Kommen wir heute zur dritten und letzten Folge unserer kleine Reihe zu den „10 am häufigsten falsch verwendeten Wörtern“ von Andreas Busch und BILD.de. Uns fehlen in der Diskussion noch drei Wörter, wollte, verstorben und Reifenwechsel, und fehlt noch die Ermahnung, Berufsbezeichnungen wie Arzt für Männer zu reservieren und für Frauen immer die weibliche Form Ärztin zu nehmen. Heute beschränke ich mich auf die drei Wörter, die Frage nach den Berufsbezeichnungen ist zu komplex um sie im Busch’schen Paradigma von „richtig“ und „falsch“ auch nur anzureißen. Ich komme aber in nächster Zeit umfassender darauf zurück.
In der ersten Folge ging es ja darum, dass Sprachnörgler wie Busch nicht in der Lage sind, Sprachwandel zu verstehen und zu akzeptieren, in der zweiten Folge ging es daneben auch noch um ihre Schwierigkeiten mit der Erkenntnis, dass Wörter normalerweise mehr als eine Bedeutung haben, von der keine die „richtige“ ist. Die heute diskutierten Fälle zeigen ein drittes Problem: Die sprachliche Intelligenz der Sprachgemeinschaft wird systematisch unterschätzt.
Beginnen wir mit dem kompliziertesten der drei Wörter. Zu wollte hat Busch folgendes zu sagen:
„Guten Tag, Frau Meyer. Ich wollte sie mal eben fragen, ob Sie mit in die Kantine kommen.“ Wenn Frau Meyer pfiffig ist, sprachlich gewandt, und wenn sie zusätzlich eine schnippische Art besitzt, dann sagt sie: „Und WANN wollten Sie mich das fragen? Gestern? Oder vorgestern?“ [zehn.de]
Stattdessen, so Busch, solle man einfach das sagen, was (seiner Meinung nach) gemeint ist: „Kommen Sie mit in die Kantine, Frau Meyer?“
Busch entgehen hier gleich zwei Aspekte der Äußerung, die er kritisiert: Erstens, dass es sich bei der zitierten Verwendung von wollen um ein relativ beliebig herausgegriffenes Beispiel für ein sehr weit verbreitetes Phänomen handelt; zweitens, dass es für die Existenz dieses Phänomens gute Gründe gibt.
Das Phänomen ist das der sogenannten „indirekten Sprechakte“ bei denen die wörtliche Bedeutung nur einen kleinen Teil dessen beinhaltet, das der Sprecher kommunizieren möchte. Andere Beispiele sind, um nur ein paar zu nennen, (a) Könntest du mir das Salz reichen; (b) Wissen Sie zufällig, wie spät es ist, © Ich hätte gerne ein kleines Pils; (d) Darf ich Sie um diesen Tanz bitten. In (a) frage ich nur ja nur oberflächlich betrachtet nach einer Fähigkeit (Könntest du…) — tatsächlich will ich das Salz haben. Nach Busch wäre deshalb ein knappes Gib mir das Salz! zu bevorzugen. In (b) interessiert mich nicht, ob die Angesprochene weiß, wie spät es ist, sondern ich will, dass sie es mir sagt. In © drücke ich nicht den hypothetischen Wunsch nach einem Pils aus, ich will, dass der Kellner mir eins bringt. Und mit (d) frage will ich nicht wissen, ob es mir erlaubt ist, um einen Tanz bitten, sondern ich bitte um einen Tanz.
Was alle diese Beispiele gemeisam haben, ist, dass sie sich beziehen sich auf eine notwendige Vorbedingung des eigentlich gemeinten beziehen: Bevor mir jemand sagen kann, wie ich zum Bahnhof komme oder wie spät es ist, muss er/sie dazu in der Lage sein bzw. es selber wissen. Bevor ich ein Pils bestelle, muss bei mir der Wunsch danach bestehen. Und bevor ich jemanden um einen Tanz bitte, sollte ich sicher sein, dass diese Frage erlaubt und erwünscht ist.
Dieses Abfragen von Vorbedingungen ist typisch für einen großen Teil der indirekten Sprechakte, die wir täglich produzieren. Man könnte nun denken, wir wollten uns mit diesen Sprechakten möglicherweise nur versichern, dass die Vorbedingung gilt. Dann wären es keine indirekten, sondern direkte Sprechakte, denn das Gemeinte wäre das gesagte. Aber das ist nicht der Fall, sonst würden wir ja eine Antwort abwarten und dann genauer werden. Wir würden also Gespräche wie die folgenden führen:
A:Könntest du mir das Salz reichen?
B:Ja.
A:Hervorragend. Reiche mir das Salz!
Oder:
A:Darf ich um diesen Tanz bitten?
B:Nein.
A:Sehr interessant! Woraus ergibt sich dieses Verbot?
Es gibt ja tatsächlich Mitmenschen, die so reden, aber die finden wir nicht „pfiffig“ und „sprachlich gewandt“, sondern wir finden sie nervig und entfrienden sie bei nächster Gelegenheit auf Facebook.
Normalerweise gehen wir aber ganz selbstverständlich davon aus, dass die Vorbedingung erfüllt ist, dass der/die Angesprochene weiß, dass sie erfüllt ist, und das er/sie weiß, dass wir wissen, dass sie erfüllt ist. Genau deshalb funktionieren diese Sprechakte nämlich: Die Angesprochenen wissen sofort, dass das Gesagte nicht das Gemeinte sein kann, da die Antwort auf die Frage ja beiden bekannt ist. Sie suchen deshalb (unbewusst und in Sekundenbruchteilen) nach der nächstliegenden sinnvollen Interpretation und wenn sie sie gefunden haben, reichen sie uns das Salz, lehnen den Tanz ab usw.
