Ihr kennt doch sicher “das andere Links” – aber wusstet ihr, dass es auch mal einen “anderen Mai” gab? Also known as Juni.
Diese Benennung wird logischer, wenn man weiß, dass anderer nicht immer nur seine heutige Bedeutung besaß, die ja so ungefähr ‘nicht dieser’ ist. Schaut mal diese Bibelstellen aus dem ersten Buch Genesis von ca. 1466 (Straßburg) und 1494 (Lübeck) an:
Bei Luther heißt die entsprechende Stelle:
7 Da machet Gott die Feste / vnd scheidet das wasser vnter der Festen / von dem wasser vber der Festen / Vnd es geschach also.
8 Vnd Gott nennet die Festen / Himel. Da ward aus abend vnd morgen der ander Tag.
Für die nicht ganz so Bibelfesten noch deutlicher wird es dann, wenn man sich das Inhaltsverzeichnis der Lutherbibel anschaut, oder auch sowas hier:
Mhm, damals war das ander auch ‘das Zweite’. Diese Bedeutung steckt noch in einigen Bildungen wie anderthalb ‘das zweite halb’ oder selbander ‘zu zweit’. Zugegeben, letzteres ist nicht mehr so furchtbar gebräuchlich, aber es findet sich im DWDS-Kernkorpus, das das 20. Jahrhundert abdeckt, siebenmal zwischen 1904 und 1932, z.B. hier:
Der stellvertretende Kompanieführer und der Webel tanzen selbander einen schönen Krakowiak. (Tucholsky, Unterwegs 1915, in: Die Schaubühne 30.08.1917)
Das andere Geschlecht und die Nordgermania
Die Grimms verweisen auch auf einige Wendungen mit der alten Bedeutung, so das andere Geschlecht als Bezeichnung für Frauen, heute wohl am bekanntesten als deutscher Titel von de Beauvoirs Le Deuxième Sexe (frz. deuxième ‘zweiter’). Auf Englisch heißt das Buch übrigens The Second Sex, auf Italienisch Il secondo sesso, aber in Skandinavien wird’s lustig:
Dänisch: Det andet køn
Norwegisch: Det annet kjønn
Schwedisch: Det andra könet
Sieht aus wie im Deutschen, ist aber nicht ganz so: Die nordgermanischen Sprachen haben die alte Bedeutung ‘zweite/r/s’ wesentlich besser bewahrt. Das Wort kann dort sowohl die Ordinalzahlbedeutung als auch die allgemeinere Bedeutung ‘andere/r/s’ besitzen. Wir hingegen haben die Ordinalzahlbedeutung eliminiert, indem wir eine neuere Ableitung vom Zahlwort zwei gebildet haben. Das ging, laut Pfeifer, so im 14. Jahrhundert los, brauchte aber zur Durchsetzung eine ganze Weile, wie man an den Bibeln sieht.
Im Schwedischen weicht die Ordinalzahl also vom einfachen Zahlwort ab:
ett, | två, | tre, | fyra, | fem, | sex, | sju, | åtta, | nio, | tio |
× | |||||||||
första, | andra, | tredje, | fjärde, | femte, | sätte, | sjunde, | åttonde, | nionde, | tionde |
Und im Deutschen haben wir aufgeräumt:
eins, | zwei, | drei, | vier, | fünf, | sechs, | sieben, | acht, | neun, | zehn |
↓ | |||||||||
erster, | zweiter, | dritter, | vierter, | fünfter, | sechster, | siebter, | achter, | neunter, | zehnter |
Mai und Juni. Oder April?
Und wie war das nun mit dem anderen Mai? Die Grimms sagen:
mai, der fünfte monat des jahres, in alten quellen auch der erste mai, während der ander mai den juni bezeichnet.
Ein Beispiel dazu:
also was man holz zu kalköfen hawen und fellen will, das musz gescheen in dem meien oder auf das lengst im andern meien. (Nürnberg, 1464–1475)
‘was man an Holz für Kalköfen hauen und fällen will, das muss im Mai oder spätestens im anderen Mai geschehen’ (meine Übersetzung)
Dazu passt auch die Benennung des Juni als Nachmai – die Grimms verweisen auf Schmellers Bayerisches Wörterbuch, wo es folgenden Beleg gibt:
In dem maien soll er minne pflegen, in dem nachmaien ist er siech. (1377, Augsburger Diocese)
‘Im Mai soll er sich der Liebe widmen, im Nachmai ist er krank’ (meine Übersetzung)
Und Schmeller hat dann noch einen spannenden anderen Hinweis: In manchen slawischen Sprachen gibt es eine paarweise Monatsbenennung mit ‘klein’ (mali) und ‘groß’ (veliki). So ist im Slowenischen eine andere, wohl ältere Bezeichnung für April mali traven und für Mai veliki traven. Und auf der Suche ebenfalls herausgefunden: Der mali srpan ist der Juli und der veliki srpan der August. Alle Monate in einer Tabelle gibts hier. Da sind auch die Namen für das Prekmurische aufgeführt, wo die Benennung leicht verlagert ist: mali tráven ist der März, velki tráven der April.
Wenn mich nicht alles täuscht, stammen die Monatsnamen von trava ‘Gras’ und srp ‘Sichel’. Dass der “Grasmonat” variieren kann, ist übrigens kein Wunder, sondern wahrscheinlich klimabedingt und auch im Deutschen so. Da gab es ihn früher nämlich auch:
benennung des monats, in dem das gras sprieszt (…), je nach geographischer lage des aprils oder mais.
