Die unverbesserliche Seichtigkeit der Sprachnörgler (Teil 2)

Von Anatol Stefanowitsch

Nach­dem ich mich im ersten Teil unser­er kleinen Serie über Andreas Buschs Liste der „10 am häu­fig­sten falsch ver­wen­de­ten Wörter“ mit sor­gen, Kult und Busen beschäftigt habe, komme ich im zweit­en Teil zu irri­tiert und Sym­pa­thie. BILD.de hat die Liste ja unter der Über­schrift „Mit Fremd­wörtern kön­nen Sie mir nicht impräg­nieren!“ veröf­fentlicht und so unter­stellt, dass es vor­rangig um Ver­wech­slun­gen eben dieser gin­ge, aber tat­säch­lich sind nur vier der zehn Wörter über­haupt Fremd­wörter — Pub­lic View­ing (das ich in dieser Serie nicht behan­dle, siehe aber hier und hier), Kult (das ich am Mon­tag bere­its behan­delt habe), und eben irri­tieren und Sym­pa­thie.

Der Grund, warum ich die bei­den Wörter heute gemein­sam bespreche, liegt aber nicht in ihrer lateinis­chen bzw. griechis­chen Herkun­ft, son­dern daran, dass sie das zweite der drei Grund­prob­leme des Sprach­nörgelns demon­stri­eren: Die Vorstel­lung, dass Wörter nur eine Bedeu­tung haben (dür­fen).

Begin­nen wir mit irri­tiert. Busch schreibt dazu:

Fühlen Sie sich irri­tiert, wenn Ihr Gegenüber ziem­lichen Blödsinn verzapft? Sie meinen, dass die kon­fusen Sätze Ihres Gesprächspart­ners Sie ver­wirren, durcheinan­der­brin­gen? Das mag der Fall sein, ist aber nicht die Bedeu­tung des Wortes „irri­tiert“. „Irri­tiert“ bedeutet „gereizt“, und zwar nicht nur im über­tra­ge­nen Sinn […]. Ärzte sprechen von „Irri­ta­tio­nen“, zum Beispiel auf der Haut, die gereizt wird und daher rot wird, trock­en, rau oder Ähn­lich­es. [zehn.de]

Es ist richtig, dass Ärzte auf diese Weise von Irri­ta­tio­nen sprechen, aber in der All­t­agssprache wird das Wort so nicht ver­wen­det. Wed­er der Duden noch Ber­tels­man­ns Wörter­buch nen­nen diese Bedeu­tung. Es kommt zwar tat­säch­lich vom lateinis­chen irritare, das „reizen, erre­gen“ bedeutet, bedeutet heute aber nach den eben genan­nten Wörter­büch­ern, denen ich auch die Beispiele ent­nehme, „stören“ (Der Lärm irri­tierte mich [bei der Arbeit]), „ärg­ern“ (Er war über das Ver­hal­ten des Min­is­ters irri­tiert) oder eben „ver­wirren“ (Seine uner­wartete Reak­tion irri­tierte mich).

Wenn Busch fordert, dass wir irri­tiert nur mit der Bedeu­tung „gereizt“ ver­wen­den sollen, ist das zum Teil ein Beispiel für den ety­mol­o­gis­chen Fehlschluss, den ich am Mon­tag disku­tiert habe. Zum Teil ist es aber eben auch die Unfähigkeit, zu akzep­tieren, dass ein Wort dur­chaus „gereizt“, „gestört“, „ärg­er­lich“ und „ver­wirrt“ bedeuten kann, denn diese Bedeu­tun­gen hän­gen ja eng zusam­men: Etwas, das uns (im wörtlichen Sinne) reizt, empfind­en wir als störend. Aus der Bedeu­tung „gestürt“ ergibt sich sowohl die Bedeu­tung „ärg­er­lich“ (da störende Dinge im All­ge­meinen ärg­er­lich sind), als auch die Bedeu­tung „ver­wirrt“ (da Störun­gen die Ord­nung durcheinan­der­brin­gen, was uns im All­ge­meinen ver­wirrt und vielle­icht auch ärg­ert). Wenn wir irgen­deine dieser Bedeu­tun­gen einzeln aus­drück­en wollen, kön­nen wir die Wörter gereizt, gestört, ärg­er­lich oder ver­wirrt ver­wen­den, wenn wir eine Mis­chung aus allem meinen (bei der mal der eine, mal der andere Aspekt im Vorder­grund ste­ht), dann nehmen wir das Wort irri­tiert. In den oben zitierten Beispie­len aus den Wörter­büch­ern klin­gen für mich immer mehrere der vier Bedeu­tungss­chat­tierun­gen mit. Es ist also nicht nur kein Nachteil, dass irri­tiert ein ganzes Spek­trum an Bedeu­tun­gen abdeckt, es ist sog­ar seine eigentliche Stärke. Das Wort wäre kom­plett über­flüs­sig, wenn wir es mit Gewalt auf eine sein­er Bedeu­tun­gen ein­schränken würden.

