So, der Anglizismus des Jahres 2010 ist gekürt und heute geleakt worden. Das möchte ich zum Anlass nehmen, ein bißchen über Sprachkontakt nachzudenken und zu zeigen, welche Formen und Intensitätsgrade es dabei geben kann. Um es schon mal vorwegzunehmen: Das Deutsche kann beim Kontakt eigentlich einpacken. Wirklich viel haben wir nicht zu bieten.
Kulturkontakt bringt Sprachkontakt
Sprachkontakt ist eine natürliche Begleiterscheinung von Kulturkontakt und je intensiver dieser Kulturkontakt, desto intensiver können sich auch die beteiligten Sprachen beeinflussen. Diese Kontaktsituation ist meist irgendwie asymmetrisch, das heißt eine der Sprachen hat mehr Prestige, wird von mehr Menschen gesprochen, wird von den Menschen mit den gefährlicheren Waffen gesprochen o.ä. – da gibt es einen ganzen Haufen mehr oder weniger voneinander abhängiger Faktoren. Und damit auch eine Warnung vorweg: Sprachkontakt ist weitaus komplexer, als ich ihn hier darstelle, es gibt eine Vielzahl von Kontaktszenarien mit den wildesten Resultaten.
Änderungswillig: Wort- und Namenschatz
Es lässt sich grob sagen, dass eine Sprache Teilbereiche hat, die aufnahmebereiter für Neuerungen sind und welche, die sich stärker sträuben. Einer dieser sehr aufnahmebereiten Teile ist der Wortschatz (das “Lexikon”). Hat eine anderssprachige Kultur ein nützliches Ding, das man selbst nicht besitzt, dann will man nicht nur das Ding haben, nein, man will es auch benennen können. Dazu gibt es einige Strategien, die sich in lexikalische und semantische Entlehnungen teilen lassen.
Bei lexikalischen Entlehnungen schnappt man sich tatsächlich das Wort aus der anderen Sprache und integriert es mehr oder weniger in die eigene (wie leaken). Semantische Entlehnungen sind nicht so gut sichtbar, weil eigenes Wortmaterial genutzt wird, die Bildung aber von der Fremdsprache inspiriert ist (wie die Übersetzung ent|freunden zu to un|friend).
Ganz besonders entlehnungsfreudig ist man übrigens, was den Namenschatz (das “Onomastikon”) betrifft. Während die Wörter des deutschen Kernwortschatzes noch immer zu weiten Teilen bis ins Germanische (und weiter) zurückverfolgt werden können, verhält es sich mit den Namen ganz anders. Die in germanischer Zeit vorherrschenden Namen sind heute völlig passé: Siegfried, Kriemhild, Edeltraut, Hildegard, Ingeborg und Dietrich tauchen schon lange nicht mehr in den Top 10 der Rufnamen auf. Die meisten der heute vergebenen Vornamen sind “fremd”. Entweder schon lange, wie die christlichen Rufnamen (Katharina, Johannes) oder erst seit neuerer Zeit (Charlotte, Dustin, Leon, Lia). Unser Rufnameninventar wird permanent erneuert. Dabei bedienen wir uns schamlos bei prestigeträchtigen Fremdsprachen wie Französisch und Englisch.
Aber auch im Wortschatz wird nicht lange gefackelt. Neues Ding, neues Wort, fertig. Mit der Zeit wird das alles integriert oder, wenn es sich nicht bewährt, wieder vergessen. Viele der Konzepte kommen uns heute gar nicht mehr fremd vor, und die zugehörigen Wörter erst recht nicht.
Allerdings entlehnen wir normalerweise wirklich nur Wörter für neue Dinge, unser Basisvokabular (sowas wie Verwandtschaftsbezeichnungen für die Kernfamilie, Körperteile etc.) bleibt unangetastet.
Erfolgreiche Integration
In voralthochdeutscher Zeit hatten wir einen ziemlich intensiven Kulturkontakt mit den Römern, die uns technologisch in fast jeder Hinsicht überlegen waren und auch eine ganze Menge interessante Pflanzen kultiviert hatten. Entsprechend finden sich im Deutschen heute zum Beispiel:
Pfeil (< pilum), Kampf (< campus), Straße (< (via) strata), Wein (< vinum), Kohl (< caulis), Rettich (< radix), Frucht (< fructus), Pflanze (< planta), Ziegel (< tegula), Mauer (< murus), Fenster (< fenestra), Küche (< cocina), Kessel (< catillus), Pfanne (< panna), Socke (< soccus), Arzt (< archiater), Pflaster (< emplastrum), …
Widerspenstrig: Die Strukur
Neben dem Wortschatz hat eine Sprache aber auch noch ein Skelett, nämlich die Grammatik. Sie setzt sich zusammen aus der (Flexions)Morphologie (wie Wörter konjugiert und dekliniert werden), der Phonologie (welche Laute die Sprache benutzt, wie sie sie zu Silben zusammensetzt) und der Syntax (wie Wörter und Wortgruppen zu Sätzen verknüpft werden).
