Die andere Sprachvielfalt der Schweiz

Von Anatol Stefanowitsch

Es ist ein weitver­bre­it­eter Irrglaube, dass Gebär­den­sprachen eine Art impro­visiertes Scha­rade­spiel sind, oder dass es sich irgend­wie um eine mit Gesten buch­sta­bierte Ver­sion von gesproch­enen Sprachen han­delt (selb­st unter den Fam­i­lien­ange­höri­gen viel­er Gehör­los­er, und sog­ar unter meinen sprach­wis­senschaftlichen Kolleg/innen begeg­net mir diese Idee immer wieder ein­mal). Jahrhun­derte­lang wur­den diese Sprachen deshalb ignori­ert oder sog­ar gezielt unter­drückt, und mancherorts wer­den sie es noch immer.

Tat­säch­lich aber han­delt es sich um natür­liche men­schliche Sprachen, die — vom Kom­mu­nika­tion­skanal mit den ihm eige­nen Beson­der­heit­en abge­se­hen — densel­ben Grund­prinzip­i­en fol­gen, wie jede gesproch­ene Sprache auch. Gebär­den­sprachen entste­hen unab­hängig von gesproch­enen Sprachen und entwick­eln sich nach eige­nen Geset­zmäßigkeit­en (auch, wenn sie natür­lich von den um sie herum gesproch­enen Sprachen der Mehrheit bee­in­flusst werden).

Dass das Vok­ab­u­lar ein­er Gebär­den­sprache nicht das gle­iche ist, wie das ihrer gesproch­enen Kontaktsprache(n) liegt ja in der Natur der Sache, aber auch ihre Gram­matik ist im Nor­mal­fall völ­lig anders. So hat die Deutsche Gebär­den­sprache in Haupt­sätzen die Wort­stel­lung Sub­jekt-Objekt-Verb, während das im Deutschen nur für Neben­sätze gilt, während Haupt­sätze die Wort­stel­lung „Verb an zweit­er Stelle“ haben.

Auch in ihrer his­torischen Entwick­lung hal­ten sich die Gebär­den­sprachen nicht an die Stamm­bäume der um sie herum gebraucht­en gesproch­enen Sprachen. Die franzö­sis­che Langue des Signes Française, zum Beispiel, ist eine der ältesten beschriebe­nen und anerkan­nten Gebär­den­sprachen, und sie hat eine ganze Fam­i­lie von Gebär­den­sprachen her­vorge­bracht, die in Gesellschaften gesprochen wer­den, deren gesproch­ene Sprachen nicht sehr eng mit dem Franzö­sis­chen ver­wandt sind — z.B. die Ned­er­landse Gebarentaal, die Amer­i­can Sign Lan­guage und möglicher­weise auch die Russkii Zhestovyi Yazyk.

Über jeden einzel­nen der hier ange­sproch­enen Aspek­te kön­nte man ganze Blo­gein­träge schreiben, aber heute ist der kurze Sinn dieser lan­gen Vorrede eigentlich der, auf ein inter­es­santes neues Online-Wörter­buch hinzuweisen, das der Schweiz­erische Gehör­losen­bund betreibt.

In der Schweiz wer­den gle­ich drei Gebär­den­sprachen gebraucht: die Schweiz­er Vari­etät der Langue des Signes Française (LSF-CH), die Schweiz­er Vari­etät der mit der LSF his­torisch ver­wandten Lin­gua Ital­iana dei Seg­ni (LIS-CH) und die zumin­d­est teil­weise unab­hängig ent­standene Deutschschweiz­erische Gebär­den­sprache (DSGS).

Für diese drei Gebär­den­sprachen hat der Schweiz­erische Gehör­losen­bund nun ein mul­ti­me­di­ales Wörter­buch erar­beit­et, das am 30. April 2011 ist dieses Lexikon mit einem Umfang von zunächst 1000 Gebär­den offiziell ans Netz gegan­gen ist. Das klingt für ein Wörter­buch vielle­icht nach nicht sehr viel, aber man muss sich klar machen, dass zu jedem Wort ein Video der entsprechen­den Gebärde gedreht wer­den muss, sodass die Erstel­lung des SGB-FSS-Wörter­buchs sehr aufwändig ist.

Das Wörter­buch soll nach und nach weit­er aus­ge­baut wer­den, aber es ist auch in sein­er aktuellen Form schon eine wertvolle Ressource, nicht nur für Pädagog/innen, Gebärdendolmetscher/innen und Sprachwissenschaftler/innen, son­dern vor allem auch für Gehör­lose und deren Familienangehörige.

Vor allem aber kann es inter­essierte Laien einen faszinieren­den Ein­blick in diese andere, für viele Men­schen fremde Form men­schlich­er Sprache geben. Man kann prob­lem­los einen hal­ben Tag damit ver­brin­gen, sich Gebär­den anzuse­hen und über die Gebär­den­sprachen hin­weg zu ver­gle­ichen, und dabei festzustellen, dass zwar häu­fig (wenig­stens bei den Wörtern für konkrete Dinge) eine Moti­va­tion für die betr­e­f­fende Gebärde erkennbar ist (z.B. eine Ähn­lichkeit zum Beze­ich­neten), dass die drei Sprachen sich aber trotz dieser Moti­va­tion teil­weise drastisch voneinan­der unterscheiden.