So auch in Buschs Beispiel: Wenn Frau Mayer psychologisch unauffällig ist, versteht sie, dass es nicht um den Bericht über das Vorhaben gehen kann, sie zu fragen, ob sie mit in die Kantine kommt, sondern dass die Frage selbst gemeint sein muss (ich meine das mit dem „psychologisch unauffällig“ wörtlich: es gibt tatsächlich Stüörungen, die die Fähigkeit zur Interpretation indirekter Sprechakte beeinträchtigen können, z.B. Verletzungen in der rechten Hirnhälfte oder bestimmte Formen von Autismus).
Jetzt kann man natürlich einwenden, dass indirekte Sprechakte zwar funktionieren, deshalb aber noch lange nicht gut sein müssen. Busch könnte also trotzdem recht haben, dass direkte Sprechakte immer besser sind als indirekte.
Aber das ist nicht der Fall und das wird deutlich, wenn wir überlegen, warum Sprecher/innen indirekte Sprechakte benutzen. Intuitiv ist das nicht schwer zu verstehen: Es ist irgendwie höflicher. Aber warum?
Weil, so lehrt uns die Höflichkeitstheorie, wir in jeder zwischenmenschlichen Situation unser Gesicht wahren wollen, und zwar auf zweifache Weise: unser erstes, „positives“ Gesicht besteht grob gesagt darin, dass wir gemocht oder wenigstens respektiert werden wollen; unser zweites, „negatives“ Gesicht besteht darin, dass wir in unserer Handlungsfreiheit nicht durch andere eingeschränkt werden wollen (der Begriff „negatives Gesicht“ ist verwirrend, aber so heißt das nun einmal).
Wenn wir von Anderen aber direkt etwas verlangen — das Salz, eine Wegbeschreibung, einen Tanz oder eine Antwort auf die Einladung zum Mittagessen in der Kantine, so verletzten wir damit potenziell deren negatives Gesicht, denn wir schränken sie in ihrer Handlungsfreiheit ein: Es entsteht eine gewisse Verpflichtung, das zu tun, was wir verlangen, oder sich dafür zu rechtfertigen, dass man es nicht tut. Gleichzeitig riskieren wir unser eigenes positives Gesicht, denn eine negative Antwort würde zeigen, dass der Andere uns nicht (ausreichend) mag oder respektiert.
Mit indirekten Sprechakten vermeiden wir beide Risiken: Wir verlangen ja vom Anderen gar nichts, wir klären nur Vorbedingungen, und deshalb können wir auch nicht zurückgewiesen werden. Die folgenden zwei Dialoge zeigen das:
1. Buschs Wunschwelt direkter Sprechakte
Herr Busch: Kommen Sie mit in die Kantine?
Frau Meyer: Nein.
(Peinliches Schweigen. Herr Busch fühlt sich abgewiesen und wünscht, er hätte nie gefragt, Frau Meyer fühlt sich schlecht, weil Herr Busch sich abgewiesen fühlt, gleichzeitig ärgert sie sich über ihn, weil er sie in die Situation gebracht hat, ihn abweisen zu müssen. Die Zusammenarbeit ist von da an angespannt. Bald darauf geht die Firma pleite, weil sich alle Mitarbeiter/innen gegenseitig meiden).
2. Die real existierende Welt indirekter Sprechakte
Herr Bsch: Ich wollte sie fragen, ob sie mit in die Kantine kommen.
Frau Meyer: Ich habe leider ein Treffen mit den anderen Abteilungsleiterinnen.
Herr Busch: Ach, Sie Arme. Na, ich wollte wenigstens gefragt haben
(Entspanntes Lächeln. Herr Busch fühlt sich gut, Frau Meyer fühlt sich gut, das Betriebsklima bleibt gut. Bald darauf geht die Firma pleite — die Finanzkrise halt, da kann man nichts machen — aber alle bleiben Freunde.)
Die Fähigkeit, angemessene Interpretationen zu finden, ist auch für die von Busch kritisierte Verwendung von verstorben relevant. Laut Busch liegt das Problem dort so:
„Frau Müller hat das Lebensmittelgeschäft mit ihrem verstorbenen Mann geführt“. Nein, das hat sie nicht. Das wäre ausgesprochen makaber. Natürlich hat sie das Geschäft mit ihrem LEBENDEN Mann geführt, im anderen Fall wäre er ihr keine große Hilfe gewesen. [zehn.de]
Stattdessen, so Busch, sollen wir sagen „Herr und Frau Müller haben das Geschäft gemeinsam geführt. Vor drei Jahren starb Herr Schmidt, Frau Schmidt gab das Geschäft daraufhin auf.“ Wenn wir alle so reden würden, würden wir auf jeden Fall alle sehr viel mehr reden.
Und man muss sich schon böswillig dumm stellen, um den Satz auf Busch’sche Art falsch zu verstehen. Das Perfekt hat … geführt signalisiert klar und deutlich, dass die gemeinsame Führung des Geschäfts in der Vergangenheit liegt, und das Partizip Perfekt verstorben bezeichnet ebenfalls ein Ereignis in der Vergangenheit. Um den Satz korrekt zu interpretieren, muss der Hörer die beiden Ereignisse nur in die richtige Reihenfolge bringen, und da, wie ja sogar Sprach-Trainer Busch klar zu sein scheint, der Tod und leitende Funktionen einander ausschließen (außer in Nordkorea), gibt es nur eine korrekte Interpretation.
Und schließlich geht es auch beim Reifenwechsel um die Fähigkeit zum Schlussfolgern. Buschs Problem ist hier folgendes:
„Gestern Abend nach der Party, da hatte ich ’nen Platten, da musste ich noch ’nen Reifen wechseln, Gott sei Dank hatte ich Werkzeug und Reservereifen dabei.“ Quatsch! Natürlich lag im Kofferraum ein ReserveRAD und kein ReserveREIFEN. Einen Reifen zieht niemand mit bloßer Hand auf die Felge. Ein Rad ab- und wieder anzuschrauben, das schafft jedoch (fast) jeder. [zehn.de]
Zunächst muss man feststellen, dass bei einem Radwechsel der Reifen mitgewechselt wird, ein Radwechsel ist also immer auch ein Reifenwechsel (zumindest, wenn wir unter Rad hier, wie Busch, die Kombination aus Felge und Reifen verstehen). Umgekehrt gilt das nicht, Busch weist zunächst ganz richtig daraufhin, dass man auch neue Reifen auf die alte Felge ziehen könnte. Das Wort Reifenwechsel kann also Situationen, in denen der Reifen gemeinsam mit der Felge ausgewechselt wird, ebenso bezeichnen wie Situationen, in denen die Felge bleibt und nur der Reifen ausgewechselt wird.
