Die Wörtergate-Affäre

Von Anatol Stefanowitsch

Ver­brechen aus Lei­den­schaft geschehen jeden Tag, über Ver­brechen aus Sprach­wis­senschaft liest man dage­gen eher sel­ten. Aber wie das Ham­burg­er Abend­blatt am Don­ner­stag berichtete (lei­der hin­ter ein­er Bezahlwand), hat das Amts­gericht St. Georg in Ham­burg zwei Lehrer für ein solch­es Ver­brechen verurteilt: Die bei­den hat­ten auf ein­er Fort­bil­dungsver­anstal­tung über ein ver­steck­tes Mikro­fon heim­lich die Gespräche ihrer Kolleg/innen aufgenom­men. Ans­tifter war der Sohn eines der Verurteilten:

Für eine Mas­ter­ar­beit in Lin­guis­tik hat­te er seinen Vater gebeten, an einem der vier Sem­i­nartage die Gespräche der Lehrgang­steil­nehmer aufze­ich­nen zu dür­fen. Heim­lich, denn unter Beobach­tung wären die Beobachteten wom­öglich irri­tiert, die Ergeb­nisse der stu­den­tis­chen Feld­forschung verz­er­rt. Die unfrei­willi­gen Proban­den soll­ten den kleinen Lauschangriff deshalb nachträglich genehmi­gen. [Ham­burg­er Abend­blatt, 9. Juni 2011]

Der Vater hat­te wohl zunächst Bedenken, sein Sohn aber habe behauptet, es han­dle sich dabei um „gängige[] Meth­o­d­en in der wis­senschaftlichen Forschung“, sodass er am Ende dann doch ein­willigte. Die Kolleg/innen hat­ten offen­bar wenig Ver­ständ­nis für dieses Vorge­hen und so lan­dete der Fall vor Gericht. 

Natür­lich ist es ille­gal, Gespräche ohne das Ein­ver­ständ­nis der Sprecher/innen aufzuze­ich­nen, und natür­lich ist es keine gängige Forschung­sprax­is. Meine Kolleg/innen und ich ver­brin­gen in unseren Sem­i­naren viel Zeit damit, Studierende vor diesen und anderen ille­galen Arten der Daten­samm­lung zu war­nen, und keine ser­iöse Fachzeitschrift würde heute Forschungsar­beit­en auf der Grund­lage von Gesprächs­dat­en veröf­fentlichen, bei denen nicht kristal­lk­lar doku­men­tiert ist, dass die Gespräch­steil­nehmer vor­ab in die Aufze­ich­nung eingewil­ligt haben.

Aber ganz ehrlich: So selb­stver­ständlich das aus rechtlich­er Sicht sein mag, so ärg­er­lich ist es aus Sicht der Sprach­wis­senschaft, denn der Sohn des verurteil­ten Lehrers hat Recht: Men­schen, die wis­sen, dass sie beobachtet wer­den, ver­hal­ten sich nicht natür­lich, das gilt ins­beson­dere für sprach­lich­es Verhalten.

In den frühen neun­ziger Jahren hat ein Team der Uni­ver­sität Bergen ein Kor­pus der gesproch­enen All­t­agssprache Lon­don­er Teenag­er gesam­melt, bei dem diese offen Mikro­fone und Aufze­ich­nungs­geräte mit sich herumtru­gen, und dieses Kor­pus ist voll von Gesprächen wie den fol­gen­den, bei denen das Forschung­spro­jekt oder das Auf­nah­megerät Gespräch­s­the­ma sind und bei denen die Jugendlichen Äußerun­gen extra für das Ton­bandgerät produzieren:

A: Were you here when I got that?
B:
No what is it?
A:
It’s for the erm
B:
When d’ya get this?
A:
lan­guage course. Lan­guage, survey.
B:
When did you get it?
A:
Got it on Thursday.
B:
Who gave it to you?
A:
Erm this lady from the, uni­ver­si­ty of Bergen.
B:
So how d’ya how does it work?
A:
Erm you you speak into it and erm, records, got­ta record con­ver­sa­tions between people.
B (spricht direkt ins Mikrophon):
Oh right. Hel­lo how are you? I thought Chelsea were real­ly shit on, Sat­ur­day and Tot­ten­ham real­ly unlucky even though Leeds hit the post twice and had a goal dis… dis­al­lowed for offside.