Und so schließt sich der Kreis.
Quellen:
- Grimm, Jacob und Wilhelm (1854–1960): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig.
- Pfeifer, Wolfgang (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2. Aufl. 2 Bde. Berlin.
- Ritte, Hans (1998): Schwedische Grammatik. München.
- Schmeller, Johann Andreas (1872): Bayerisches Wörterbuch. Bearb. von Georg Karl Frommann. 2. Aufl. 2 Bde. München.
sehr interessanter Artikel! Ich frage mich allerdings, ob deine Übersetzung von anderthalb korrekt ist. Ich hatte immer geglaubt, es heißt so viel wie: “das Zweite zur Hälfte” oder eben wie die Uhrzeit: “halbzwei”
Hi Niklas, danke für die Rückmeldung! Die Bedeutungsangabe stammt aus Pfeifers Etymologischem Wörterbuch und ich denke, dass damit schon das gemeint ist, was Du sagst, nur dass Du es eleganter ausgedrückt hast. Der Vergleich mit der Uhrzeit ist super, das ist mir gar nicht aufgefallen.
Im DWB ist klar erkennbar, wie es gemeint ist, da mehr Kontext:
Dort werden sogar dritthalb ‘zweieinhalb’, vierthalb ‘dreieinhalb’ etc. angeführt.
Ich kenne das Wort auch in der Bedeutung “nächste” (z.B. aus Märchen, “Am anderen Tag” = “Am nächsten Tag”), habe es nur gelegentlich in Texten aus dem 18. Jahrhundert als Synonym für “zweite” gesehen. Seitdem aber habe ich den Verdacht gehegt, dass es ein Übrigbleibsel des Duals ist. Die Silbe ‑ter- kommt nämlich in einigen lateinischen und altgriechischen Adjektiven vor, wo es ursprünglich eine Zweiergruppe bezeichntete. (Lat. alter, uter, neuter; Griech. amphoteroi, poteros, allotrios. In Griechisch wird ‑ter- auch für die Bildung des Komparitivs gebraucht.)
Ich habe diese Behauptung in einer Griechischvorlesung gehört und kann deshalb nicht viel genaueres darüber berichten; ich habe auf der Schnelle nur folgende Bestätigung gefunden: “The adjectives uter and neuter are not duals, but singulars with an ending ‑ter that associates them with the dual.” (Aus: Bell, Andrew J.,The Latin Dual and Poetic Diction, London 1923, S. 28; es gibt mehr dazu im folgenden Kapitel des Buches)
Hallo Brenda, leider bin ich jenseits des Germanischen sprachgeschichtlich so gar nicht zuhause, daher kann ich das nicht beurteilen.
Der Kluge gibt als indogermanische Wurzel *antero- oder *ontero- an, dabei handelt es sich wohl um eine “Gegensatzbildung auf *-tero- zu einem Pronominalstamm”. Die Grimms sprechen von einer Komparativbildung. Etymonline hat mehr Infos zur idg. Form:
Zum Thema am anderen Tag: Stimmt, das kenne ich auch (vertrauter klingt noch am anderen Morgen). Witzig, dass es im Englischen grade umgekehrt ist, da liegt the other day in der Vergangenheit.
Eben habe ich im obigen Etymonlineeintrag gesehen, dass das aber nicht immer so war — ursprünglich war es wohl auch da der nächste Tag, das wechselte dann zum vorhergehenden Tag und kann heute ein nahe zurückliegender Tag (gestern, vorgestern) sein.
Wäre auch mal spannend zu schauen, wann und wie das passiert ist.
Als im Mai geborener muss ich die Feststellung, dass es noch einen Mai geben könnte, natürlich begrüßen. Nochmal Geburtstag, nochmal Geschenke 😉 Hauptsache, ich altere dann nicht auch schneller.
Mir ist bei den Uhrzeiten eingefallen, dass früher (man findet es z.B. auf alten Theaterzetteln in Programmheften) Uhrzeitangeben wie “7 1/2 Uhr abends” üblich waren. Ich tippe ja, dass das “19.30” und nicht “18.30” bedeutet, aber hat da jemand Handfesteres als meine Vermutung? Ist ja interessant, dass das neben “halb acht” existiert hat.
Hmhm, es gab sowohl 1/2 7 als auch 7 1/2 — das erste ‘halb sieben’, das zweite ‘halb acht’. Ich habe gestern mal ein paar Belege gesucht, aus denen die Bedeutung so recht klar hervorgeht, reiche ich demnächst noch nach 🙂
Und einen schönen Geburtstagsmonat!
Im Englischen bedeutet aber “half seven” etwas anderes, nämlich “halb acht”. Überhaupt ist es vielen Ausländern schwer zu vermitteln, warum wir “halb acht” sagen. Ganz schwierig wird es bei “viertel acht” und “dreiviertel acht.
Bei Max Frisch taucht “selbander” ebenfalls auf; so alt ist seine Literatur nun auch wieder nicht. Das letzte Mal ist mir das, glaube ich, im Stiller aufgefallen. Das waere dann 1954. Vielleicht ist selbander im Schweizerischen noch ueblicher?