Diese Doppeldeutigkeit liegt aber nicht daran, dass das Wort Reifenwechsel selbst zwei Bedeutungen hat, sondern daran, dass man in der realen Welt Reifen auf zwei Arten wechseln kann. Wenn uns also jemand etwas von einem Platten nach einer Party erzählt, müssen wir aus dem Zusammenhang schließen, wie der darauffolgende Reifenwechsel wohl vonstatten ging.
Ich hoffe, dass ich mit dieser kleinen Serie für etwas Klarheit sorgen konnte, viellecht sogar bei denen auf Sympathie gestoßen bin, die sich durch den Kult um sprachliche Korrektheit irritiert fühlen. „Ich beherrsche die deutsche Sprache, aber sie gehorcht nicht immer“, soll der verstorbene Schriftsteller Alfred Polgar gesagt haben. Behandeln wir Sprache doch wie einen Busenfreund, nicht wie ein kaputtes Auto, das nur einen sprachkritischen Reifenwechsel braucht, um auf die von uns gewünschte Spur zu kommen.
Das wollte ich nur gesagt haben.
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[Nachtrag: Wie an der URL noch zu erkennen, hieß dieser Beitrag zunächst „Die unveränderliche Seichtigkeit…“ statt „Die unverbesserliche Seichtigkeit…”. Ich hatte ursprünglich beide Titel in Betracht gezogen und mich dann für den ersten entschieden, den ich jetzt im Interesse der Vereinheitlichung auch diesem Beitrag vepasst habe.]
BROWN, Penelope, Stephen C. LEVINSON (1987) Politeness: Some universals in language usage. Cambridge, Cambridge University Press. [Google Books (Voransicht)]
LEVINSON, Stephen C. (1983) Pragmatics. Cambridge, Cambridge University Press. [Google Books (Voransicht)]
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
…
Ohne Irritationen wecken zu wollen, wollte ich drei Dinge nachfragen, die in meinem Busen wogen:
Gibt es eigentlich eine Entsprechung zu Fowlers “Modern English Usage”? Und könnten Sie, sympathischer Herr Stefanowitsch, nach reichen, wo man diese Höflichkeitstheorie findet (bei so einem seltenen Fach ist es schwer, die Standartwerke zu ergooglen). Zuletzt noch eine Meinungsfrage — verschiebt sich die empfundene korrekte Rechtschreibung von Noelogismen in internettaffinen Bereichen von den Phonemen stärker zum Schriftbild, oder vermuten sie, dass im deutschen das “i” in “entfrienden” verloren gehen wird (vorausgesetzt, das facebook in 10 Jahren noch mehr ist als myspace heute)?
Mit freundlichen Güßen
Leif Czerny
PS: Herr Busch könnte sich ja auch darauf beschränken zu verlangen, dass vor “verstorben” eine klärende Zeitbestimmung wie “mittlerweile” eingefügt wird, anstatt alles in Lesefibelsätze aufzulösen.
PPS: Noch eine Meinungsfrage: Sind “damalige Tschechoslowakei” bzw. “ehemalige DDR” sinnvolle Bezeichnungen für die geographischen Regionen heute, oder nur in den Phasen der Geschichte, in denen dort tatsächlich die beiden Gemeinwesen bestanden?
@Leif czerny:
Google findet die Höflichkeitstheorie eigentlich ohne irgendwelche Probleme: http://fak1-alt.kgw.tu-berlin.de/…atik%20k7.html (unten wird auch auf das weiterführende Buch von Brown/Levinson verwiesen).
Autismus?
Stüörungen
oh je… 😉
@Leif Czerny
Eine moderne Entsprechung oder eine deutsche?
Im ersteren Fall verweise ich gerne auf Michael Swans Practical English Usage, das einem hilft, korrekt im Sinne von ‘passend’ zu schreiben, dabei aber keine geschmäcklerischen Pseudoregeln vorgibt.
Für die deutsche Sprache wäre der Band 9 aus der Duden-Reihe, Richtiges und gutes Deutsch, zu empfehlen. Der Titel ist irreführend, aber der Inhalt praktisch und ordentlich.
Zu ihrem PPS fällt mir vor allem ein, dass die Staatsbezeichnung unabhängig von den verwendeten Adjektiven nicht so sehr die geografische als die politische Region bezeichnen — die oft sehr weit auseinander liegen. Denken Sie nur an ‘Deutschland’, dass als nationales Staatsgebilde vor 1871 nicht bestand und sich auch danach sehr verschieden zeigte.
Die ‘ehemalige DDR’ ist also ein politisch-historischer Begriff, der sich zeitlich wie räumlich eingrenzen lässt.
Mir “Wollte ich nur gesagt haben” sagen Sie mal was!
Mir fällt in letzter Zeit häufiger auf, dass statt “ich wollte fragen/mich melden/nachhaken” gesagt wird: “ich wollte gefragt haben/mich gemeldet haben/nachgehakt haben”.
Die Funktion (indirekter Sprechakt) scheint mir genau dieselbe zu sein, und ich komme nicht dahinter, wo der Mehrwert gegenüber dem einfacheren “wollte + Infinitiv” liegt. Dass es den gibt, will ich (unabhängig von meinem persönlichen Geschmacksurteil) mal gutwillig unterstellen.
Vielleicht kann jemand mehr dazu sagen?
