Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass Gebärdensprachen eine Art improvisiertes Scharadespiel sind, oder dass es sich irgendwie um eine mit Gesten buchstabierte Version von gesprochenen Sprachen handelt (selbst unter den Familienangehörigen vieler Gehörloser, und sogar unter meinen sprachwissenschaftlichen Kolleg/innen begegnet mir diese Idee immer wieder einmal). Jahrhundertelang wurden diese Sprachen deshalb ignoriert oder sogar gezielt unterdrückt, und mancherorts werden sie es noch immer.
Tatsächlich aber handelt es sich um natürliche menschliche Sprachen, die — vom Kommunikationskanal mit den ihm eigenen Besonderheiten abgesehen — denselben Grundprinzipien folgen, wie jede gesprochene Sprache auch. Gebärdensprachen entstehen unabhängig von gesprochenen Sprachen und entwickeln sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten (auch, wenn sie natürlich von den um sie herum gesprochenen Sprachen der Mehrheit beeinflusst werden).
Dass das Vokabular einer Gebärdensprache nicht das gleiche ist, wie das ihrer gesprochenen Kontaktsprache(n) liegt ja in der Natur der Sache, aber auch ihre Grammatik ist im Normalfall völlig anders. So hat die Deutsche Gebärdensprache in Hauptsätzen die Wortstellung Subjekt-Objekt-Verb, während das im Deutschen nur für Nebensätze gilt, während Hauptsätze die Wortstellung „Verb an zweiter Stelle“ haben.
Auch in ihrer historischen Entwicklung halten sich die Gebärdensprachen nicht an die Stammbäume der um sie herum gebrauchten gesprochenen Sprachen. Die französische Langue des Signes Française, zum Beispiel, ist eine der ältesten beschriebenen und anerkannten Gebärdensprachen, und sie hat eine ganze Familie von Gebärdensprachen hervorgebracht, die in Gesellschaften gesprochen werden, deren gesprochene Sprachen nicht sehr eng mit dem Französischen verwandt sind — z.B. die Nederlandse Gebarentaal, die American Sign Language und möglicherweise auch die Russkii Zhestovyi Yazyk.
Über jeden einzelnen der hier angesprochenen Aspekte könnte man ganze Blogeinträge schreiben, aber heute ist der kurze Sinn dieser langen Vorrede eigentlich der, auf ein interessantes neues Online-Wörterbuch hinzuweisen, das der Schweizerische Gehörlosenbund betreibt.
In der Schweiz werden gleich drei Gebärdensprachen gebraucht: die Schweizer Varietät der Langue des Signes Française (LSF-CH), die Schweizer Varietät der mit der LSF historisch verwandten Lingua Italiana dei Segni (LIS-CH) und die zumindest teilweise unabhängig entstandene Deutschschweizerische Gebärdensprache (DSGS).
Für diese drei Gebärdensprachen hat der Schweizerische Gehörlosenbund nun ein multimediales Wörterbuch erarbeitet, das am 30. April 2011 ist dieses Lexikon mit einem Umfang von zunächst 1000 Gebärden offiziell ans Netz gegangen ist. Das klingt für ein Wörterbuch vielleicht nach nicht sehr viel, aber man muss sich klar machen, dass zu jedem Wort ein Video der entsprechenden Gebärde gedreht werden muss, sodass die Erstellung des SGB-FSS-Wörterbuchs sehr aufwändig ist.
Das Wörterbuch soll nach und nach weiter ausgebaut werden, aber es ist auch in seiner aktuellen Form schon eine wertvolle Ressource, nicht nur für Pädagog/innen, Gebärdendolmetscher/innen und Sprachwissenschaftler/innen, sondern vor allem auch für Gehörlose und deren Familienangehörige.
Vor allem aber kann es interessierte Laien einen faszinierenden Einblick in diese andere, für viele Menschen fremde Form menschlicher Sprache geben. Man kann problemlos einen halben Tag damit verbringen, sich Gebärden anzusehen und über die Gebärdensprachen hinweg zu vergleichen, und dabei festzustellen, dass zwar häufig (wenigstens bei den Wörtern für konkrete Dinge) eine Motivation für die betreffende Gebärde erkennbar ist (z.B. eine Ähnlichkeit zum Bezeichneten), dass die drei Sprachen sich aber trotz dieser Motivation teilweise drastisch voneinander unterscheiden.