Oder:

C: Is there any music on that.
D:
Ooh look there’s Nick!
C:
Is there any music on that?
E:
A few things I taped off the radio.
C:
Alright then. Right. I wa=, I just want true things. He told me he dumped you is that true?
D:
(Lacht)
E:
No it is not true. I protest.
C:
Are you tap­ing? And
D:
Will she catch up with War­ren I’ll …
C:
Do, do me a, do me a copy of this tape.
E:
(Lacht)
C:
And I’ll ask you some pri­vate ques­tions about Nick.

Es geht noch schlim­mer, näm­lich, wenn die unter­sucht­en Sprecher/innen wis­sen oder ahnen, worum es bei den Auf­nah­men gehen soll. Vor vie­len Jahren war ich Mit­glied ein­er stu­den­tis­chen Diskus­sion­s­gruppe, die sich ein­mal in der Woche traf, um gemein­sam einen Text zu disku­tieren. Zu ein­er dieser Sitzun­gen tauchte eine Kom­mili­tonin mit einem Auf­nah­megerät auf und behauptete, sie wolle auch bei uns mit­machen. Sie fragte, ob sie das Gespräch als Gedächt­nis­stütze aufze­ich­nen dürfe. Zwei von uns wussten aber, dass sie dabei war, eine Mag­is­ter­ar­beit über Konzes­siv­ität* vorzu­bere­it­en und hat­ten natür­lich sofort den Ver­dacht, dass die Auf­nahme als Daten­ma­te­r­i­al dienen sollte. Deshalb flocht­en wir den ganzen Abend möglichst merk­würdi­ge Sätze ins Gespräch ein, die die Wörter obwohl, obschon, obzwar, wennzwar, wiewohl, gle­ich­wohl usw. enthiel­ten. Die Kom­mili­tonin hat nicht gemerkt, was wir da treiben und hat auf der Grund­lage dieser Dat­en tat­säch­lich ihre Arbeit geschrieben. Mir tut das bis heute ein wenig leid, aber die Ver­lock­ung war ein­fach zu groß. Und ganz ehrlich, die Kom­mili­tonin hätte merken müssen, dass ein Gespräch unter 23-Jähri­gen niemals Wörter wie obzwar, obschon und wiewohl enthal­ten wird, schon gar nicht in jedem zweit­en Satz.

Fast alle gesproch­enen Sprach­dat­en, die der Sprach­wis­senschaft heute zur Ver­fü­gung ste­hen, sind aber von diesem Prob­lem betrof­fen. Auch wenn die Sprecher/innen net­ter­weise häu­fig nicht über das Ton­bandgerät selb­st reden und nicht absichtlich bes­timmte Sprech­weisen imi­tieren oder bes­timmte Wörter in Überzahl pro­duzieren, so sind sie sich doch bewusst, das ihre Worte aufgeze­ich­net wer­den und man kann sich nie sich­er sein, wie stark sie ihren Sprachge­brauch kontrollieren.

Natür­lich haben Sprachwissenschaftler/innen ein paar Meth­o­d­en entwick­elt, um trotz­dem möglichst natür­liche Sprach­stich­proben zu bekom­men — zum Beispiel, indem sie von den Sprecher/innen  eine all­ge­meine Erlaub­nis für Aufze­ich­nun­gen ein­holen und dann tage­lang das Ton­bandgerät (oder den Dig­i­tal­reko­rder) mit­laufen lassen. Irgend­wann, so die Hoff­nung dabei, vergessen die Unter­sucht­en das Gerät und fan­gen an, nor­mal zu reden.

Aber nichts schlägt Dat­en, die ohne Wis­sen der Sprecher/innen aufgeze­ich­net wur­den. Der Trick ist aber, darauf zu acht­en, dass man nicht selb­st für die ille­gale Aufze­ich­nung verurteilt wer­den. Eine schöne Quelle für natür­liche Sprach­dat­en sind zum Beispiel die Tonauf­nah­men, die Richard Nixon im Zuge der berühmten Water­gate-Affäre anfer­ti­gen ließ (einige Online-Archive find­en sich am Ende des betr­e­f­fend­en Wikipedia-Artikels). Man weiß heute, wer von den dort aufgeze­ich­neten wusste, dass ver­steck­te Ton­bandgeräte liefen, und wer nicht, und da die Aufze­ich­nun­gen aus einem zei­this­torischen Inter­esse her­aus heute größ­ten­teils öffentlich sind, kön­nen sie für sprach­wis­senschaftliche Unter­suchun­gen herange­zo­gen werden.