@amfenster
Die kompliziertere Form erhöht die Distanz und damit die Möglichkeit aller Gesicht zu wahren. Es enthält schon die Entschuldigung, sich als sozial niedrig stehender an einen höher stehenden zu wenden — quasi die sprachliche Umsetzung des Neofeudalismus.
@Dierk
Hm, aber wenn die Kommunikation unter Gleichrangigen stattfindet (Kollegen, gleiche Altersgruppe, gleiche Hierarchieebene…)?
Es fehlt
Im letzten Satz nach:
“A: Darf ich um diesen Tanz bitten?
B: Nein.
A: Sehr interessant! Woraus ergibt sich dieses Verbot?”
fehlt ein Menschen/Leute/Individuen etc:
“Es gibt ja tatsächlich [hier fehlendes Wort einsetzen], die so reden, aber die finden wir nicht „pfiffig“ ”
Also, das mit dem ‘verstorbenen’ finde ich auch immer wieder seltsam. Leicht zu lösen wäre das Dilemma, wenn man sagen würde: ‘mit ihrem inzwischen (mittlerweile) verstorbenen.…’
ehemalige DDR
“Er wurde 1970 in der ehemaligen DDR geboren” klingt für mein Ohr irgendwie falsch, denn 1970 war die DDR noch nicht ehemalig. “damalige DDR” würde besser klingen, oder? Sicher, das ist die gleiche Griffelspitzerei wie der verstorbene Ehemann. Aber der Eifer, mit dem die DDR bei uns fast immer mit dem Prädikat “ehemalig” verwendet wird, könnte das nicht ein bisschen damit zusammenhängen, dass man der DDR quasi abspricht, je existiert zu haben? Sie war dann schon immer (auch zwischen 1949 und 1990) irgendwie “ehemalig” und nie “real existierend”.
@amfenster
Ich hätte das weiter ausführen sollen. Die Frage der sozialen Hierarchie ist ja in Deutschland schon lange nicht mehr einfach und eindeutig, daher lässt sich manchmal nur schwer sagen, wer wo steht. Auch unter vermeintlich gleichrangigen gibt es Hierarchien, die bis weit in die 1960er auch angewandt wurden [ab den 1970ern geraten die Regeln in Vergessenheit], z.B. über das Geschlecht [sehr fikeliensch] oder das Alter.
Es ist auch kein Ausschließlichkeitsmerkmal, manchmal möchte man eine gewisse Distanz auch zu gleichrangigen halten. Oder man ist sich nicht ganz sicher, wie es aussieht. Wesentlich an der ersten Ausführung war die Vergrößerung der Distanz zum Anderen und zu seiner eigenen Äußerung.
@H.L.
Gebe ich Ihnen Recht, ‘damalig’ ist eine gute Lösung, das macht die andere aber noch nicht falsch. Besteht nicht eben darin der Unterschied zwischen guten und schlechten Schreibern — der eine sucht das zu den Umständen passende Wort, der andere nimmt das erstbeste? Das aber führt uns zu Stil, der immer eine persönliche Angelegenheit ist und schon von daher schlecht in allgemeingültige Regeln zu fassen.
ehemalige DDR
@ H.L.
Es kommt wohl auf den Zusammenhang an. Meine Großeltern wurden beide zwischen 1885 und 1890 in Österreich-Ungarn geboren, lebten von 1919 bis 1939 in der Tschechoslowakei, von 1939 bis 1945 in Deutschland und 1945/46 in der CSSR. Das erste mal wechselten sie 1946 den Wohnort.
Wenn ich das so schreibe, dann setzt das Geschichtskenntnisse voraus. Deshalb würde man wohl schreiben, sie lebten in Böhmen welches ehemals … und zogen 1946 um.
Ich bin in Leipzig in der DDR geboren und wohne heute in Leipzig in der Bundesrepublik. Hier würde sich (wenn der Ort z. B. Neudorf hieße) eine genauere geographische Bezeichnung anbieten, im Falle von Leipzig wäre die Variante möglich zu sagen “welches damals zur DDR, heute aber zur Bundesrepublik gehört” oder kurz “in der damaligen/ehemaligen DDR”.
Für mich geht es hier eigentlich mehr um eine Frage der Exaktheit einer Angabe als um “pure” Sprache.
(In-)Direktheit
Mit indirekten Fragen kann ich leben, solange man die nicht immer auch von mir erwartet. Ich bevorzuge direkte Fragen, wenn ich eine direkte Antwort haben möchte.
Aber schlimmer als indirekte Fragen finde ich indirekte Antworten. Klassisches Beispiel von Loriot: “Wie lange hat dieses Ei denn gekocht?” — “Zuviele Eier sind gar nicht gesund.”
Leider gibt es solche Dialoge in der Realität nur allzu oft, und manchmal könnte ich die Wände hochgehen, wenn ich gezwungen bin, meine Frage mehrfach zu stellen, bevor ich endlich eine angemessene Antwort darauf erhalte.
Noch ein Beispiel gefällig?
Ich: “Wo ist denn geblieben?” — “Das lag mir neulich im Weg, deshalb habe ich es weggelegt.” — Ich, schon ungeduldiger: “Und wohin genau hast Du es gelegt?” — “Nun sei doch nicht gleich so gereizt, wenn Du etwas nicht gleich wiederfindest!” — usw.
(In-)Direktheit
Ähm, da hat mir eben der Parser einen Strich durch den Kommentar gemacht. Im letzten Dialog hatte ich in der ersten Frage “Gegenstand des täglichen Lebens” in “spitze Klammern” (<>) gesetzt. Woraufhin mein Browser an der Stelle gar nichts mehr anzeigt. Also bitte nachträglich hinzudenken.
Gruß,
Ingo, geboren in Waggum, ehemals Landkreis Braunschweig, heute (Stadt) Braunschweig
Herrliches Serienfinale! Außer in Nordkorea, hihi
Schönes Serienfinale
Hat Spaß gemacht!
