Zu den häufigsten Suchbegriffen in meiner Blogstatistik gehört “sitting in one/the same boat”. In meinem Beitrag zu Oettingers Englisch schrieb ich, die englische Redewendung zu “in einem Boot sitzen” ist “to be in the same boat”. Das ist richtig, die Argumentation war aber nicht komplett: Muttersprachler haben mir bereits damals gesagt, dass ihnen “We’re sitting in one boat” gar nicht auffallen würde.
Warum auch? Der Satz ist syntaktisch in Ordnung, die Metapher bleibt. Ganz ähnlich sehen das auch die Muttersprachler in einer Diskussion zur Oettinger’schen Rede im LEO.org-Forum: ungewöhnlich ja, falsch nein (und erst recht nicht schlimm oder gar peinlich).
Das wollte ich jetzt genauer wissen: Nutzen Muttersprachler des Englischen die Redewendung so, wie Oettinger es tat? Die Antwort vorweg: Nein, tun sie (fast) nicht. Aber Oettinger war auch nicht der erste Deutsche, der sie benutzte.
Die Redewendung kommt im Englischen recht eindeutig mit {BE} in the same boat daher. Sitting in one/the same boat wird also nur dann verwendet, wenn die wörtliche Bedeutung gemeint ist, also einen Umstand bezeichnet, in dem man in einem physikalischen Boot sitzt. In den Megakorpora British National Corpus (BNC) und Corpus of Contemporary American English (COCA) findet sich kein einziger Beleg für {SIT} in the same boat oder {SIT} in one boat (bei 134 Treffern im COCA und 17 im BNC für {BE} in the same boat). Es geht also einerseits um das Verb sit ’sitzen’, welches im Englischen hier nicht verwendet wird und andererseits um one ‘ein(em)’, was im Englischen durch same ’selb(es/em)’ ersetzt wird.
Aber ausgeschlossen ist eine Oettinger’sche Verwendung nicht. Man muss zwar lange suchen und die Trefferzahl für sitting in the same boat ist in der metaphorischen Verwendung sehr, sehr gering. Aber eine Handvoll Belege findet sich (wenn sie nicht Oettinger selbst zum Thema haben):
Wow, how frustrating this is for us ‘curly heads’.…it seems like we are all sitting in the same boat waiting to be steered to the right port!!
(Forumsbeitrag, Vogue Australia)
But when role reversal becomes full time, then the “men” of this world are sitting in the same boat as the dinosaurs and tassie tiger.
(Kommentar, Sydney Morning Herald, Ask Sam!-Kolumne, 19. November 2007.)
In beiden Kontexten geht es nicht nur um die Schicksalsgemeinschaft allein, sondern auch um eine gewisse Passivität, die durch sitzen unterstrichen wird. Im zweiten Fall habe zumindest ich sofort ein Bild im Kopf, dass da jemand mit den ausgestorbenen Tieren sprichwörtlich im Boot sitzt, dass also die Männer das gleiche Schicksal ereilen wird, wie Dinosaurier und Tasmanische Tiger. In beiden Beispielen ist mehr intendiert, als die Anspielung auf eine Schicksalsgemeinschaft; Passivität spielt eine Rolle.
Bei den obigen Belegen lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welche Muttersprache die Schreiber haben. Denn interessant ist, dass eine ganze Reihe von Treffer für sitting in one/the same boat entweder Deutsche oder Schweizer zitieren oder von Deutschen geschrieben wurden:
I previously may have made reference to you that I thought that Greece was “bankrupt” for the past 41 years and that Portugal, Italy and Spain have all be[en] sitting in the same boat for the past 41 years.
(Dirk Werner, Morning Peninsula Financial Solutions, 6. Mai 2010.)
We are all sitting in the same boat. At that point [of the crash] I was distracted, looking to the right.
(Sebastian Vettel, zitiert in Telegraph.co.uk, 4. Oktober 2007.)
