibreform geben?
[trollface.gif]
Re: Natürliches Geschlecht
@ “In der Tat konnte (und kann) man von „weiblichen Schülern“ sprechen — interessanterweise aber nicht von „männlichen Schülerinnen” (A.S.):
Aber sehr wohl von ‘männlichen Geiseln’. Meine Frage richtete sich auf die Behauptung, dass sich die Ausdrücke der Gruppe 3 und 4 grundsätzlich von denen der Gruppe 1 unterscheiden, indem bei letzteren (1) das grammatische Geschlecht keinerlei semantische Funktion hat (zumindest keine, die mit dem natürlichen Geschlecht des Referenten zu tun hätte), während erstere (3/4) in ihrer Referenz auf Personen beschränkt sind, deren Geschlecht mit dem grammatischen Geschlecht des Ausrucks übereinstimmt. Ich sehe bisher kein überzeugendes Argument für den zweiten Teil dieser These (bzgl. Gruppe 3/4).
Natürlich ist es immer schwierig, referentielle Eigenschaften sprachintern zu erklären, da sie zum Teil schlichtweg konventionell sind und somit auch leichter durch normative Regelungen beeinflusst werden können. Trotzdem würde ich es begrüßen, wenn solche Regelungen durch sprachinterne Argumente gestützt würden. Die Morphologie könnte in diesem Fall sicherlich ein guter Anhaltspunkt sein, allerdings überzeugt mich das angeführte Argument bezgl. der “strukturell sexistischen” Sprache noch nicht.
@ “eine Asymmetrie im Verhältnis von grammatischem und natürlichem Geschlecht, die zu einem Teil darauf zurückzuführen ist, dass die maskuline Form morphologisch unmarkiert und die feminine markiert ist, und zu einem anderen Teil darauf, dass die deutsche Sprache strukturell sexistisch ist.” (A.S.):
Der erste Teil der Begründung (morphologische Unmarkiertheit) scheint mir unstrittig. Im zweiten Teil dagegen (“strukturell” sexistische Sprache) wird meiner Meinung nach eben diese Markiertheits-Erklärung wieder ausgehebelt.
Zunächst einmal ist mir noch gar nicht klar, was es eigentlich bedeutet, wenn eine Sprache “strukturell sexistisch” ist. Aber auch wenn man diese Prämisse als gegeben hinnimmt, ist mir immer noch nicht klar, inwiefern dieser Sexismus im Fall der unmarkierten Maskulin-Form eine Rolle spielt.
Die Unmarkiertheit selbst kann jedenfalls kein Indiz für strukturellen Sexismus sein, es sei denn man möchte die Trennung von semantischem und grammatischem Geschlecht komplett über Bord werfen.
Tiershow
Neulich hörte ich auch zu meinem eigenen Erstaunen bei “Tiere suchen ein Zuhause” von einer Kätzin. Das soll wohl die weibliche Form von Katze sein. 😉
Kätzin @DirkNB
Aber das Vieh heißt wirklich so:
http://www.duden.de/suchen/dudenonline/k%C3%A4tzin
Immer wieder
Danke für diesen umfangreichen und profunden Semantik- oder vielleicht doch eher Linguistikcheck. Ich habe das Wort im Kompetenzteam vorgestellt, habe aber nicht die Schuld beim Gendermainstreaming gesucht. Ich hielt den Fall für relativ klar, auch wenn ich den schönen Fachbegriff “Regularisierung von Ausnahmen noch nicht kannte. Ich kannte aber die ähnlich gelagerten Fälle “Erstsemester und Erstsemesterinnen” (letzteres liefert über 14000 Googletreffer) sowie “Kinder und Kinderinnen”, beides von der Witwerinnen dadurch unterschieden, dass das Erstsemester und das Kind bekanntlich der Kategorie 1 angehören. Aber es klingt eben so, als hätten wir die Kategorie 4 vor uns (beim Kind freilich nur im Plueal). Kluge Verfechterinnen der “diskriminierungsfreien Sprache” wie Luise F. Pusch sehen in dieser Regularisierung einen krassen Rückschritt, denn die deutsche Sprache wird ja dort, wo sie vorbildlich diskriminierungsfrei ist (“das Erstsemester” kann einen Mann wie eine Frau meinen und legt sich deshalb äquidistant ein neutrales Genus zu), erst patriarchalisiert, um dann mittels “-innen” wieder so einigermaßen gerecht gemacht zu werden.