So beste­ht zum Beispiel die Gebärde für „Haus“ in der DSGS darin, in Brusthöhe mit bei­den Hän­den den Umriss eines stil­isierten Haus­es nachzuze­ich­nen; in der LSF-CH tippt man dage­gen in Brusthöhe die aus­gestreck­ten Hände in Dachform zweimal kurz zusam­men und in der his­torisch ver­wandten LIS-CH wer­den die Hände in Gesicht­shöhe vier­mal schnell dachför­mig zusam­menge­bracht (das Lexikon erlaubt lei­der keine direk­ten Ver­linkun­gen auf einzelne Gebär­den, Sie müssen also selb­st nach Haus, mai­son und casasuchen.

Haus in den schweizer Gebärdensprachen

Haus in den schweiz­er Gebärdensprachen

Haus in den schweizer Gebärdensprachen

Haus in den schweiz­er Gebärdensprachen

Auch Gebär­den­sprachen gehorchen eben let­zten Endes dem Prinzip der Arbi­trar­ität, das besagt, dass die Beziehung zwis­chen der Form eines Wortes (ob gesprochen oder gebärdet) und sein­er Bedeu­tung durch soziale Kon­ven­tio­nen fest­gelegt und deshalb im Prinzip beliebig ist.

Einen Kri­tikpunkt an dem Wörter­buch habe ich trotz aller Fasz­i­na­tion: Das Wörter­buch erlaubt jew­eils nur die Suche von Wörtern der jew­eili­gen Gebär­den­sprache über Wörter der gesproch­enen Sprache aus dem­sel­ben Sprachge­bi­et — wenn man ein deutsches Wort sucht, erhält man nur die Gebärde der DSGS, bei einem franzö­sis­chen die der LSF-CH und bei einem ital­ienis­chen die der LIS-CH. Das mag in der Prax­is dem häu­fig­sten Such­wun­sch entsprechen, aber warum sollte es nicht auch Sit­u­a­tio­nen geben, in denen ein Franzö­sis­chsprech­er eine Gebärde der ital­ienis­chen oder eine Ital­ienis­chsprecherin eine Gebärde der deutschschweiz­erischen Gebär­den­sprache nach­schla­gen möchte — ganz abge­se­hen davon, dass auch eine direk­te Such­möglichkeit von Gebärde zu Gebärde nüt­zlich wäre. Die Beschränkung der Suche in der aktuellen Ver­sion des Wörter­buchs kön­nte außer­dem der Idee weit­er Vorschub leis­ten, dass Gebär­den­sprachen pan­tomimis­che Ver­sio­nen gesproch­en­er Sprachen sind.

Aber das soll nicht davon ablenken, dass das Wörter­buch einen faszinieren­den und völ­lig neuen Ein­blick in die Sprachvielfalt der Schweiz bietet.

 

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

Dieser Beitrag wurde unter Altes Sprachlog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

5 Gedanken zu „Die andere Sprachvielfalt der Schweiz

  1. Patrick Schulz

    Apro­pos Gebärdensprachen
    Derzeit ist eine Peti­tion in der Mitze­ich­nung, welche ver­langt, dass die deutsche Gebär­den­sprache (DGS) den Sta­tus ein­er Min­der­heit­en­sprache bekommt, Was sie de jure auf eine Stufe mit den gesproch­enen Sprachen Deutsch, Friesisch, Sor­bisch und Dänisch heben würde. Jed­er möge sich selb­st ein Bild machen, hier ist der link.

  2. Caldrin

    Innen
    Warum bekom­men in Ihrem Text eigentlich nur Pädagog/innen, Gebärdendolmetscher/innen und Sprachwissenschaftler/innen die weib­liche Form? Müsste es kon­se­quenter­weise nicht auch Mensch/innen, Gehörlos/innen und Lai/innen heißen? Immer­hin sind die auch gram­matikalisch männlich und diskri­m­inieren Person/er, deren biol­o­gis­ches Geschlecht nicht mit dem gram­matikalis­chen übereinstimmt.

  3. gnaddrig

    @ Caldrin
    Da haben Sie aber die im Artikel genan­nten Fam­i­lien­ange­höri­gen und die Laien vergessen, die bräucht­en dann auch noch ein /innen!

  4. gnaddrig

    Nach­schla­gen nur in ein­er Richtung
    Was mich inter­essieren würde ist fol­gen­des: Wie kann man eine Gebärde find­en, die man gese­hen hat, aber nicht ver­ste­ht? Wenn jemand, der z.B. die Deutsche Gebär­den­sprache spricht, LSF oder DSGS ler­nen will, muss er doch Vok­a­beln nach­schla­gen kön­nen, ohne über die Schrift­sprache gehen zu müssen.
    Man bräuchte dazu wahrschein­lich drei Dinge: Eine Ter­mi­nolo­gie zur Beschrei­bung der Gebär­den, eine Beschrei­bung jed­er Gebärde und ein Stich­wortverze­ich­nis (oder, real­is­tis­ch­er, da die Ein­träge des Wörter­buchs sowieso primär als Video vor­liegen und kon­sum­iert wer­den: eine Such­funk­tion) zum Find­en von Beschrei­bun­gen, die Ele­mente der gesucht­en Gebärde enthalten.

  5. Wentus

    Innen
    @ Caldrin
    Die Beant­wor­tung der Frage nach dem fehlen­den ‑Innen ist bei Adjek­tiv­en sehr ein­fach: Im Plur­al ist nicht zu erken­nen, ob er aus einem Maskulinum oder einem Fem­i­ninum abgeleit­et ist. Damit sind also Gehör­lose und Ange­hörige automa­tisch geschlechtlos.
    Schwieriger sind die Wörter, die für bei­de Geschlechter nur eine Form haben: der Men­sch, die Per­son, der Laie, die Waise.
    Ich selb­st benutze gerne als Anrede in eMails fol­gende Form: “Liebes Mit­glied der Gruppe …”

Kommentare sind geschlossen.