To use an analogy from my own sport [rowing], we are sitting in the same boat and rowing in the same direction.
(Denis Oswald, zitiert in Guardian.co.uk, 25. November 2005.)
Before they were all sitting in one boat, with emphasis placed on community and solidarity. All of a sudden reunification has left them with no boat at all.
(Eine Britin mit deutscher Mutter, seit der Jugend wohnhaft in Berlin, zitiert in Telegraph.co.uk, 29. Dezember 2003)
There is recognition that all countries, whether rich or poor or emerging market countries are sitting in one boat and that this is an inter-dependent world.
(Horst Köhler, zitiert in The Hindu Business Line, 24. September 2003.)
Vor Günther Oettinger haben also mit Horst Köhler und Sebastian Vettel schon andere prominente Deutsche die Konstruktion oder eine leichte Abwandlung davon verwendet. Es ist gerade bei diesen beiden — Köhler war damals noch Chef des IMF — vorstellbar, dass sie die Äußerungen auf Englisch getätigt haben und es sich dabei nicht um eine Übersetzung handelt.
Die “deutsche” Verwendung ist also unkonventionell genug, um vom Muttersprachler nicht benutzt zu werden, aber verständlich genug, um nicht rauseditiert zu werden. Nun ist es natürlich plausibel, dass auch in englischsprachigen Redaktionen keine Lektoren mehr sitzen und/oder dass die Redewendung dort — wie im Falle von was der Doktor verordnet hat - als einwandfrei durchgewunken wurde, ohne idiomatisch dem Sprachgebrauch zu entsprechen. (Mit dem Unterschied natürlich, dass wir keine Entsprechung von was der Doktor verordnet haben, auch keine mit deutschen Bordmitteln.) Nun hatte Oettinger mit seinerm Spruch sicherlich nicht die Betonung einer etwaigen Passivität im Sinn — aber ein halbes Duzend Belege in diese Richtung machen ja auch keine Nebenbedeutung.
(Ich finde gerade keinen Beleg dafür, dass und von wem Oettinger seine Rede übersetzen ließ. Angesichts der Aussprachestrategie und der Tatsache, dass er seit der Schulzeit kein Englischunterricht mehr hatte, halte ich es aber für ausgeschlossen, dass er die Rede selbst geschrieben bzw. übersetzt hat.)
Der Erklärungsansatz einer Interferenz, also eines Einflusses der eigenen Muttersprache, wird durch einen Blick auf die Niederländer gestützt. Dort heißt die Redewendung in hetzelfde bootje zitten ‘im selben Boot sitzen’ und siehe da: Auf niederländischen Seiten finden sich fast 1.800 Treffer für sitting in the same boat, aber so gut wie keines für sitting in one boat. Dass es im Deutschen umgekehrt ist — in einem Boot sitzen ist häufiger, als im gleichen oder selben Boot, etwa jeweils im Verhältnis 3:1 — erklärt möglicherweise, warum Oettinger, sein Übersetzer oder die anderen Deutschen auch mal zur Formulierung in one boat greifen.
Und bitte, bitte keine Diskussion, dass man im Sinne der Schicksalsgemeinschaft nicht im gleichen, sondern nur im selben Boot sitzen kann. Die Zwiebelfisch-Regel: “Dinge können sich gleichen, aber nicht selben”. Die Realität: Die Varianten sitzen im gleichen Boot und sitzen im selben Boot sind bei Google nahezu gleichauf. Nehmen wir das Indikator für den Sprachgebrauch, dann sind beide Varianten synonym, ohne die Aussagekraft der Metapher ernsthaft zu gefährden.
We are all sitting in one boat ist ja auch deshalb zum geflügelten Wort geworden, weil die überwältigende Mehrheit der Meinung ist, es würde von Nicht-Deutschen nicht verstanden werden. Vielleicht hätte es aber auch so unglaublich dämlich ausgesehen, ihm “tsückolotschi” vorzuwerfen.