Und jetzt mal auch ne Frage die mich immer umtrieben hat (aus Neugier): Warum war vor ein paar Jahren immer vom “Ex-Entführungsopfer Kampusch” die Rede? Sie war doch auch nach der Rettung ein Entführungsopfer oder entgeht mir das etwas? Und es heißt doch auch nicht “Ex-Mordopfer” oder “Ex-Vergewaltigungsopfer”, oder?
Aber wie gesagt: Ich will nicht nörgeln, mich interessierts einfach…
Ich möchte einen Kommentar schreiben
Busch hat in einem Punkt ausnahmsweise ein bisschen recht:
Es gibt Fälle, in denen die direkte Sprache der indirekten zu bevorzugen ist. Meistens ist das im geschriebenen Text der Fall.
Wenn man sich bei einer Firma bewirbt, wo man garantiert nicht genommen werden möchte, dann braucht man nur zu schreiben “Hiermit möchte ich mich auf die Stelle als XY bewerben…” Da kann man sicher sein, dass die Bewerbung als allererstes aussortiert wird. Denn das klingt, als wäre sich der Bewerber selber nicht ganz sicher, was er eigentlich möchte. Schreibt man dagegen “Hiermit bewerbe ich mich auf die Stelle als XY…”, dann hat man gute Chancen, bald mit der zukünftigen Kollegin Meyer in die Kantine zu gehen möchten dürfen.
So pauschal dagegen ist die Aussage natürlich Quatsch.
Ich hatte in 13 Jahren Deutschunterricht nicht so viel Spaß an dieser Sprache wie in Ihrem Artikel! Endlich spricht sich mal jemand für einen ungezwungeren Umgang mit Sprache aus.
Eine Frage hätte ich allerdings noch: Warum wird in Ihrem Beispiel aus dem verstorbenen Herr Müller und der noch lebenden Frau Müller plötzlich das Ehepaar Schmidt?
Sehr schöner Schlußsatz. Um es Neudeutsch (internetisch) zu sagen “you made my day”.
sachma
Sprache lebt !!!
Sprache lebt — sie ist eben nicht Mathematik oder Kybernetik.
Ich selbst bevorzuge zwar eine möglichst eindeutige und damit auch direkte Ausdrucksweise (und höre sie auch gerne), muß aber auch andere Sprech- bzw. Sprachstile akzeptieren — oder die Kommunkation erstirbt. Aber Wörter sind nur selten eindeutig; AS hat dies eindrucksvoll belegt.
Trotzdem gefallen mir einige Deutsch-Entwicklungen der jüngsten Zeit nicht; drei Beispiele seien gestattet:
— Nach “weil” folgt gemäß der deutschen Grammatik ein Nebensatz (konjugiertes Verb am Ende), man hört aber fast nur noch einen folgenden Haupsatz (wie z.B. nach “denn”), und dies sogar in sogenannten Qualitätsprogrammen von Radio und TV.
— “Sinn machen” empfinde ich gegenüber dem deutschen “Sinn haben” (also sinnvoll sein) trotz seiner epidemischen Verbreitung immer noch als “schmerzhaft für die Ohren”.
— Niemand (selbst Guido Knopp nicht; auch “ehemaliges Römisches Reich” habe ich noch nicht gehört) spricht vom “ehemaligen Dritten Reich”: Jedem ist klar, daß es sich um Deutschland zwischen 1933 und 1945 handelt.
Warum dann “ehemalige DDR” (noch schlimmer ist “ehemaliger Osten”), wenn nicht politische Implikationen (bestenfalls Gedankenlosigkeit) der Sprecher zugrunde liegen?
Daß “ehemalige DDR”” von bestimmten Politikern und sogenannten Leitmedien favorisiert wird zeigt, daß die bewußten Verwender dieses Begriffs der DDR ihre Existenz bis heute nicht verzeihen können (Hermann Kant sagte sinngemäß: “Wir haben uns ihnen weggenommen.”).
Abgesehen von möglichem Sprach-Purismus gilt doch im gesellschaftlichen und engeren politischen Umfeld nach wie vor:
Wer bestimmte Begriffe oder Floskeln mit allgemein akzeptierten Inhalten besetzen kann, hat auch (ideologischen!) Einfluß auf das Denken.
Auch hierfür drei Beispiele:
— Nimmt der Arbeitnehmer wirklich Arbeit oder gibt er nicht doch seine Arbeit(skraft)? Da ist selbst das deutsche Steuerrecht genauer, indem es von “Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit” spricht.
— Was war am “Nationalsozialismus” national (im besten Wortsinne, nicht nationalisitisch) oder sozialistisch? Statt von NS-Diktatur wäre besser und viel genauer von Faschismus zu sprechen.
— “Karl-Marx-Stadt” (falls es noch irgendwo ein anderes geben sollte: in Deutschland) ist auch nicht “ehemalig”; es war der Name des sächsischen “Ruß-Kams” (auch “sächsisches Manchester” genannt) an der Chemnitz von 1953 bis 1990; die in diesem Zeitraum dort Geborenen mögen auf ihre Geburtsurkunde und ihren Personalausweis gucken.
chy
PS:
Folgender AS-Satz ist bei allem Interpretationswillen jedoch korrekturwürdig:
“Was alle diese Beispiele gemeisam haben, ist, dass sie sich beziehen sich auf eine notwendige Vorbedingung des eigentlich gemeinten beziehen:
Reifenwechsel
Zusätzlich trifft hier glaube ich zu, daß man mit dem Wort ausdrückt WAS denn wirklich gewechselt werden muss. Der Radwechsel (Reifen und Felge) passiert ja in den meisten Fällen wegen des defekten (Autorennen — abgefahrenen) Reifens und nicht etwa aufgrund der Felge. Sprich, wenn es denn genauso einfach wäre NUR den Reifen zu wechseln, würde das ja auch jeder tun.
