Damit alle auf dem gleichen Stand sind: Silvana Koch-Mehrin, für die FDP im Europäischen Parlament und eine überführte Plagiatorin, hat in dieser Woche stolz verkündet, dass sie als Vollmitglied in den EU-Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie berufen worden ist. Kurz: Die Forschungsbetrügerin wird Forschungspolitikerin. Deshalb appellieren wir in einer Petition an das Europäische Parlament und die FDP, Frau Koch-Mehrin von diesem Posten zurückzuziehen und fordern Frau Koch-Mehrin auf, sich von diesem Posten und ihrem Mandat im Europäischen Parlament zurückzuziehen.
Man ist müde, die Karawane ist weitergezogen. Aber was sich Koch-Mehrin leistet, ist auf beängstigende Art grotesker, beschämender und verhöhnender. Dies ist keine nachträgliche relativierende Aussage zum Fall Guttenberg — denn eine für jede/n ehrliche/n Wissenschaftler/in entwürdigende Farce lässt sich immer nur mit sich selbst vergleichen.
Auch wenn sich die Verteidigungsrufe aus den Weiten des Netzes für Koch-Mehrin im Gegensatz zu Guttenberg reichlich mickrig ausnehmen, wird die stark verkleinerte Empörungswelle auch damit zu tun zu haben, dass sich einige fragen: “Gibt’s nichts Wichtigeres?” Natürlich gibt es Wichtigeres.
Ich ärgere mich über die “es gibt Wichtigeres”-Fraktion. Wird die Floskel nämlich benutzt, um die eigene Interessenslosigkeit kundzutun, ist es ein ignorantes und gefährliches Totschlagargument, weil es in jedem Fall zutrifft. Es maskiert vor allem, dass wir als empörte Bürger und Wissenschaftler/innen Frau Koch-Mehrin aus einer ganzen Latte an Gründen zum Rücktritt von allen Ämtern auffordern.
Für die “es gibt Wichtigeres”-Sager gibt’s die reduzierte Pointe vorweg: Wenn wir alles unkommentiert tolerieren, werden wir bald nicht mehr die Vertreter und die demokratische Legitimation haben, mit denen man das Wichtige auch anpacken könnte. Der Volksmund nennt es auch Politikverdrossenheit. (Sich für einen Rücktritt Koch-Mehrins einzusetzen, heißt übrigens nicht, alles andere unwichtig zu finden.) Natürlich ließe sich desillusioniert argumentieren, dass Politik moralfrei ist. Diese subjektive Einschätzung lässt sich nie ganz wegdiskutieren; aber man kann — ja, ich glaube man muss — sich auch dafür entscheiden, es nicht wortlos hinzunehmen.
Und mich macht der Fall Koch-Mehrin auf eine ganz eigenartige Weise richtig, richtig böse.
Neben all den sachlichen, moralischen, ethischen und politischen Gründen, Koch-Mehrins Verhalten zu kritisieren, widert mich dieses Verhalten an. Leistung soll sich lohnen? Eine eigenartige Interpretation eines gebetsmühlenartig wiederholten Mantra einer Partei und deren schillernder Figur, denen dieser Wahlspruch und das charakterlose, pathologische Schweigen irgendwann schmerzhaft auf die Füße fallen muss.
Was mich rasend macht: Koch-Mehrin schwieg monatelang, dann schob sie die Schuld auf die Universität Heidelberg. lobte ihre “unstrittigen” wissenschaftlichen Erkenntnisse und lässt nun die Rechtmäßigkeit des Entzugs prüfen, was ihr rechtlich natürlich uneingeschränkt zusteht. Ihr Sprecher argumentiert in Bezug auf ihren neuen Posten, dass sie bereits stellvertretendes Mitglied war (auch davon hätte sie zurücktreten müssen) und im Ausschuss ja nicht für Forschung zuständig sei. Diese Argumentationsweise ist nicht neu, was sie aber auch nicht akzeptabler macht: Mit einer ähnlichen Logik hat auch Angela Merkel im Fall Guttenberg den Zorn vieler, vieler Doktoranden, Wissenschaftler und Unterstützer auf sich gezogen. Und auch bei Koch-Mehrin gilt: Niemand braucht für politische Arbeit einen Doktortitel. Aber wer sich mit ihm schmückt, muss sich an die Spielregeln halten und selbstkritisch und verantwortungsvoll die Konsequenzen tragen, wenn der Lack ab ist.
