Verbrechen aus Leidenschaft geschehen jeden Tag, über Verbrechen aus Sprachwissenschaft liest man dagegen eher selten. Aber wie das Hamburger Abendblatt am Donnerstag berichtete (leider hinter einer Bezahlwand), hat das Amtsgericht St. Georg in Hamburg zwei Lehrer für ein solches Verbrechen verurteilt: Die beiden hatten auf einer Fortbildungsveranstaltung über ein verstecktes Mikrofon heimlich die Gespräche ihrer Kolleg/innen aufgenommen. Anstifter war der Sohn eines der Verurteilten:
Für eine Masterarbeit in Linguistik hatte er seinen Vater gebeten, an einem der vier Seminartage die Gespräche der Lehrgangsteilnehmer aufzeichnen zu dürfen. Heimlich, denn unter Beobachtung wären die Beobachteten womöglich irritiert, die Ergebnisse der studentischen Feldforschung verzerrt. Die unfreiwilligen Probanden sollten den kleinen Lauschangriff deshalb nachträglich genehmigen. [Hamburger Abendblatt, 9. Juni 2011]
Der Vater hatte wohl zunächst Bedenken, sein Sohn aber habe behauptet, es handle sich dabei um „gängige[] Methoden in der wissenschaftlichen Forschung“, sodass er am Ende dann doch einwilligte. Die Kolleg/innen hatten offenbar wenig Verständnis für dieses Vorgehen und so landete der Fall vor Gericht.
Natürlich ist es illegal, Gespräche ohne das Einverständnis der Sprecher/innen aufzuzeichnen, und natürlich ist es keine gängige Forschungspraxis. Meine Kolleg/innen und ich verbringen in unseren Seminaren viel Zeit damit, Studierende vor diesen und anderen illegalen Arten der Datensammlung zu warnen, und keine seriöse Fachzeitschrift würde heute Forschungsarbeiten auf der Grundlage von Gesprächsdaten veröffentlichen, bei denen nicht kristallklar dokumentiert ist, dass die Gesprächsteilnehmer vorab in die Aufzeichnung eingewilligt haben.
Aber ganz ehrlich: So selbstverständlich das aus rechtlicher Sicht sein mag, so ärgerlich ist es aus Sicht der Sprachwissenschaft, denn der Sohn des verurteilten Lehrers hat Recht: Menschen, die wissen, dass sie beobachtet werden, verhalten sich nicht natürlich, das gilt insbesondere für sprachliches Verhalten.
In den frühen neunziger Jahren hat ein Team der Universität Bergen ein Korpus der gesprochenen Alltagssprache Londoner Teenager gesammelt, bei dem diese offen Mikrofone und Aufzeichnungsgeräte mit sich herumtrugen, und dieses Korpus ist voll von Gesprächen wie den folgenden, bei denen das Forschungsprojekt oder das Aufnahmegerät Gesprächsthema sind und bei denen die Jugendlichen Äußerungen extra für das Tonbandgerät produzieren:
A: Were you here when I got that?
B:
No what is it?
A:
It’s for the erm
B:
When d’ya get this?
A:
language course. Language, survey.
B:
When did you get it?
A:
Got it on Thursday.
B:
Who gave it to you?
A:
Erm this lady from the, university of Bergen.
B:
So how d’ya how does it work?
A:
Erm you you speak into it and erm, records, gotta record conversations between people.
B (spricht direkt ins Mikrophon):
Oh right. Hello how are you? I thought Chelsea were really shit on, Saturday and Tottenham really unlucky even though Leeds hit the post twice and had a goal dis… disallowed for offside.
Oder:
C: Is there any music on that.
D:
Ooh look there’s Nick!
C:
Is there any music on that?
E:
A few things I taped off the radio.
C:
Alright then. Right. I wa=, I just want true things. He told me he dumped you is that true?
D:
(Lacht)
E:
No it is not true. I protest.
C:
Are you taping? And
D:
Will she catch up with Warren I’ll …
C:
Do, do me a, do me a copy of this tape.
E:
(Lacht)
C:
And I’ll ask you some private questions about Nick.