Das findet sich meiner Meinung auch wieder, wenn man über den Wechsel “auf Winterreifen” redet
@chy: Unwissen macht Voruteile
“Sprache lebt — sie ist eben nicht Mathematik oder Kybernetik.”
Mathematik ist ebenfalls eine lebendige Sprache, die ständig verändert, weiterentwickelt und den Bedürfnissen aus Natur- und Lebenswissenschaften angepaßt wird. Als Mathematiker zu arbeiten, bedeutet gerade, diese Sprache zu revidieren, zu entwickeln und neue Dialekte zu lernen und auszuprobieren: Verschiedenen mathematische Gebiete verhalten sich wie Sprachen zueinander und es ist in der Regel eine Innovation, die Formulierung eines Problems in einen anderen mathematischen Dialekt zu übersetzen. Zuletzt hat das gut geklappt bei der Arbeit von Gerd Opfer zur Collatz-Vermutung:
http://preprint.math.uni-hamburg.de/…2011–09.pdf
In der Arbeit wird ein zahlentheoretischen Problem mit funktionentheoretischen Mitteln angegangen.
Also: Wer hier nicht kreativ ist, hat schon verloren. 😉
Wann immer man folglich auf dichotomische Großkonflikte stößt, die die Welt zu regieren scheinen, sollte man äußerst vorsichtig sein.
De mortuis
Ich kann allen Bewertungen zustimmen, nur bei „verstorben“ habe ich gewisse Probleme. In der gesprochenen Sprache ist es klar, was gemeint ist, schriftlich würde ich „Frau Müller hat das Lebensmittelgeschäft mit ihrem verstorbenen Mann geführt“ schon als Stilblüte bewerten. Man könnte ja beispielsweise schreiben „Frau Müller hat das Lebensmittelgeschäft mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann geführt“
In den 90er Jahren wurde die Bezeichnung „ehemalig“ inflationär für Länder wie die Sowjetunion, die DDR oder Jugoslawien verwendet. Ich hatte immer Diskussionen mit Kollegen wegen Sätzen wie „In der ehemaligen Sowjetunion war Erziehungssystem stark naturwissenschaftlich ausgerichtet“. Diese Verwendung des Begriffs ist für mich sinnlos, denn als die Sowjetunion noch existierte, war sie nicht „ehemalig“. Und daß sie heute nicht mehr existiert, hat sich auch herumgesprochen. Man sagt ja auch nicht. „Im ehemaligen römischen Imperium“, oder „im ehemaligen 3. Reich“. Sinnvoll ist für mich eine Konstruktion wie „auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist heute…“ Auch nur Sprachnörgelei?
Sprachnörgler
Darf ich vielleicht auch ein wenig rumnörgeln: “dass sie sich beziehen sich auf eine notwendige Vorbedingung des eigentlich gemeinten beziehen”?
Zu lange gewartet…
… mit dem absenden, jetzt hat inzwischen schon jemand anderes meinen Punkt gebracht. Tut mir leid.
Beim “Faschismus” bin ich übrigens anderer Meinung. Dieser Ausdruck ist genauso ideologisch unscharf, er wird lediglich von Linken bevorzugt, die nicht ihren Zentralbegriff “Sozialismus” beschmutzt sehen wollen. “National-Sozialismus” ist natürlich genauso ein Blendebegriff.
Vielen Dank
Vielen Dank für diese interessante Triologie über die Demaskierung eines Sprachklugschei*ers. Da ich selbst aber auch zu dieser Zunpft gehöre werde ich mir ab heute tunlichst Mühe geben, den Zeigefinger unte zu lassen und den Mund geschlossen.
Vielleicht haben Sie aber auch alles nur noch schlimmer weil mich noch klüger gemacht… 🙂
Danke trotzdem
Ich finde das Beispiel zu “wollte” unglücklich gewählt. Denn “Ich habe leider ein Treffen mit den anderen Abteilungsleiterinnen.” kann man meiner Meinung nach auch durchaus nach auf “Kommen Sie mit in die Kantine?” antworten. Außerdem enthält der Satz genau die Rechtfertigung, die direkt vorher mit den direkten Sprachakten in Verbindung gebracht wurde. Analog zum ersten Beispiel müsste Frau Meier auch hier nur mit “Nein” antworten können, aber trotzdem würde die Firma nicht pleite gehen 😉
Passt doch
Analog zum verstorbenen Gemüsehändler redet man ja auch von der “ehemaligen DDR”. Wobei das mit der DDR in meinen Augen ein Grenzfall ist: Wer je von der DDR gehört hat, hat auch die Wende mitbekommen, weiß also, dass es das Signifikat nicht mehr gibt, weswegen man das “ehemalig” auch weglassen könnte. Es redet ja auch keiner vom “ehemaligen Dritten Reich”.
(Herr Busch hat seine Ausführungen in der Zeitung veröffentlicht, die mit der ehemaligen DDR so ihre Probleme hatte. Aber diese selbst weist nur in ca. 700 von 31.000 Treffern darauf hin, dass dieses Staatswesen inzwischen auch auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist. Und ein Teil der ehemalig-Treffer sind Kompisita wie “ehemaliges DDR-Gefängnis”.)
Da wir Herrn Müller aber wohl nicht kannten, redet Frau Müller von ihrem verstorbenen Mann — bei allgemein bekannten Personen, deren Ableben inzwischen Teil der Allgemeinbildung ist, macht man das nicht.
wollte gefragt haben
Hm, einerseits ist mein erster Kommentar überflüssig, was ich gemerkt hätte, wenn ich die vorhandenen Kommentare vollständig gelesen hätte. Andererseits habe ich mir offenbar als einziger die winzige Mühe gemacht, gugelempirisch die Verwendung von “ehemalige DDR” bei bild.de nachzuprüfen…
Zu “wollte gefragt haben”: Das ist nicht so sehr eine Höflichkeitsform wie in “ich wollte fragen”, sondern eine Selbstbezichtigung, die in der Regel mit einer Zeitangabe verwendet wird: “Ich wollte schon längst gefragt haben, ob…” D.h. ich gebe gleich zu, dass ich eine Aufgabe vergessen oder vor mir hergeschoben habe.