Lei­der nur dann, wenn man den Sprachge­brauch kor­rupter alter weißer Män­ner in den frühen siebziger Jahren unter­suchen will. Aber immerhin.

(Danke an @cksch für den Hin­weis auf den Abendblatt-Artikel).

* The­ma und Beispiele im Inter­esse der Anonymität geändert.

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

17 Gedanken zu „Die Wörtergate-Affäre

  1. Marc

    Bezahlwand
    Auch ein schönes neues deutsches Wort. Sie lässt sich übri­gens umge­hen, indem man das “www” durch “m” ersetzt:
    http://m.abendblatt.de/…u‑Forschungszwecken.html
    (Oder sagt man “unter­graben” bei Bezahlwän­den? Oder “überklet­tern”?)

  2. bov

    Entschuldigung, ich hab den ersten Kom­men­tar nicht gesehen.
    Bezahlwand überklet­tern geht also mit:
    m
    mobil
    mobile
    😉

  3. Anatol Stefanowitsch

    Bezahlwand
    Da alle in den Kom­mentaren genan­nten Verknüp­fun­gen Stan­dard-URLs sind, die ohne beson­dere tech­nis­che Maß­nah­men von jedem Brows­er aus funk­tion­ieren, gehe ich davon aus, dass hier kein „Umge­hen“ der Bezahlwand vor­liegt, son­dern dass es sich um ein kosten­los­es Alter­na­ti­vange­bot des Ham­burg­er Abend­blattes han­delt. Wenn man es beim Ham­burg­er Abend­blatt anders sieht, bitte ich um kurze Mit­teilung, dann ent­ferne ich diese Kom­mentare, obwohl (oder weil) sie ja ohne­hin nur einen all­seits bekan­nten Weg nen­nen, auf dem man die Onlinein­halte des Ham­burg­er Abend­blattes kosten­los erreicht.

  4. Patrick Schulz

    Noch so ein Grund…
    …warum ich als Daten­grund­lage die sprach­liche Intu­ition von Lin­guis­ten vorziehe…

  5. Michael Allers

    Ille­gal? Warum eigentlich?

    Natür­lich ist es ille­gal, Gespräche ohne das Ein­ver­ständ­nis der Sprecher/innen aufzuze­ich­nen, und natür­lich ist es keine gängige Forschungspraxis.

    Ich finde das gar nicht so natür­lich, son­dern vielmehr eng­stirnig von­seit­en der Probanden:
    1. (In diesem Fall: Datenschutz-)Ideologie geht vor Prag­ma­tismus, vgl. die Street View-Hys­terie. Was spricht denn dage­gen, solche Aufze­ich­nun­gen behufs Wahrung der Authen­tiz­ität nachträglich zu genehmi­gen oder auch nicht — abge­se­hen davon, dass sie doch wohl anonymisiert ver­wen­det werden?
    2. Man muss wg. solch­er Lap­palien auch nicht gle­ich zum Kadi ren­nen, selb­st wenn es eine geset­zliche Grund­lage dazu gibt. Unter nor­malen Men­schen geht man zunächst zum ‘Delin­quenten’ und teilt ihm mit, dass man mit dessen Vorge­hen nicht ein­ver­standen ist.
    Insofern erin­nert mich der Fall an die berüchtigte Strafanzeige gegen die NRW-Auto­bah­n­polizei wg. ‘Check your dis­tance’.

  6. Patrick Schulz

    @suz
    Touché…
    aber, wie gesagt, es geht nicht darum, was geht und was nicht geht, son­dern darum, was nicht gehen kön­nen muss. Oder so…

  7. Peer

    @Michael
    Auch wenn ich kein­er­lei Verbindung zu “Check your dis­tance” erken­nen kann, danke ich für den Hin­weis — diese Dumm­batz-Aktion des VDS kan­nte ich noch nicht (man kann ja nicht all deren Torheit­en kennen…)