Es geht noch schlimmer, nämlich, wenn die untersuchten Sprecher/innen wissen oder ahnen, worum es bei den Aufnahmen gehen soll. Vor vielen Jahren war ich Mitglied einer studentischen Diskussionsgruppe, die sich einmal in der Woche traf, um gemeinsam einen Text zu diskutieren. Zu einer dieser Sitzungen tauchte eine Kommilitonin mit einem Aufnahmegerät auf und behauptete, sie wolle auch bei uns mitmachen. Sie fragte, ob sie das Gespräch als Gedächtnisstütze aufzeichnen dürfe. Zwei von uns wussten aber, dass sie dabei war, eine Magisterarbeit über Konzessivität* vorzubereiten und hatten natürlich sofort den Verdacht, dass die Aufnahme als Datenmaterial dienen sollte. Deshalb flochten wir den ganzen Abend möglichst merkwürdige Sätze ins Gespräch ein, die die Wörter obwohl, obschon, obzwar, wennzwar, wiewohl, gleichwohl usw. enthielten. Die Kommilitonin hat nicht gemerkt, was wir da treiben und hat auf der Grundlage dieser Daten tatsächlich ihre Arbeit geschrieben. Mir tut das bis heute ein wenig leid, aber die Verlockung war einfach zu groß. Und ganz ehrlich, die Kommilitonin hätte merken müssen, dass ein Gespräch unter 23-Jährigen niemals Wörter wie obzwar, obschon und wiewohl enthalten wird, schon gar nicht in jedem zweiten Satz.
Fast alle gesprochenen Sprachdaten, die der Sprachwissenschaft heute zur Verfügung stehen, sind aber von diesem Problem betroffen. Auch wenn die Sprecher/innen netterweise häufig nicht über das Tonbandgerät selbst reden und nicht absichtlich bestimmte Sprechweisen imitieren oder bestimmte Wörter in Überzahl produzieren, so sind sie sich doch bewusst, das ihre Worte aufgezeichnet werden und man kann sich nie sicher sein, wie stark sie ihren Sprachgebrauch kontrollieren.
Natürlich haben Sprachwissenschaftler/innen ein paar Methoden entwickelt, um trotzdem möglichst natürliche Sprachstichproben zu bekommen — zum Beispiel, indem sie von den Sprecher/innen eine allgemeine Erlaubnis für Aufzeichnungen einholen und dann tagelang das Tonbandgerät (oder den Digitalrekorder) mitlaufen lassen. Irgendwann, so die Hoffnung dabei, vergessen die Untersuchten das Gerät und fangen an, normal zu reden.
Aber nichts schlägt Daten, die ohne Wissen der Sprecher/innen aufgezeichnet wurden. Der Trick ist aber, darauf zu achten, dass man nicht selbst für die illegale Aufzeichnung verurteilt werden. Eine schöne Quelle für natürliche Sprachdaten sind zum Beispiel die Tonaufnahmen, die Richard Nixon im Zuge der berühmten Watergate-Affäre anfertigen ließ (einige Online-Archive finden sich am Ende des betreffenden Wikipedia-Artikels). Man weiß heute, wer von den dort aufgezeichneten wusste, dass versteckte Tonbandgeräte liefen, und wer nicht, und da die Aufzeichnungen aus einem zeithistorischen Interesse heraus heute größtenteils öffentlich sind, können sie für sprachwissenschaftliche Untersuchungen herangezogen werden.
Leider nur dann, wenn man den Sprachgebrauch korrupter alter weißer Männer in den frühen siebziger Jahren untersuchen will. Aber immerhin.
(Danke an @cksch für den Hinweis auf den Abendblatt-Artikel).
* Thema und Beispiele im Interesse der Anonymität geändert.
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Bezahlwand
Auch ein schönes neues deutsches Wort. Sie lässt sich übrigens umgehen, indem man das “www” durch “m” ersetzt:
http://m.abendblatt.de/…u‑Forschungszwecken.html
(Oder sagt man “untergraben” bei Bezahlwänden? Oder “überklettern”?)
“mobil” macht’s möglich
Der Abendblatt-Artikel ohne Bezahlwand:
http://www.mobil.abendblatt.de/…ungszwecken.html
Entschuldigung, ich hab den ersten Kommentar nicht gesehen.
Bezahlwand überklettern geht also mit:
m
mobil
mobile
😉
Bezahlwand
Da alle in den Kommentaren genannten Verknüpfungen Standard-URLs sind, die ohne besondere technische Maßnahmen von jedem Browser aus funktionieren, gehe ich davon aus, dass hier kein „Umgehen“ der Bezahlwand vorliegt, sondern dass es sich um ein kostenloses Alternativangebot des Hamburger Abendblattes handelt. Wenn man es beim Hamburger Abendblatt anders sieht, bitte ich um kurze Mitteilung, dann entferne ich diese Kommentare, obwohl (oder weil) sie ja ohnehin nur einen allseits bekannten Weg nennen, auf dem man die Onlineinhalte des Hamburger Abendblattes kostenlos erreicht.
Noch so ein Grund…
…warum ich als Datengrundlage die sprachliche Intuition von Linguisten vorziehe…
Illegal? Warum eigentlich?
Ich finde das gar nicht so natürlich, sondern vielmehr engstirnig vonseiten der Probanden:
1. (In diesem Fall: Datenschutz-)Ideologie geht vor Pragmatismus, vgl. die Street View-Hysterie. Was spricht denn dagegen, solche Aufzeichnungen behufs Wahrung der Authentizität nachträglich zu genehmigen oder auch nicht — abgesehen davon, dass sie doch wohl anonymisiert verwendet werden?