Zu “ehemalig” fällt mir noch was ein: Völlig unauffälig ist das Wort ja in Wendungen wie “der ehemalige Vorsitzende”. Bei “ehemalige DDR” müsste man ja fragen, welches Land den die heutige DDR darstellt…
ehemalig
Ich spreche auch vom ehemaligen Königreich Hannover oder vom ehemaligen Herzogtum Braunschweig und natürlich auch vom ehemaligen Jugoslawien usw. Warum also nicht von der ehemaligen DDR?
@H.L.
Da Herr Busch in der “BILD” schreibt, würde sich der Gebrauch der Abkürzung DDR eh erübrigen. Für die “BILD” ist die DDR immer noch die SBZ oder Mitteldeutschland. Ich persönlich vermeide eine Unterscheidung zuwischen Westdeutschland und Ostdeutschland, da es eh nur ein Deutschland jetzt gibt. Wer zu faul ist, sich im Internet über die Lage von Orten schlau zu machen, hat selbst schuld. Ein gewisser Bildungsstand sollte vorausgesetzt werden.
Sprachschützer
Eine sehr schöne Reihe, die ich einfach mal als Plädoyer für einen kreativen Umgang mit Sprache interpretiere, vielen Dank dafür. Nach meiner Erfahrung sind diese selbsternannten Sprachschützer oft humorlose Besserwisser — da ist es umso schöner wenn sie Antwort erhalten von jemandem, der es wirklich besser weiß (vor allem, wenn sie gar nicht gefragt haben…) 🙂
zunächst unklar
Danke für den tollen Beitrag, es passiert selten, dass ich bei einem Text, der sich mit Sprache beschäftigt, laut lachen muss.
Ich habe auch ein sprachliches Problem, das mich allerdings in die Nähe von Hr. Busch rücken könnte:
Bei Nachrichten findet man häufig folgende Redewendung. [Irgendwas schlimmes ist passiert]. Das Motiv (oder die näheren Tatumstände etc.) war zunächst unklar.
Da denke ich mir immer wunderbar, dass die Tatumstände zunächst unklar waren, dann sind sie ja jetzt klar und sollten gleich genannt werden. Aber dann kommt nichts mehr. Offensichtlich sind sie also immer noch unklar. Warum spricht man in diesem Fall nicht von: Die Tatumstände sind noch unklar?
In der Alltagssprache würde jeder bei “Programmieren viel mir/ihm zunächst noch schwer”, doch glauben, dass es jetzt gelernt wurde, oder?
@Andi
Das “zunächst” ist typische Presseagentur-Sprache.
Zum einen werden die beschriebenen Vorkommnisse ja oft in der Folge noch mit neuen Agenturtexten aktualisiert, zum anderen beschreiben Tageszeitungen damit ja oft nur den Zustand vom Vorabend — und drücken mit dem “zunächst” aus, dass sich in Sachen Motivsuche mittlerweile was getan haben könnte / noch tun könnte.
Konjunktiv?
Sicher, daß „wollte“ in diesem Fall seinen Ursprung als Vergangenheitsform genommen hat, nicht als Konjunktiv? — nur aus dem Bauch raus.
@ Elmar Diederichs: Unwissen …
Ich schrieb: “Sprache lebt — sie ist eben nicht Mathematik oder Kybernetik.” und ED antwortete: “Mathematik ist ebenfalls eine lebendige Sprache, die ständig verändert, weiterentwickelt und den Bedürfnissen aus Natur- und Lebenswissenschaften angepaßt wird.”
In diesem Disput-Ausschnitt kommt meines Erachtens bereits das Dilemma zum Ausdruck.
Mein Satz ist zugegebenermaßen verkürzt und interpretierbar und ich hätte besser formulieren sollen “Natürliche Sprache lebt — und sie hat nicht die (Ein-)Eindeutigkeit wie sie in der Mathematik mittels Definitionen — ob bereits Allgemeingut in der Wissenschaftlergemeinde oder nicht — gesichert werden soll.”
Unbestritten ist, daß Mathematik weiterentwickelt wird, oft sogar bezüglich möglicher Praxisrelevanz “auf Vorrat” (z.B. nichteuklidische Geometrie, Graphentheorie) und nicht nur durch neue “Bedürfnisse aus Natur- und Lebenswissenschaften”; daß sich die verschiedenen Zweige der Mathematik auch auseinanderentwickeln und sich deren jeweiligen Vertreter manchmal gar nicht mehr — sofort — verstehen, ist eine der Folgen.
Andererseits unterliegt ED selbst den Schwierigkeiten einer eindeutigen Ausdrucksweise in natürlichen Sprachen: Mathematik ist eben keine lebendige Sprache, sondern eine Wissenschaft, in der eigene Sprachen entwickelt und auch vervollkmmnet bzw. weiterentwickelt werden.
Wer also hier nicht kreativ ist, scheint wirklich verloren zu haben …
(Bitte stets auch selbstreflexiv anwenden, dies bezieht sich auch auf den Titel, der fast eine Zumutung darstellt.)
Den “dichotomischen Großkonflikt” hätte ich gern näher erläuert bzw. definiert; so allgemein, wie hier formuliert, scheint dies immer zu stimmen.
Ein ausdrückliches Lob
Lieber Herr Stefanowitsch,
ich bin zwar nicht vom Fach, aber alle Teile dieser Reihe waren ein Genuß. Sie schaffen es jemanden zum Schmunzeln zu bringen und gleichzeitig ohne dass man es merkt auch Wissen zu vermitteln. Weiter so!
Viele Grüße
Erscheint mir ähnlich oberflächlich …
Nörgeln ist so eine Sache …
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, empfinde ich (und gestehe, daß es eine persönliche Einstellung ist) Formulierungen, wie “Ich wollte Sie fragen …” als äußerst Nervig.