Sehr interessant fand ich den Hinweis auf die frühere Verwendung von “Witwerinnen” — wobei ich glaube, dass wir die Möglichkeit vernachlässigen können, dass Frau Büscher hier ein besonders antiquiertes Deutsch sprechen wollte. Waren damals die Witwerin ein glecihberechtigtes Synonym zur Witwe? Oder war Witwe immer das Grundwort und die Witwerin war immer eine zweifelhafte Nebenform. Wann und warum setzte sich die Witwe durch?
Azubi(e)ne
Christoph Päper schrieb:
“Es fehlt noch eine Gruppe, die überwiegend, vielleicht ausschließlich, Kurzwörter enthält, z.B. Studi und Azubi. Obwohl sie generisch maskulin sind, lassen sich zu ihnen keine akzeptablen geschlechtsspezifischen Formen im Singular bilden (trotz der Quasiexistenz von Azubine) und im Plural sind sie stets geschlechtsneutral.”
Nachdem Mona dies mit der Kätzin so schon vorgeführt hat, kann ich mir jetzt nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass auch die Azubine *tatsächlich* existiert, sogar wahlweise mit oder ohne “e”:
http://www.duden.de/suchen/dudenonline/azubine
@phaeake
Nachdem meine Antwort auf Deine Fragen etwas ausgeartet ist, habe ich sie hier gepostet.
Kurz zusammengefasst: Die Witwerin war immer nur eine Nebenform.
@phaeake
Wie Kristin in dem von ihr verlinkten Beitrag schön zeigt, war Witwerin immer eine Nebenform. Die Belege sollten zeigen, dass es schon sehr lange immer wieder Mal Sprecher/innen des Deutschen gab, die diese Form bilden — eben, weil sie morphologisch plausibel ist.
Allerbesten Dank
Ich bin geradezu gerührt, mit wieviel Akribie hier meinen Fragen nachgegangen wird.
Was ich noch nachtragen wollte: Wenn schon der Wortstamm auf ‑er endet, die maskuline Form also auf ‑erer, wird die feminine Endung ‑in niht angehängt, sondern sie ersetzt das maskuline ‑er: Zauberer — Zauberin, Wanderer — Wanderin.
Andere Möglichkeit die weibliche Form von der männlichen abzuleitenist der vermännlichende Endung — rich: Kröte — Kröterich.
„Nur, weil jemand etwas mehrmals sagt, heißt das nicht, dass es kein Versprecher ist.“ Doch, denn ein Versprecher wird vom Sprecher in aller Regel bemerkt und darum nicht wiederholt, schon gar nicht mehrmals. Meinten Sie mit Versprecher vielleicht, was ich mit „reflexhaftes Benutzen“ zu benennen versuchte? Wenn unter Ausschalten des Denkens und des Willens etwas über die Lippen kommt, auf einen bestimmten Reiz hin? Das kann beliebig oft hintereinander vorkommen.
Sie mögen es nicht, wenn sich „gewisse Leute in den Kommentaren einfinden, die in keiner Weise auf die Argumentation des Beitrags, die darin präsentierten Fakten eingehen…“
Sie haben Ihren Artikel mit einer Kritik an mir begonnen: „Die Schuld an diesem Versprecher gab man umgehend der ‚politisch korrekten, insbesondere genderbewußten Sprache’“. Sie haben dann Fakten präsentiert, die daran zu zweifeln Anlaß geben sollen. Ich habe darauf bezogen argumentiert, und zwar habe ich auf Fakten hingewiesen – nur hingewiesen, nicht dies ausgeführt, denn ich konnte ja keinen Artikel schreiben –, die den Wert Ihrer Fakten im Hinblick auf meine Behauptung in Frage stellen.
Sie argumentieren z. B. „dass sich die Form Witwerin im Deutschen schon seit Hunderten von Jahren nachweisen lässt, in Texten, deren Verfasser kaum im Verdacht stehen, genderverwirrte Gutmenschen zu sein.“ Das war als Argument gemeint gegen die Behauptung, daß an dem „Versprecher“ in der Sendung die „genderbewußte Sprache“ schuld sei.