  8. nömix

    Aber das gilt ja nicht nur für die Sprach­wis­senschaft. Mehr oder weniger beein­trächtigt das Mitwissen der Proban­den a pri­ori jede Studie, ob Kin­sey Reports über Sex­u­al­gepflo­gen­heit­en oder Ver­hal­tens­forschung oder prak­tisch eh alles, wo »laut ein­er aktuellen Umfrage« drübersteht.
    (Dass das im Grundge­setz fest­geschriebene Per­sön­lichkeit­srecht am gesproch­enen Wort »aus Sicht der Sprach­wis­senschaft ärg­er­lich« ist, scheint mir, mit Ver­laub, ein bis­sel befremdlich formuliert 😉

  9. Michael Allers

    @Peer
    Die Verbindung zur Check your dis­tance-Posse beste­ht darin, dass unsere Fre­unde und Helfer ver­mutl. eben­falls ohne den Ver­such ein­er nicht-juris­tis­chen Klärung angezeigt wur­den; zumin­d­est wurde darüber kein Ster­benswörtschen verlautbart.
    Ken­nen muss man die Aktion in der Tat nicht. Sie ist auch offen­bar im Sande ver­laufen; son­st hätte es wohl eine ‘Sieges­meldung’ gegeben.

  10. Bernd

    Andere Möglichkeit, die Abend­blatt-Pay­wall zu umge­hen: Den Titel des Artikels bei Google eingeben, auf den Suchtr­e­f­fer zum Artikel klicken,et voilà.

  11. Mia

    Big Broth­er
    Den nor­wegis­chen Sprach­wis­senschaftlern ste­ht die erste Staffel des nor­wegis­chen Big Broth­er als Kor­pus zur Ver­fü­gung — mit dem Hin­tergedanken, dass sich die Insassen im Laufe der Zeit an die Auf­nahme­si­t­u­a­tion gewöh­nt haben.
    http://www.tekstlab.uio.no/…brother/english.html

  12. Peer

    @Michael
    Ah so,
    Nun ja, ich denke dem VDS ging es ja gar nicht um die Sache, son­dern um die Pressemel­dung. In dieser “Wörter­gateaf­faire” bin ich mir da nicht so sich­er, da gehts wohl eher tat­säch­lich um die Street-View-Hys­terie-Geschichte… (War das eigentlich in Ost­ber­lin? Da wurde ich schon fast ver­prügelt, weil ich in der Tram auf die Zeitungsüber­schrift meines Gegenübers einen kurzen Blick gewor­fen habe)

  13. Michael Allers

    @Peer
    Kor­rekt. Aber was ich meinte: Ob Pub­lic­i­ty oder Hys­terie — ungeachtet der Moti­va­tion sollte man doch ver­suchen, Mei­n­ungsver­schieden­heit­en zunächst zwis­chen­men­schlich kon­struk­tiv zu klären anstatt zur Staat­san­waltschaft zu ren­nen. Der VDS hätte ja einen (aus sein­er Sicht) ‘Krisen­gipfel’ mit der Polizei anber­au­men und den in den Medi­en bre­it­treten können.
    Diese wil­helminisch-obrigkeitsstaatliche Men­tal­ität ist offen­bar unter Sprach­nör­glern beson­ders ver­bre­it­et. Das wird sog­ar der Duden zur sakrosank­ten Kor­rek­theitsin­stanz — und wehe, jemand macht etwas “falsch”. Zum Glück ste­ht der “Dep­pe­na­pos­troph” nicht im StGB; son­st bräucht­en wir ver­mutl. 10.000 zusät­zliche Staat­san­wälte. Siehe auch Der Kreuz­zug gegen den ’

    da wurde ich schon fast ver­prügelt, weil ich in der Tram auf die Zeitungsüber­schrift meines Gegenübers einen kurzen Blick gewor­fen habe

    Tss, tss … ohne für die gele­se­nen Buch­staben anteilig zu bezahlen?!? Enteig­nung! Wenn das jed­er machen würde … Ja wo kämen wir denn da hin? Und überhaupt! 😉

  14. Jens Müller

    Und?
    “Die Kom­mili­tonin hat nicht gemerkt, was wir da treiben und hat auf der Grund­lage dieser Dat­en tat­säch­lich ihre Arbeit geschrieben. Mir tut das bis heute ein wenig leid, aber die Ver­lock­ung war ein­fach zu groß.”
    Naja. Sie hat ja ver­mut­lich bestanden, und ver­mut­lich wurde das Ergeb­nis auch noch veröf­fentlicht … Insofern wäre dann nicht die Kom­mili­tonin die, die einem lei­d­tun muss.

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