Ich möchte dann immer schreien: “NA DANN TU’S DOCH!”.
Und wirklich: Von “indirekt = böse” auf “höflich = böse” zu schließen ist ein übertriebener Schritt, der Busch wohl kaum nachhinkt.
Was ist an: “Würden Sie mit mir heute zu Essen gehen?” unhöflich? Sollte nicht gerade in so einer Frage ein persönlicher Touch mitschwingen, oder gar selbstvertrauen und zuversicht, a lá: “Frau Meyer, haben Sie zu Mittag etwas vor? Lassen Sie uns doch gemeinsam in die Kantine gehen.”
Ich finde, daß indirekte Herumdruckserei kein Zeichen von Höflichkeit ist. Sicherlich, zu formellen Anlässen gibt es kaum Alternativen — und wer unseren Herrn Bundespräsidenten mit “Kann ich mal das Salz?” anpflaumt, gehört zurecht nie wieder eingeladen. Aber sobald die Konversation allgemeinsprachliche Floskeln (“Ich hätte gerne ein Pils.”) übersteigt, findet sich immer ein Ausdruck, der nicht vom Gegenüber erwartet(!) einen Gedankensprung zu machen. Ich finde, es gebietet die Höflichkeit, daß wenn ich etwas von meinem Gegenüber möchte, ich es dann so klar wie möglich (im Rahmen der Höflichkeit) darüber spreche.
Ja aber natürlich ist ‑jedem- klar was das Gegenüber möchte, wenn es heißt: “Könntest du mir das Salz reichen?” — und die Antwort “Junge, ich reiche dir in jeder Hinsicht das Salz” ist es kaum. Und “Schatz, magst du mir das Salz reichen?” empfinde ich als Längen angenehmer als “Schatz, ich wollte dich fragen, ob du mir das Salz reichst.” — weil das ja in keinster Weise tatsächlich eine Aufforderung oder Anfrage ist. Es ist nur eine Aussage.
Was verstorben angeht — technisch gesehen hat die Frau eben NICHT mit ihrem verstorbenen Manne das Geschäft geführt. Sondern mit ihrem in der zwischenzeit / seit dem / mittlerweile verstorbenen Manne.
Sorry, wenn Sprachnörglernörgeln, bitte nicht die gleichen Rundumschläge machen. 🙂
… und im Gegensatz zu “Ich wollte Sie fragen …” haben wir beide nicht nur etwas sagen ‑wollen‑, sondern es auch getan.
Vergangenheitsformen
Im Deutschen ist die langdauernde Vergangenheitsform verloren gegangen. Was also ein Franzose mit Imparfait (je voulais) und der Engländer mit Present Perfect Progressive (I have been ‑ing) ausdrückt, kann man im Deutschen höchstens mit ein paar Adverbien verdeutlichen: z.B. “die ganze Zeit schon”.
Die Zeitdauer ist der Sinn von “ich wollte fragen”, nicht der vergangene, einmalige, plötzliche Wille.
Andererseits versetzen sich Deutsche gedanklich in die Vergangenheit, sodass sie im Nebensatz zur Gegenwart wird. Sonst würden sie analog zu Franzosen und Engländern sagen: “ich wollte fragen, ob Sie mit mir in die Kantine gingen”.
Dadurch wird der Zusatz “ehemalige” plötzlich als unsinnig empfunden. In echten Präsens-Sätzen ist es nicht unsinnig: “die übriggebliebenen Trabis erinnern an die ehemalige DDR”.
Das Verständnis von Sätzen ist also von kulturell konditionierten Vorstellungen beeinflusst. Richtig verstehen kann man seine Muttersprache also nur im Spiegel fremder Sprachen und Kulturen.
Nicht sehr treffend
@Cornelius: Sie können die eine Formulierung (von Herrn Busch) ruhig besser finden als die andere (von Herrn Stefanowitsch), das ändert aber nichts daran, dass keine von beiden ein Monopol auf das “Richtigsein” im sprachwissenschaftlichen Sinne haben. Das war der Hauptpunkt der Artikelserie. Ich persönlich kann alles in den 3 Artikeln Geschriebene so unterschreiben, aber niemand hat gesagt, dass jeder Sprache gleich empfindet. Wenn Sie hingegen argumentieren wollen, dass es allgemein so ist, dass die indirekte Sprache nicht von den meisten Menschen als höflicher empfunden wird, sollten Sie das klarer darstellen (aber das war glaube ich nicht so der Tenor Ihres Kommentars :-)).
Außerdem wollte ich Sie auf einen Fehler aufmerksam machen, Sie schreiben:
“Und “Schatz, magst du mir das Salz reichen?” empfinde ich als Längen angenehmer als “Schatz, ich wollte dich fragen, ob du mir das Salz reichst.” — weil das ja in keinster Weise tatsächlich eine Aufforderung oder Anfrage ist. Es ist nur eine Aussage.”
Da haben Sie aber einen indirekten Sprachakt gemacht, denn “Schatz, magst du mir das Salz reichen?” ist keine Aufforderung das Salz zu reichen, sonder nur eine Frage, wie die Gefühlslage des anderen bezüglich der Möglichkeit einem das Salz zu reichen ist. Es klingt für Sie besser als Ihr zweiter Satz, weil es kürzer (und vertrauter) ist. Aber es ist kein Argument für Sie (und die direkte Sprachakte) und gegen Herrn Stefanowitsch (und somit indirekte Sprachakte). Wäre ich ein Sprachnörgler, würde ich auf Ihre Frage einfach sagen “Dir das Salz zu reichen mag ich wohl.” oder “Dir das Salz zu reichen mag ich gerade nicht.” ohne auch nur einen Finger zu krümmen.
“Schatz, reich mir mal bitte das Salz.” ist die höflichste direkte Ansprache, die ich formulieren kann. Ihre erste indirekte Ansprache gefällt mir, aber mehr. 🙂