Wenn auf eine Wiese die Mäusepopulation schrumpft, dann sind „die Füchse waren es“ und „die Katzen waren es“ Hypothesen, deren Prüfung sich lohnen dürfte, denn man weiß, daß Hunde und Katzen in der Gegend vorkommen. Daß es die Schneeeulen waren, ist auch möglich, denn man weiß, daß sie sich gelegentlich bis nach Mitteleuropa verirren. Aber kein Biologe würde diese Hypothese prüfen – es sei denn, es gäbe im konkreten Fall besondere Anhaltspunkte, daß sie zutreffen könnte.
Die Hypothese, daß „Witwerin“ seit langem hin und wieder vorkam und die Journalistin es deshalb benutzte, ist von der Art der Schneeeulen-Hypothese (siehe auch @ Phaeake “immer wieder”). Ich habe dagegen auf ein anderes Faktum – ja, Faktum – hingewiesen: nämlich daß einem seit Jahren das „durchgegenderte Medien- und Politdeutsch“ (Nachtwächter) in den Ohren dröhnt und daß man das, was man ständig hören muß, leicht reflexhaft nachplappert (letzteres ist vom Typ der für selbstverständlich genommenen regel- oder gesetzesförmigen Aussagen lebensweltlicher Herkunft, auf der die Erklärungen in den historischen Wissenschaften ganz überwiegend beruhen und beruhen müssen). Man kann auch durch Selbstbeobachtung – die liefert ebenfalls Fakten – wissen, daß einem die Formeln dieses Jargons selbst dann über die Lippen möchten, wenn man sie gar nicht mag. Daraus läßt sich eine Hypothese von der Art der Katzen- und Füchse-Hypothese machen. Das ist eine prüfenswerte Hypothese („in der Gegend“ kommt die vermutete Ursache vor), aber doch, worauf Sie ja bestehen, nur eine Hypothese: Es können, wie Sie schreiben, „solche Vermutungen als Ausgangspunkt von (sprach)wissenschaftlich motivierten Diskussionen, nicht als Endpunkt“ dienen. Aber, entgegne ich, es müssen eben prüfenswerte Vermutungen sein. Was Sie angeführt haben („…tiefe sprachstrukturelle Gründe. Die haben zwar auch etwas mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun, aber auf eine subtile Art und Weise, die mit politischer Korrektheit und durchgegendertem Mediendeutsch nicht viel zu tun hat“), ergibt einfach keine prüfenswerten Hypothesen drüber, weshalb das Wort heute in einer Fernsehsendung auftaucht.
Nun können Sie das alles natürlich leicht umdrehen. Sie können darauf insistieren, daß ich erst einmal zeigen müßte, warum ihre und nicht meine Hypothese eine Schneeeulen-Hypothese ist. Ich bin mir sicher, daß ich das könnte (aber dazu bräuchte ich mindestens mehrere Seiten) – nicht mittels Daten, sondern durch das Explizieren von Erfahrungen, die Sie ebenso haben wie ich. Das brächte Sie dazu, nicht mehr zu sagen „dass die im Bemühen um gerechte Sprache häufig verwendete Formel [X und X‑innen] bei dem Versprecher eine Rolle gespielt hat“ sei sicher „nicht unplausibel“. Sondern sie würden dann sagen: Daß das die wahrscheinlichste Hypothese ist, liegt auf der Hand wie die Fuchs-Katzen-Hypothese, und man muß eine beträchtliche Beweislast auf sich nehmen, wenn man zeigen will, daß das nicht stimmt. Sie müßten dann Ihre Erfahrungen — solche, die ihre Hypothese stützen — explizieren, und dann könnten wir ja sehen.
Es tut mir leid, aber ich werde den Verdacht nicht los, daß Sie Füchse und Katzen lieben und die es einfach nicht gewesen sein dürfen. (Diesen Verdacht haben Sie bei mir auch — oder?)
Versprecher
Herr Trepl,
Wie wäre das: Sie versuchen nicht, mir zu erklären, was ein Versprecher ist, und ich versuche nicht, ihnen etwas über Landschaftsökologie beizubringen.
Ein paar Anmerkungen:
Es ist eine alte Höflichkeitstradition, die weibliche Form zuerst zu nennen. Gängig ist daher weniger die Form [X und X‑innen] als die Form [X‑innen und X] („liebe Genossinnen und Genossen“). So drücken sich in der Regel (männliche?) Politiker aus. Nun könnte man darin ja auch eine Form des „Sexismus“ erkennen. Hat Brigitte Büscher vielleicht deshalb die eher unübliche Reihenfolge gewählt? Spielt das vielleicht eine Rolle? Würde Sie auch „Witwerinnen und Witwer“ sagen?