Die Vorstel­lung, dass Wörter nur eine einzige Bedeu­tung haben dür­fen, steckt auch hin­ter Buschs Fehlin­ter­pre­ta­tion von Sym­pa­thie:

Wenn einem jemand sym­pa­thisch ist, dann hat man Mitleid mit ihm oder ihr. Das haben Sie über­haupt nicht gemeint? Aber gesagt! Die Bedeu­tung von Sym­pa­thie ist näm­lich eine vol­lkom­men andere als „nett“ oder „jeman­dem zugeneigt sein“! Sym­pa­thie heißt nichts anderes als „Mitleid“, von griechisch “sym/syn=mit” und “pathos=Leiden”. [zehn.de]

Der DUDEN leit­et das Wort übri­gens auf die gle­iche Art her (und ist vielle­icht die Quelle für Buschs Weisheit):

lateinisch sym­pa­thia < griechisch sym­pátheia = Mitlei­den, Mit­ge­fühl, zu: sym­pa­thḗs = mitlei­dend, mit­füh­lend, zu: sýn = mit, zusam­men und páthos = Leid, Schmerz [Duden online, s.v. Sym­pa­thie]

Diese Her­leitung ist logisch auch dur­chaus möglich, spiegelt aber nicht genau die tat­säch­liche Bedeu­tungs­geschichte des Wortes wider.

Begin­nen wir mit sýn (σύν). Das bedeutet im Alt­griechis­chen „mit“ oder „gemein­sam“, und es macht natür­lich einen feinen aber trotz­dem deut­lichen Unter­schied, welche Über­set­zung man hier wählt: mit hat eine gewisse Asym­me­trie in sein­er Bedeu­tung, gemein­sam nicht: Wenn A bei etwas mit­macht, legt B vor und A schließt sich nur an; wenn A und B dage­gen etwas gemein­sam machen, tun sie es bei­de gle­icher­maßen. Wenn A mit B mit­fühlt, fühlt B etwas, und A ver­sucht, sich in B hineinzu­ver­set­zen; wenn A und B gemein­sam etwas fühlen, tun sie es bei­de gle­icher­maßen usw.

Páthos (πάθος) hat gle­ich eine ganze Rei­he von Bedeu­tun­gen, zu denen zwar tat­säch­lich „Leid(en)“ und „Schmerz“ gehören, aber auch „(starkes) Gefühl/Fühlen“, „Lei­den­schaft“ und „Zus­tand“.

Nun kann ich natür­lich für sýn die Bedeu­tung „mit“ und für páthos die Bedeu­tung „Lei­den“ her­aus­greifen — dann bekomme ich die Bedeu­tung „Mitleid“. Ich kann aber auch die Bedeu­tun­gen „gemein­sam“ und „Fühlen“ oder „gemein­sam“ und „Zus­tand“ her­aus­greifen — dann bekomme ich die Bedeu­tung „gemein­sames Gefühl“ oder „gemein­samer Zus­tand“. Und genau das ist es, was sym­pátheia (συμπάθεια) im Alt­griechis­chen hieß, und genau mit diesen Bedeu­tun­gen wurde das Wort im 17. Jahrhun­dert ins Deutsche und in andere europäis­che Sprachen entlehnt.

Das BER­TELS­MANN-Wörter­buch leit­et das Wort übri­gens ety­mol­o­gisch gründlich­er her:

griech. sym­pa­theia „Mit­ge­fühl, Zusam­men­stim­mung“, zu sym­pa­thein „die gle­iche Empfind­ung haben, mit­fühlen, mitlei­den“, < sym… (in Zus. vor p für syn) „zusam­men, mit“ und pathos „Gemüts­be­we­gung, See­len­stim­mung“ [BERTELSMANN Wörter­buch, s.v. Sym­pa­thie]

Wie sich die mod­erne Bedeu­tung „pos­i­tives Gefühl für jeman­den oder etwas“ aus der Bedeu­tung „gemein­sam fühlen“ entwick­eln kon­nte, ist leicht nachvol­lziehbar — wer das gle­iche fühlt, wie wir, der ist uns eben sympathisch.