Im Fall von Koch-Mehrin wurde der Verrat an guter wissenschaftlicher Paxis gar mit der Beförderung in einem Gremium belohnt, das sich sozusagen auch mit Fragen guter wissenschaftlicher Praxis befasst.
Die Empörung, die die Mannschaft um Koch-Mehrin nicht verstehen will, versteht sie aus einem bestimmten Grund nicht. Eine des akademischen Betrugs überführte Person wird einem Ausschuss angehören, der in der Wissenschaftspolitik in Europa “eine Schlüsselrolle” einnehmen will. Das ist geradezu ein Paradebeispiel spätrömisch-dekadenten Verhaltens.
Als Doktorandin sehe ich mich in letzter Zeit vermehrt und jetzt mitunter gehässigen Bemerkungen ausgesetzt, die zwar nicht immer wirklich ernst gemeint sind. Aber es ärgert mich, wenn von der Abwertung des Titels oder der “Scheinheiligkeit der Wissenschaft” die Rede ist. Nein, scheinheilig ist nicht die Empörung — im Gegenteil. Sie schiebt eine notwendige und durchaus selbstkritische Diskussion an. Scheinheilig wäre es, das Verhalten der Plagiatoren und die Strategie des Aussitzens schweigend als Normalität zu akzeptieren.
Wenn Koch-Mehrin keinen Gegenwind spürt und wir das Schweigen lernen, laufen wir Gefahr, uns an folgenlose Plagiate zu gewöhnen. Und weil ich nicht still hinnehmen will, was nicht sein darf, habe ich die Petition nicht nur als eine der Ersten unterzeichnet. Ich habe — wenn auch nur mit kleinen kosmetischen Einwürfen und Schönheitsreparaturen — dem Twitter-Schwarm beigewohnt, der gestern diesen Petitionstext von Anatol Stefanowitsch editierte, diskutierte und in mittlerweile sechs EU-Sprachen übersetzte:
Die Unterzeichner rufen das Europäische Parlament auf, Frau Silvana Koch-Mehrin aus dem Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie abzuberufen. Jüngst stellte die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg fest, dass Frau Koch-Mehrin einen großen Teil ihrer Doktorarbeit zum Thema „Historische Währungsunion zwischen Wirtschaft und Politik: Die Lateinische Münzunion“ mit ungenauer Nennung der Quelle oder ganz ohne Nennung der Quelle bei anderen Autoren abgeschrieben hat. Die Universität hat Frau Koch-Mehrin am 15. Juni 2011 den Doktorgrad entzogen.
Es ist inakzeptabel, dass jemand, der sich des akademischen Betrugs schuldig gemacht hat, in einem Ausschuss sitzt, der die europäische Forschungspolitik und ihre Finanzierung überwacht.
Desweiteren rufen wir die Partei von Frau Koch-Mehrin, die Freie Demokratische Partei Deutschlands, sowie die Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa im europäischen Parlament auf, alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um Frau Koch-Mehrin davon zu überzeugen, ihre Mitgliedschaft im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie und ihr Mandat im Europäischen Parlament niederzulegen.
Zuletzt fordern wir Frau Koch-Mehrin selbst auf, für den akademischen Betrug, den sie begangen hat, die Verantwortung zu übernehmen und von ihrem Amt im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie und von ihrem Mandat im Europäischen Parlament zurückzutreten, um weiteren Schaden am Ansehen dieser Institutionen, der wissenschaftlichen Gemeinschaft und dem Land, das sie im Europäischen Parlament repräsentiert, abzuwenden.
Die Petition setzt ein Zeichen, dass wir diese Praxis nicht tolerieren und die Bildung dieser Parallelwelt nicht klaglos hinnehmen. Wir sind empört, und wir geben der Empörung Tausende von Stimmen. Mein Blog hat eine kleine Reichweite. Aber wenn ich nur eine Person zur Unterstützung gewinnen kann, ist auch das ein Erfolg.