Zu Muster 1:
Früher gab es auch die Formen Gästin/Gastin und der/die Geisel. Wenn jemand heute also „liebe Gästinnen und Gäste“ sagt, hat das auch „tiefe sprachstrukturelle Gründe“? Was ist mit dem anscheinend gar nicht so seltenen „Mitgliederinnen und Mitglieder“? Handelt es sich vielleicht eher um eine banale Verwechslung der Mehrzahlendung –er mit der „männlichen“ Ableitungsendung –er?
Zu Muster 3:
Hier werden als Beispiele nur substantivierte Adjektive und Partizipien der Gegenwart genannt. Zu diesem Muster gehören aber auch die Partizipien der Vergangenheit. Hier treten allerdings Beonderheiten auf. Laut Duden gibt es nur der Beamte/die Beamtin, aber sowohl die Geandte als auch die Gesandtin. Nach der Wortherkunft müßten die weiblichen Formen eigentlich die Beamte und die Gesandte heißen.
@Ludwig Trepl
Da mir der Zusammenhang der Äußerung von Frau Büscher nicht bekannt ist, nehme ich an, daß es tatsächlich um verwitwete Menschen beiderlei Geschlechts ging. Meinem Sprachgefühl nach ist es weder möglich, mit “Witwen” die Witwer mitzumeinen, noch umgekehrt. Wenn mich mein Sprachgefühl hier also nicht sehr täuschen sollte, was es in der Regel nicht tut, so wäre die Forderung, sich in einem solchen Fall auf “Witwen” oder “Witwer” zu beschränken, absurd. Ich gehe auch davon aus, daß das nicht Ihre Position ist.
Sie geißeln nun mit großem Eifer “reflexhaftes Benutzen üblicher Journalisten- und Politiker-Formeln”. Fair enough. Der Umstand, daß Frau Büscher Ausdrücke für beide Geschlechter verwendet hat, kann damit aber wie gesehen nicht gemeint sein, sondern nur die Anwendung des Schemas X und Xinnen” als solches. Bemerkenswert ist, nebenbei bemerkt, daß Sie gleichzeitig gedankenlose und darum fehlerhafte Verwendung eines Schemas ankreiden und vehement bestreiten, daß diese gedankenlose Verwendung ein Versprecher gewesen sei. Aus der Behauptung, es habe sich nicht um einen Versprecher gehandelt, kann man nämlich eigentlich nur darauf schließen, daß Sie Frau Büscher unterstellen, aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit grundsätzlich “Witwerinnen” anstelle von “Witwer” zu sagen. Das wäre dann aber nicht mehr besonders gedankenlos, und was es außerdem mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun haben sollte, ein weibliches Wort durch die aus der daraus abgeleiteten männlichen Form abgeleitete weibliche Form zu ersetzen, bliebe im Dunkeln. Ich gehe davon aus, daß Sie das nicht wirklich meinten, da es ohne weitere Begründung eine absurde Annahme wäre.
Nun schreibt A.S.
Ihre Behauptung, daß es sich um eine Anwendung des Schemas handle, wird von A.S. also gar nicht grundsätzlich bestritten. Vielmehr wird versucht, die Frage zu klären, warum diese Bildung weniger überraschend sein dürfte als es etwa die Bildung “Männin” wäre (im außerbiblischen Kontext), die man bei konsequenter Anwendung des Schemas ja ebenfalls erwarten können sollte.
Die Sache würde sich also letztlich so darstellen: Aus sachlichen Gründen mußten die männliche und die weibliche Form des Wortes beide verwendet werden. Die übliche Weise, eine weibliche Form eines Substantivs zu bilden ist die Suffigierung von “-in”. Weil sich “Witwer” aufgrund seiner Form besonders für eine falsche Einregelung anbietet, wurde diese Weise tatsächlich und fälschlicherweise gewählt, was etwa in der Form “Männer und Männinnen” sicher nicht geschehen wäre.