2. Man muss wg. solcher Lappalien auch nicht gleich zum Kadi rennen, selbst wenn es eine gesetzliche Grundlage dazu gibt. Unter normalen Menschen geht man zunächst zum ‘Delinquenten’ und teilt ihm mit, dass man mit dessen Vorgehen nicht einverstanden ist.
Insofern erinnert mich der Fall an die berüchtigte Strafanzeige gegen die NRW-Autobahnpolizei wg. ‘Check your distance’.
@Patrick
Der Kreis schließt…?
SCNR.
@suz
Touché…
aber, wie gesagt, es geht nicht darum, was geht und was nicht geht, sondern darum, was nicht gehen können muss. Oder so…
@Michael
Auch wenn ich keinerlei Verbindung zu “Check your distance” erkennen kann, danke ich für den Hinweis — diese Dummbatz-Aktion des VDS kannte ich noch nicht (man kann ja nicht all deren Torheiten kennen…)
Aber das gilt ja nicht nur für die Sprachwissenschaft. Mehr oder weniger beeinträchtigt das Mitwissen der Probanden a priori jede Studie, ob Kinsey Reports über Sexualgepflogenheiten oder Verhaltensforschung oder praktisch eh alles, wo »laut einer aktuellen Umfrage« drübersteht.
(Dass das im Grundgesetz festgeschriebene Persönlichkeitsrecht am gesprochenen Wort »aus Sicht der Sprachwissenschaft ärgerlich« ist, scheint mir, mit Verlaub, ein bissel befremdlich formuliert 😉
@Peer
Die Verbindung zur Check your distance-Posse besteht darin, dass unsere Freunde und Helfer vermutl. ebenfalls ohne den Versuch einer nicht-juristischen Klärung angezeigt wurden; zumindest wurde darüber kein Sterbenswörtschen verlautbart.
Kennen muss man die Aktion in der Tat nicht. Sie ist auch offenbar im Sande verlaufen; sonst hätte es wohl eine ‘Siegesmeldung’ gegeben.
Andere Möglichkeit, die Abendblatt-Paywall zu umgehen: Den Titel des Artikels bei Google eingeben, auf den Suchtreffer zum Artikel klicken,et voilà.
Big Brother
Den norwegischen Sprachwissenschaftlern steht die erste Staffel des norwegischen Big Brother als Korpus zur Verfügung — mit dem Hintergedanken, dass sich die Insassen im Laufe der Zeit an die Aufnahmesituation gewöhnt haben.
http://www.tekstlab.uio.no/…brother/english.html
@Michael
Ah so,
Nun ja, ich denke dem VDS ging es ja gar nicht um die Sache, sondern um die Pressemeldung. In dieser “Wörtergateaffaire” bin ich mir da nicht so sicher, da gehts wohl eher tatsächlich um die Street-View-Hysterie-Geschichte… (War das eigentlich in Ostberlin? Da wurde ich schon fast verprügelt, weil ich in der Tram auf die Zeitungsüberschrift meines Gegenübers einen kurzen Blick geworfen habe)
@Peer
Korrekt. Aber was ich meinte: Ob Publicity oder Hysterie — ungeachtet der Motivation sollte man doch versuchen, Meinungsverschiedenheiten zunächst zwischenmenschlich konstruktiv zu klären anstatt zur Staatsanwaltschaft zu rennen. Der VDS hätte ja einen (aus seiner Sicht) ‘Krisengipfel’ mit der Polizei anberaumen und den in den Medien breittreten können.
Diese wilhelminisch-obrigkeitsstaatliche Mentalität ist offenbar unter Sprachnörglern besonders verbreitet. Das wird sogar der Duden zur sakrosankten Korrektheitsinstanz — und wehe, jemand macht etwas “falsch”. Zum Glück steht der “Deppenapostroph” nicht im StGB; sonst bräuchten wir vermutl. 10.000 zusätzliche Staatsanwälte. Siehe auch Der Kreuzzug gegen den ’
Tss, tss … ohne für die gelesenen Buchstaben anteilig zu bezahlen?!? Enteignung! Wenn das jeder machen würde … Ja wo kämen wir denn da hin? Und überhaupt! 😉
Wow. wennzwar habe ich gar nicht gekannt.
Und?
“Die Kommilitonin hat nicht gemerkt, was wir da treiben und hat auf der Grundlage dieser Daten tatsächlich ihre Arbeit geschrieben. Mir tut das bis heute ein wenig leid, aber die Verlockung war einfach zu groß.”
Naja. Sie hat ja vermutlich bestanden, und vermutlich wurde das Ergebnis auch noch veröffentlicht … Insofern wäre dann nicht die Kommilitonin die, die einem leidtun muss.