Ach ja, so als Fußnote und als kleines Schmankerl für alle Stipendiaten, Doktoranden oder für diejenigen, die immer noch glauben, die Empörung gehe sie nichts an und sei ein Problem für die akademische Welt: Frau Koch-Mehrin wurde in ihrer Zeit als Promovendin mit einem Stipendium der Friedrich-Naumann-Stiftung gefördert. Mit öffentlichen Geldern also.
Ich fühl mir ins Gesicht geschlagen.
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Aufruf unterstützen: Resignation of Silvana Koch-Mehrin from the European Parliament.
Exzellente Stellungnahmen finden sich hier, hier oder hier. Weitere Links hier in einer ständig aktualisierten Übersicht. Dort kann auch mitgearbeitet werden.
9/10 Punkte für diesen grandiosen Beitrag, der mir, gleichwohl ich vom Doktor bisher nur träumen kann, aus der Seele spricht.
Den Abzug gibts für das miserable Wortspiel in der Überschrift…
Auch ich kam nicht umhin, mich in meinem Blog schon zu entrüsten. Dein Fußnotenschmankerl lässt mich auch nicht ungrimmig zurück, habe ich doch nun rückwirkend durchaus Ärger mit meiner Studienfinanzierung. Wie dem auch sei, was wird “Dr” noch wert sein, wenn ich ihn hoffentlich mal haben werde?
Hier im akademischen Tübingen ist die Stimmung deutlich not amused. Koch-Mehrin und ihre Partei haben sich neue Gegner geschaffen und viele alte Gegner bekräftigt.
Hinzu kommt, dass die Plagiate gehäuft in den Rechtswissenschaften auftreten, was bald zu einer schleichenden Spaltung der Universitäten führen könnte. Schon jetzt kommentieren einzelne Profs zynisch: Naja, bei den Juristen ist so eine Dissertation halt auch nicht so viel wert wie bei uns.
@Patrick: Echt, ich find die Überschrift toll. Auch heute morgen noch. Zugegeben, ich wollte auch noch einen Wortspiel beitragen, nicht mehr in Doktorwürden war schon vergeben.
@DrNI: Die Stipendiengeschichte hat mich gestern richtig wütend gemacht, genau aus dem Grund, dass ich gerade mit meiner Finanzierung deutliche Probleme habe. Was den Wert des Doktorgrades angeht — ich würde nicht voreilig von einer allgemeinen Entwertung sprechen. Natürlich schadet es dem Ruf massiv, aber man wird in Zukunft auch mehr unterscheiden, wofür man den Titel letztlich “benutzt”. Ich habe den Eindruck, dass es dem Forschungstitel innerhalb der Wissenschaft, also den für die wissenschaftliche Qualifikation nicht von vornherein abwertet, da hier der Grad a) einen unumgänglichen Zwischenschritt darstellt und b) die Beurteilung der Leistung nicht nur am Grad, sondern auch an Publikationen, Forschungsleistung etc. bemessen wird. Das bedeutet nicht, dass sich die derzeitigen Promovierenden nicht unglaublich ans Bein gepisst fühlen.
Der Eindruck ist da, dass Plagiate derzeit häufiger in den Rechtswissenschaften aufgedeckt werden (obgleich ja SKM in Volkswissenschaft promoviert hat). Auch liegt der Verdacht nahe, dass es überwiegend “externe” Promotionen betrifft. Ich bin aber vorsichtig, von Korrelation auf Kausalität zu schließen. Bisher wird im Internet eben vermehrt in diesem Umfeld nach Plagiaten gesucht, da viele Politiker extern und häufig in Rechtswissenschaften promoviert haben, ergo werden Plagiate auch hier gefunden. Das soll aber nicht heißen, dass es in der Wissenschaft keinen Plagiarismus gibt (bei VroniPlag wird ja gerade eine Berliner Professorin untersucht, was einen älteren Veracht aufgreift). Ich denke, die ganze Geschichte sensibilisiert alle Beteiligten. Und das muss nicht unbedingt schlecht sein.
Zu diesem Thema in den Top 10 der Texte der Woche — aber ganz weit oben!
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