Was von Ihrer Position übrig bleibt ist die behauptete Anwendung des Schemas, die wie gesehen nie grundsätzlich bestritten wurde. Selbst diese ist aber sehr fraglich, denn wenn meine Ausgangsannahme nicht völlig falsch ist, war die Verwendung der Wörter für beide Geschlechter ja tatsächlich sprachlich zwingend notwendig, also wenig reflexhaft. Was dann vom Schema übrigbleibt ist nichts weiter als der Versprecher, die zwingend benötigte weibliche Form in falsch regelhafter Weise mittels “-in” gebildet zu haben, anstatt die webliche Ausgangsform zu verwenden. Daß dieser Fehler aber auch ohne Genderdruck und Schematerror schon gelegentlich vorgekommen ist, hat A.S. bereits belegt.
Versprecher
Als Laie finde ich es absolut plausibel, was Hr. Trepl schreibt, nämlich dass man einen Versprecher normalerweise nicht wiederholt. Sollte diese Annahme falsch sein, wäre es nett, das zu erläutern und nicht nur herablassend darauf hinzuweisen, dass Herr Trepl in sprachlichen Dingen vermutlich Laie ist.
Ganz sicher ein Versprecher war, was ich vor einiger Zeit in einem Interview hörte, das ich leider nicht aufgezeichnet habe: Kinderinnen und Kinder, oder genauer gesagt “Kindernkinder”
@A.S. Versprecher 13.09.2011, 20:59
“Wie wäre das: Sie versuchen nicht, mir zu erklären, was ein Versprecher ist, und ich versuche nicht, ihnen etwas über Landschaftsökologie beizubringen.”
Lieber wäre es mir, Sie erklären mir, was ein Versprecher ist, denn es scheint sich ja um etwas zu handeln, wovon man in der Linguistik ein besonderes Wissen hat. Ich dachte bisher, das gehört zum lebensweltlichen Wissen, also in den Bereich, wo es weder Laien noch Fachleute gibt.
Linguistische Versprecher-Theorien
@ Gschleiderkneis und Ludwig Trepl
Man darf getrost davon ausgehen, das jede wissenschaftliche Disziplin zu den Dingen, mit denen sie sich beschäftigt, ein besonderes Wissen hat. Wo ein solches besonderes Wissen zu bestimmten Themen nicht vorhanden ist, dürfte in der Regel wenigstens eine wissenschaftliche Darstellung des „lebensweltlichen Wissens“ vorliegen, das mehr oder jeder sowieso hat.
Zum Einstieg in das Thema empfehle ich den Wikipedia-Artikel Wissenschaftliche Versprecher-Theorien. Dort gibt es auch eine lange Literaturliste zur Theorie der Versprecher.
@ gnaddrig Linguistische Versprecher-The
Danke!, ich hab’ in dem Wikipedia-Artikel nachgelesen, und muß nun zugeben, daß Herr A. S. recht hat. Dort steht: “Oft bemerkt man sie [die Versprecher] aber auch nicht und meint, geäußert zu haben, was man sagen wollte.” In der Tat, da würde man auch in der Alltagssprache von “Versprecher” reden. Man muß das — für die Diskussion hier ist das wichtig — aber von den Versprechern, die ich meinte und die man sofort bemerkt, unterscheiden. — Das, was ich als “reflexhaftes Benutzen von Formeln” bezeichnet habe, deckt sich aber nicht ganz mit diesen unbemerkten Versprechern, scheint mir.
@ Nachtrag gnaddrig Linguistische Verspr
Damit man nicht falsche Schlüsse zieht: darauf, daß A.S. recht hat und nicht ich im Falle des “Versprechers”, hat mich nicht eine Wissenschaft gebracht; das hätte mir jeder Laie, der etwas aufmerksamer ist als ich, auch sagen können.
Daß die Psychologie und die Linguistik einem Laien insbesondere über die Ursachen von Versprechern vieles beibringen können, worauf er von sich aus nicht kommen könnte, ist selbstverständlich richtig.