Das Wort Sym­pa­thie wurde nach sein­er Entlehnung aber vere­inzelt tat­säch­lich mit der Bedeu­tung „Mitleid“ ver­wen­det — und zwar von Schlauberg­ern, die sich die Bedeu­tung auf Busch’sche Weise aus sýn und páthos hergeleit­et hat­ten, statt das Wort ein­fach so zu ver­wen­den, wie alle anderen — inklu­sive der alten Griechen.

BERTELSMANN (2000–2011) Ber­tels­mann Wörter­buch der deutschen Sprache [Link]

BUSCH, Andreas (2011) Die 10 am häu­fig­sten falsch ver­wen­de­ten Wörter. Zehn.de [Link]

DUDEN (2011) Duden online [Link]

GRIMM, Jacob, und Wil­helm GRIMM (1854–1960) Deutsches Wörter­buch. [Link]

LIDDELL, Hen­ry George und Robert SCOTT. (1940) A Greek-Eng­lish Lex­i­con. Revised and aug­ment­ed through­out by Sir Hen­ry Stu­art Jones with the assis­tance of Rod­er­ick McKen­zie. Oxford: Claren­don Press. [Link]

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

11 Gedanken zu „Die unverbesserliche Seichtigkeit der Sprachnörgler (Teil 2)

  1. Gordon

    Danke
    Ein­mal mehr schafft es AS meine Sicht auf Sprache zu lib­er­al­isieren. Danke dafür.

  2. Michael Kuhlmann

    Sym­pa­thie mit den Sprachnörglern
    Benutzt man Sym­pa­thie als Sub­stan­tiv, dann kön­nte man ja tat­säch­lich auf das dünne Brett kom­men, es würde Mitleid bedeuten. “Ich hege Sym­pa­thie für den alten Sack” kann man man direkt durch Mitleid erset­zen, und der Satzbau ist noch stimmig.
    Endgültig absurd wird diese Wort­deu­tung aber, wenn man das Wort als adjek­tiv benutzt. “Ich finde dich sym­pa­thisch” oder “Der Typ ist mir sym­pa­thisch” — bei­des klappt nicht mit der Wortbe­deu­tung als Mitleid. Denn wie Du richtig aufge­führt hast, ist “mit” asym­metrisch. Wenn aber jemand sym­pa­thisch “ist”, oder man jeman­den so “find­et”, dann ist das ein Zus­tand — aber in welche Rich­tung? Hat der andere dann Mitleid, oder ich mit ihm?
    Da kommt man schon durcheinan­der, weil Mitleid normer­weise die Prä­po­si­tion “mit” fol­gend lässt, um des Objekt zu spez­i­fizieren. Das ist beim Sym­pa­thisch-Sein nicht der Fall. Sowas sollte auch einem Andreas Busch auffallen.

  3. Philip Newton

    Von Pfer­den und Köpfen
    Ety­mol­o­gisch gesprochen dürften wir also nicht mehr von “Pfer­deren­nen” sprechen, da die Tiere dort sich­er keine “Kuri­erpferde auf Neben­lin­ien” sind (ja, noch nicht ein­mal solche auf Hauptlin­ien) — hier müsste es also ver­mut­lich stattdessen “Ross­ren­nen” heißen?
    Und das Ding auf unseren Schul­tern… wie soll man das bloß nen­nen? Sowohl “Kopf” als auch “Haupt” heißen ja “eigentlich” “Bech­er, (Trink)gefäß, (Trink)schale”!

  4. D.A.

    Wieder ein schön­er Beitrag, aber “Sym­pa­thie” hätte mit Buschs durch und durch bek­loppter Begrün­dung wohl doch eher in Teil 1 gepasst.

  5. Lars Frers

    false Fre­und
    Zur Irri­ta­tion: Hier wäre es eigentlich noch span­nend zu schauen, ob es da irgendwelche Rück­kop­plun­gen mit dem Englis­chen gibt…
    (Ich jeden­falls bin bei einem Vor­trag über die Fahrkarte­nau­to­mat­en der Deutschen Bahn AG schon mal mehr oder weniger tief in die Falle getappt und habe von „Auto­mat­ic Irri­ta­tions“ gesprochen und wollte eigentlich san­fter nur von Ver­wirrun­gen sprechen. Aber ärg­er­lich sind die Auto­mat­en eben auch, von daher: nich so wild.)