So besteht zum Beispiel die Gebärde für „Haus“ in der DSGS darin, in Brusthöhe mit beiden Händen den Umriss eines stilisierten Hauses nachzuzeichnen; in der LSF-CH tippt man dagegen in Brusthöhe die ausgestreckten Hände in Dachform zweimal kurz zusammen und in der historisch verwandten LIS-CH werden die Hände in Gesichtshöhe viermal schnell dachförmig zusammengebracht (das Lexikon erlaubt leider keine direkten Verlinkungen auf einzelne Gebärden, Sie müssen also selbst nach Haus, maison und casasuchen.
Auch Gebärdensprachen gehorchen eben letzten Endes dem Prinzip der Arbitrarität, das besagt, dass die Beziehung zwischen der Form eines Wortes (ob gesprochen oder gebärdet) und seiner Bedeutung durch soziale Konventionen festgelegt und deshalb im Prinzip beliebig ist.
Einen Kritikpunkt an dem Wörterbuch habe ich trotz aller Faszination: Das Wörterbuch erlaubt jeweils nur die Suche von Wörtern der jeweiligen Gebärdensprache über Wörter der gesprochenen Sprache aus demselben Sprachgebiet — wenn man ein deutsches Wort sucht, erhält man nur die Gebärde der DSGS, bei einem französischen die der LSF-CH und bei einem italienischen die der LIS-CH. Das mag in der Praxis dem häufigsten Suchwunsch entsprechen, aber warum sollte es nicht auch Situationen geben, in denen ein Französischsprecher eine Gebärde der italienischen oder eine Italienischsprecherin eine Gebärde der deutschschweizerischen Gebärdensprache nachschlagen möchte — ganz abgesehen davon, dass auch eine direkte Suchmöglichkeit von Gebärde zu Gebärde nützlich wäre. Die Beschränkung der Suche in der aktuellen Version des Wörterbuchs könnte außerdem der Idee weiter Vorschub leisten, dass Gebärdensprachen pantomimische Versionen gesprochener Sprachen sind.
Aber das soll nicht davon ablenken, dass das Wörterbuch einen faszinierenden und völlig neuen Einblick in die Sprachvielfalt der Schweiz bietet.
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]
Apropos Gebärdensprachen
Derzeit ist eine Petition in der Mitzeichnung, welche verlangt, dass die deutsche Gebärdensprache (DGS) den Status einer Minderheitensprache bekommt, Was sie de jure auf eine Stufe mit den gesprochenen Sprachen Deutsch, Friesisch, Sorbisch und Dänisch heben würde. Jeder möge sich selbst ein Bild machen, hier ist der link.
Innen
Warum bekommen in Ihrem Text eigentlich nur Pädagog/innen, Gebärdendolmetscher/innen und Sprachwissenschaftler/innen die weibliche Form? Müsste es konsequenterweise nicht auch Mensch/innen, Gehörlos/innen und Lai/innen heißen? Immerhin sind die auch grammatikalisch männlich und diskriminieren Person/er, deren biologisches Geschlecht nicht mit dem grammatikalischen übereinstimmt.
@ Caldrin
Da haben Sie aber die im Artikel genannten Familienangehörigen und die Laien vergessen, die bräuchten dann auch noch ein /innen!
Nachschlagen nur in einer Richtung
Was mich interessieren würde ist folgendes: Wie kann man eine Gebärde finden, die man gesehen hat, aber nicht versteht? Wenn jemand, der z.B. die Deutsche Gebärdensprache spricht, LSF oder DSGS lernen will, muss er doch Vokabeln nachschlagen können, ohne über die Schriftsprache gehen zu müssen.
Man bräuchte dazu wahrscheinlich drei Dinge: Eine Terminologie zur Beschreibung der Gebärden, eine Beschreibung jeder Gebärde und ein Stichwortverzeichnis (oder, realistischer, da die Einträge des Wörterbuchs sowieso primär als Video vorliegen und konsumiert werden: eine Suchfunktion) zum Finden von Beschreibungen, die Elemente der gesuchten Gebärde enthalten.
Innen
@ Caldrin
Die Beantwortung der Frage nach dem fehlenden ‑Innen ist bei Adjektiven sehr einfach: Im Plural ist nicht zu erkennen, ob er aus einem Maskulinum oder einem Femininum abgeleitet ist. Damit sind also Gehörlose und Angehörige automatisch geschlechtlos.
Schwieriger sind die Wörter, die für beide Geschlechter nur eine Form haben: der Mensch, die Person, der Laie, die Waise.
Ich selbst benutze gerne als Anrede in eMails folgende Form: “Liebes Mitglied der Gruppe …”