@ David @Ludwig Trepl 14.09.2011, 03:28
„Aus der Behauptung, es habe sich nicht um einen Versprecher gehandelt, kann man nämlich eigentlich nur darauf schließen, daß Sie Frau Büscher unterstellen, aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit grundsätzlich “Witwerinnen” anstelle von “Witwer” zu sagen.“
Nein, diesen Schluß kann man nicht ziehen. Daß es kein Versprecher in dem Sinn war, den ich meinte (inzwischen habe ich gelernt, daß das nicht der einzige Sinn von „Versprecher“ ist), soll nicht heißen daß Frau Büscher „geschlechtergerecht“ sein wollte. Sondern die Hypothese, die ich für die wahrscheinlichste halte (das habe ich ja geschrieben), ist: Sie hat reflexhaft die „X und X‑innen“-Formel benutzt. Ob sie damit „geschlechtergerecht“ sein wollte, wäre eine andere Frage, und eine ziemlich überflüssige, denn Sie haben recht: weibliche und männliche Form zu benutzen ist hier zwingend, selbst ein verbissener Feind „geschlechtergerechten“ Sprechens wäre dazu gezwungen; wenn, dann hat sie nur ganz allgemein „geschlechtergerecht“ reden wollen. Und in dem „reflexhaft“ steckt ja, daß die Journalistin gar nicht absichtlich gehandelt hat. Sie hat, so meine Vermutung, ohne etwas dabei zu denken eine Formel von sich gegeben, wie das ja in unzähligen Fällen gemacht wird, besonders im Politikerjargon.
Sie schreiben: „die Verwendung der Wörter für beide Geschlechter“ war „tatsächlich sprachlich zwingend notwendig, also wenig reflexhaft“, dann stimmt daran, daß die Verwendung der Wörter für beide Geschlechter tatsächlich zwingend ist, aber nicht (falls Sie das damit sagen wollten), daß die Verwendung der „X und X‑innen“-Formel nicht reflexhaft ist.
In der Tat, „was dann vom Schema übrigbleibt ist nichts weiter als … die zwingend benötigte weibliche Form in falsch regelhafter Weise mittels “-in” gebildet zu haben“. Für Sie ist damit vielleicht fast nichts übrig: ein winzig kleines Fehlerchen. Ich frage mich aber, wo es herkommt. Man kann wohl ausschließen, daß die Journalistin nicht wußte, daß es „Witwe“ heißt, und wenn, dann wäre das wenig interessant, man könnte allenfalls über den Niedergang der Qualität der Schule jammern. Interessant ist – und das macht die Komik der Formulierung aus, nicht, daß da jemand ein Wort nicht kennt –, wo der Reflex herstammt. Vor allem in Reden von Politikern der linken Hälfte des Spektrums sind Sätze oft beinahe doppelt so lang wie sie sein müßten, weil ein „X und X‑innen“ auf das andere folgt. Der Zwangscharakter, den das inzwischen hat, hat nun eine schöne Stilblüte hervorgebracht (die Linguisten mögen mich korrigieren, falls dieses Wort hier nicht paßt – falls sie, was ich nicht weiß, dafür zuständig sind). – Daß die Form X‑innen die einzige regelhaft anwendbare ist („produktive“, so wurde das in dem Artikel genannt), mag auch ein wenig dazu beigetragen haben – so möchte ich das Argument von Herrn A.S. umdrehen, der es ja für nicht ganz unplausibel hält, daß die „durchgegenderte“ Sprache eine gewisse Rolle gespielt haben mag.
@Ludwig Trepl
Daß es auch eine reflexhafte Verwendung des Schemas war, läßt sich prinzipiell natürlich nicht ausschließen. Andererseits, das zeigen eben die von A.S. angeführten Beispiele, wurde der Fehler auch schon vor der Zeit der geschlechtergerechten Sprache gelegentlich gemacht, wenn die weibliche Form benötigt wurde. Da sie auch im hier diskutierten Fall benötigt wurde, reicht A.S. Erklärung für das Vorkommen des Fehlers somit alleine aus. Sie könnten aber natürlich beide Recht haben, was sich jedoch schwer entscheiden lassen wird.
@ David @ Ludwig Trepl
„Da sie auch im hier diskutierten Fall benötigt wurde, reicht A.S. Erklärung für das Vorkommen des Fehlers somit alleine aus.“
Ja; aber meine auch, und eine dritte, z. B. daß die Journalistin in der Schule nicht aufgepaßt hat, reicht auch aus. Und eine vierte … . Auch können mehrere Ursachen zusammengewirkt haben. Sie könnte z. B. in der Schule nicht aufgepaßt haben und das Wort „Witwe“ war ihr darum nur sehr nebelhaft präsent, und dann hat sie die „X und X‑innen“-Form gewählt, weil die halt in der Regel zu nehmen ist und der Politikerjargon, den sie ständig im Ohr hat, hat einen weiteren Antrieb gegeben.