  6. Michael Allers

    Falsch­er friend
    Zwei Leser, ein Gedanke. In eine Samm­lung von false friends hat­te ich auch irri­tat­ed aufgenom­men, denn m.W. ist die Bedeu­tung im Englis­chen tat­säch­lich­er enger, d.h. beschränkt sich auf ‘gereizt’, ‘verärg­ert’.
    Wenn Busch recht hätte, wäre ich auf diese Idee gar nicht gekommen.

  7. Ulf

    Patho? Logo!
    Ich frage mich, wie Herr Busch ana­log Empathie erkärt hätte. Die Her­leitung von Pathologe wäre auch äußerst inter­es­sant geworden.

  8. Martin Holzherr

    Jed­er ist Fuss­ball-/Sprachex­perte
    Sprache ken­nen die meis­ten nur aus der Prax­is oder in Form von Orthogra­phie, Gram­matik und Stillehre aus der Schule. Dort aber — in der Schule — wird kaum tiefer über die Sprache nachgedacht. Nur so lässt sich erk­lären, dass selb­st in ser­iösen Medi­en immer wieder Sprachex­perten vom For­mat Buschs eine Plat­form bekom­men — Leute also, die eine Deu­tung­shoheit auf­grund von Kri­te­rien beanspruchen, welche für die Sprache ger­ade nicht anwend­bar sind. Wer nicht über Sprache nachgedacht hat, dem mag Busch’s
    Her­leitung der Wortbe­deu­tung aus der Ety­molo­gie oder seine Ten­denz nur eine Bedeu­tung des Wortes zuzu­lassen und die Kon­textab­hängigkeit zu ignori­eren gar als ratio­nale Herange­hensweise imponieren, gilt es doch in Analo­gie zur Natur­wis­senschaft Missver­ständ­nisse zu ver­mei­den, wozu man Wörter am besten als Ter­mi­ni für ein­deutige Sachver­halte auffasst.
    Busch erkärt sich zum Sprachex­perten obwohl er in sein­er Exper­tise ger­ade beweist, dass er sprachthe­o­retisch nicht kom­pe­tent ist. Sprachthe­o­retisch nicht kom­pe­tent, jedoch sprachkom­pe­tent als Prak­tik­er das geht gut zusam­men. Ein Autor und Train­er für “kreatives Schreiben” wie Bush es ist, kann also dur­chaus Les­bares her­vor­brin­gen — und doch über Sprache ganz falsche Vorstel­lun­gen haben. Es ist fast wie beim Fuss­ball. Jed­er, der ein biss­chen Fuss­ball spielt oder die Regeln ken­nt (Spiel­regel als Ana­log zur Gram­matik), hält sich für einen Experten.
    Noch bess­er dünkt mich der Ver­gle­ich mit einem unbe­wusst ablaufend­en Vor­gang wie Gehen. Wer geht, läuft, springt und dies sehr behende und geschickt, kann eventuell über die tief­er­en Mech­a­nis­men, die dahin­ter­steck­en nichts Gescheites von sich geben. Einem, der müh­e­los spricht, ver­ste­ht und kom­mu­niziert kann es eben­so ergehen.

  9. Peer

    @Martin Holzherr
    Ich glaube die Unsitte, sich stur auf irgendwelche “Regeln” zu konzen­tri­eren, wenn man nicht genug Ahnung hat, um tief­greifend zu argu­men­tieren, ist nicht auf Sprach­wis­senschaft oder Fuss­ball beschränkt, son­dern ein generelles Prob­lem (ins­beson­dere von Geis­teswis­senschaften). Anson­sten gebe ich Ihnen recht.
    🙂
    Es ist kein Zufall dass Sprach­wis­senschaftler sel­ten (ganz auss­chließen will ich das nicht) Sprach­nör­gler sind.

  10. Mia

    Irritert
    “Irri­tiert” ist übri­gens mein Lieblingskon­troll­wort für die Qual­ität nor­wegisch-deutsch­er Wörter­büch­er. Das nor­wegis­che “irritert” reicht von ‘verärg­ert’ bis hin zu ’stinkwü­tend’, wird jedoch oft ein­fach als “irri­tiert” über­set­zt. Span­nend, dass das deutsche “irrotiert” doch einst mal in diese Rich­tung ging. Ich kan­nte es nur noch als ‘verwirrt’/‘unangenehm überrascht’.

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