Interessant ist Ihr nächster Satz: „Sie könnten aber natürlich beide Recht haben, was sich jedoch schwer entscheiden lassen wird.“ Ja, wie könnte man das entscheiden? Man müßte wohl erst einmal klären, was hier überhaupt eine der Untersuchung werte Frage ist. Wir diskutieren immer so, als ob uns daran gelegen wäre, herauszufinden, was in dieser Journalistin wirklich vorgegangen ist. Da müßte man sie halt als Individuum im Zusammenhang mit dieser speziellen Situation untersuchen, in der Art, wie z.B. ein Kriminalkommissar oder ein Arzt einen besonderen Fall untersucht, müßte die Biographie erforschen usw.
Doch das interessiert uns in Wirklichkeit ja gar nicht, wir sind nicht Kommissare oder Ärzte. Der Fall ist für uns nur interessant, wenn sich daran etwas von allgemeiner Bedeutung zeigt. Also etwa: Welche Auswirkungen hat eine bestimmte Art des Sprechens, die in bestimmten Kreisen üblich ist, auf … ? Da steht eine Position, die vermutet: große, gegen eine andere, die vermutet: kleine (hinter jeder steht eine bestimmte kulturell-politische Haltung, die sich bestätigt sehen möchte). Sollte sich nun herausstellen, daß es im Falle dieser Fernsehsendung große Auswirkungen gab, daß ich also recht hatte, wäre für die uns wirklich interessierende Frage wenig gewonnen: Es ist ja nur ein einziger Fall.
Man sollte Ihre Frage darauf beziehen, wie man diese uns wirklich interessierende Frage entscheidet. Das wäre doch ein Thema für diesen Blog: Was könnte man mit sozialempirischen Untersuchungen ausrichten? Was mit phänomenologischen? (Daß es so etwa Ähnliches sein müßte, habe ich oben in einem Kommentar zu A.S. recht apodiktisch behauptet, aber so sicher bin ich mir natürlich nicht.). Und was es sonst noch so geben mag.
Interessant wäre auch, wie man mit dem Verhältnis der die ganze Diskussion motivierenden kulturell-politischen Haltungen und dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit umgehen soll. So wie es jetzt läuft, daß jeder immerzu nach Bestätigungen für seine wissenschaftsextern (lieb-)gewonnene Vormeinung sucht, gilt ja seit Popper nicht mehr so recht als eine anstrebenswerte Einstellung von Wissenschaftlern. Man könnte auch die Berechtigung der jeweiligen kulturell-politischen Haltungen untersuchen; das hätte mit Linguistik nur noch wenig zu tun, würde aber sicher manche Diskussionen unter Linguisten (oder zwischen Linguisten und „Sprachnörglern“) besser zu verstehen erlauben.
Ockham’s Razor bzw. das Prinzip der Sparsamkeit greift hier: Die These, die am wenigsten Voraussetzungen benötigt, ist als Erklärungsmodell vorzuziehen.
Vierte Kategorie
>Außerdem passt das Wort Witwer formal und
>semantisch auch noch genau in die vierte
>Kategorie
Nein, passt nicht. M.E. ist das Grundwort “Wit”. Während der Duden das Wit-Tum (entsprechend Eigen-Tum) und das Verb wid-men zusammenfasst, den Wit-Wer (verwitweter Mann) und die Wit-Frau oder Wit-Wib -> Witwe aber auf eine andere Wurzel zurückführt, sehe ich das nicht als zwingend. Logisch fände ich *uidh = privat, frei von anderen Ansprüchen. Der Wit-Mensch ist damit aus der Ehe befreit und kann wieder heiraten.
Der Witwer ist also nicht auf Grund seiner Aktivitätsendung “-er” in Kategorie 4, sondern nur zufällig und scheinbar.
Wer daraus eine Witwerin macht, hat kein Gefühl für seine Sprache.
@ Dierk kein Betreff
“Ockham’s Razor bzw. das Prinzip der Sparsamkeit greift hier: Die These, die am wenigsten Voraussetzungen benötigt, ist als Erklärungsmodell vorzuziehen.”
Nein, das greift hier nicht. Es ist ja eine Tatsachenbehauptung, daß z.B. die Unaufmerksamkeit in der Schule zu dem “Versprecher” beigetragen hat. Wenn ich diesen nun durch die Hypothese “Wirkung des gegenderten Jargons” allein erklären kann, die Unaufmerksamkeit aber trotzdem faktisch mitgewirkt hat, dann kann ich nicht das eine das anderem vorziehen, sondern muß beide benennen. Der razor ist ein ökonomisches Prinzip für den Fall alternativer Hypothesen, und zwar für die Theoriefindung, nicht für die Erklärung singulärer Sachverhalte; auch da nur ein ökonomisches Prinzip: Es könnte ja sein, daß die Hypothese, die mehr Voraussetzungen benötigt, die zutreffende ist.
Unrasierte Einzelfälle
Wenn auf dem Bürgersteig vor meiner Wohnung ein Stück Kot liegt, dann sollte ich in diesem Einzelfall also nicht davon ausgehen, daß es von einem Hund aus der Nachbarschaft stammt, weil es faktisch auch durchaus sein könnte, daß Angela Merkel vorbeigekommen ist und mich necken wollte? Das scheint mir nicht sehr plausibel.
Sie haben allerdings Recht, wenn Sie darauf hinweisen, daß das Rasiermesser ein methodologisches Prinzip (und nicht etwa ein Wahrheitskriterium) ist. Aus dem Status als methodologisches Kriterium folgt aber, daß andere methodologische Kriterien in gewissen Fällen Vorrang vor dem Rasiermesser haben können, und wenn es um Eigenschaften oder das Verhalten von Menschen geht, dann stünde das principle of charity ganz oben auf meiner Liste der Kandidaten dafür.
@ David unrasierte Einzelfälle
Ich meinte mich zu erinnern, daß sich das Ockham-Prinzip nur auf Theorien bezog, kann mich aber irren. – In ihrem Einzelfall-Beispiel geht es um alternative Hypothesen, in meinen dagegen um Fälle, in denen Mehreres an einem Ergebnis mitwirkt und die Hypothesen nicht alternativ sind. Eine Hypothese in Ihrem Beispiel-Typ muß zunächst einmal aus welchen Gründen auch immer plausibel sein, egal wie kompliziert sie ist (siehe Ihr Merkel- und oben mein Schneeeulen-Beispiel). Dann erst gilt die Regel, daß man die plausible Hypothese nicht unnötig komplizieren sollte. – Mit dem Charity-Prinzip wäre ich vorsichtig. Unter „Verhalten“ versteht man ja gewöhnlich etwas nicht durch Überlegungen oder willentlich Geleitetes, im Unterschied zu „Handlungen“. Und dann wird die Sache ja durch Ideologien (im Sinne „notwendig falschen Bewußtseins“) kompliziert, wo der Begriff des Rationalen nicht mehr so einfach ist.
@ Kai Hiltmann
Wie ich schon sagte: Das Wort passt formal (= endet auf -er) und semantisch (= bezeichnet eine männliche Person) genau in die vierte Kategorie. Dass es etymologisch nicht in diese Kategorie gehört und deshalb die Form Witwerin eine regularisierende Analogie darstellt, ist sozusagen die Kernaussage meines Beitrags. Etymologie spielt für die Sprecher/innen einer Sprache keine Rolle, da sie ihnen nicht zugänglich ist. Wer etymologische Beziehungen ignoriert, beweist damit keineswegs ein fehlendes Sprachgefühl.
Was Ihre etymologische Herleitung betrifft, die ist falsch (sind Sie jetzt nicht froh, dass Etymologie nichts mit dem „Gefühl für seine Sprache“ zu tun hat?). Witwe kommt vom indogermanischen *ṷidh „trennen“ über ahd. wituwa (übrigens mit dem männlichen Pendant wituwo) und mhd. witewe, der Wortstamm hat sich erstaunlich erfolgreich in vielen indoeuropäischen Sprachen erhalten, z.B. engl. widow über altengl. widewe, altirisch fedb, walis. guedeu, russ. wdowa, Hindi vidhwa, u.v.m. Mit dem Wittum und dem widmen hat das nichts zu tun, das kommt von indoeurop. *uedh „führen, (eine Braut) heimführen, heiraten“. Man kann dem Duden da schon vertrauen, denn der beruht nicht auf dem, was man „logisch“ finden könnte, sondern auf den Ergebnissen systematischer historischer Sprachwissenschaft.
Bäckerinner
@gnaddrig, ich wollte die ganze Zeit schon sagen: das ist ein cooles Beispiel. Kluges Kind!
Bäckerinner
@ A.S.: Finde ich auch 🙂