Hier sind sprachkontaktbedingte Veränderungen viel schwieriger zu bewirken. Es geht schon. Zum Beispiel dürfte das Hochdeutsche heute den Laut p eigentlich nur noch in der Kombination sp besitzen – in allen anderen Positionen wurde er während der 2. Lautverschiebung entweder zu pf oder zu f verschoben. Trotzdem haben wir ihn und betrachten ihn als vollwertiges Mitglied des deutschen Phoneminventars. Er kam einfach in so vielen Entlehnungen vor, dass er irgendwann wieder ganz normal wurde. (Und im mitteldeutschen Raum war er nie völlig verschwunden, aber darauf will ich hier lieber nicht eingehen.)
Veränderungen in der Grammatik kommen in den meisten Fällen dadurch zustande, dass sich in einem Teilbereich etwas ändert und dadurch andere Teilbereiche beeinflusst werde: Man vereinfacht die Aussprache, verliert dadurch aber eine wichtige Endung, also ersetzt man die durch ein neues Wörtchen und das wiederum … Sie schubsen sich quasi dauernd hin und her, man spricht von innersprachlichen Faktoren für Sprachwandel.
Damit außersprachliche Faktoren, und damit sind auch Fremdsprachen gemeint, einen Einfluss auf diesen Sprachkern nehmen können, muss der Kontakt sehr stark sein.
Entlehnungshierarchie
In der Sprachtypologie (meiner zweiten geistigen Heimat neben der deutschen Sprachgeschichte) liebt man Hierarchien, und natürlich gibt es da auch mindestens eine für Einflüsse von Sprachkontakt. Solche Hierarchien sind nicht als absolut gültig zu betrachten, aber sie bilden starke Tendenzen ab. Ich beziehe mich hier auf eine borrowing scale von Thomason (2001:70–71), die vier Stufen unterscheidet.
Auf der ersten Stufe herrscht nur sehr geringer Sprachkontakt: Die Leute, die Neues entlehnen, müssen die Gebersprache gar nicht unbedingt fließend sprechen, und überhaupt gibt es nur wenige fließend zweitsprachige Sprecher. Entprechend zeigt sich:
- lexikalisch: Es wird kein Basisvokabular entlehnt, sondern Wörter für ungewöhnlichere/seltenere Dinge, Neuerungen etc. Dabei nimmt man besonders Substantive, aber auch Verben, Adjektive oder Adverbien. Das sind alles sogenannte “Inhaltswörter”, die nicht genutzt werden, um grammatische Beziehungen o.ä. auszudrücken. Man kann sie also ziemlich problemlos in Äußerungen einbauen, ohne dadurch die Struktur zu verändern.
- strukturell: Hier passiert noch gar nichts.
Die zweite Stufe zeigt schon etwas intensiveren Kontakt. Der äußert sich darin, dass die Leute, die Neues entlehnen, die Gebersprache einigermaßen fließend beherrschen. Sie machen aber wahrscheinlich noch die Minderheit der Sprechergemeinschaft aus. Hier finden sich zusätzlich zu Stufe 1:
- lexikalisch: Man entlehnt jetzt auch Funktionswörter (z.B. Konjunktionen), mit denen man grammatische Beziehungen im Satz ausdrückt, aber noch immer kein Basisvokabular.
- strukturell: Es zeigen sich erste Einflüsse in der Struktur, zum Beispiel indem man in Fremdwörtern Laute ins Sprachsystem aufnimmt, die vorher nicht zur Bedeutungsunterscheidung genutzt wurden (wie das oben erwähnte p). Beim Satzbau bekommen oft Strukturen mehr Gewicht, die denen der Gebersprache gleichen, auch wenn sie vorher in der Nehmersprache eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben.
Für die dritte Stufe braucht es noch mehr Zweisprachige, außerdem müssen verschiedene soziale Faktoren (z.B. eine positive Einstellung gegenüber der Gebersprache/-kultur) die Entlehnung begünstigen. Dann gibt es
- lexikalisch: noch mehr Funktionswörter, und jetzt auch erstmals Basisvokabular (sogar so geschlossene Wortgruppen wie Pronomen und Zahlwörter). Das mit den Pronomen gab es zum Beispiel bei they im Englischen, das wohl aus dem Altnordischen stammt. Sprecher von Sprachen mit sehr komplexen Höflichkeitssystemen bedienen sich gerne mal bei englischen Pronomen, um soziale Fettnäpfchen zu umgehen, so z.B. das Thai mit I und you.
- strukturell: Neue bedeutungsunterscheidende Laute können jetzt nicht mehr nur in den Fremdwörtern auftauchen, sondern auch im nativen Wortschatz. Und umgekehrt können solche Phoneme aus dem nativen Wortschatz verschwinden, wenn die Gebersprache sie nicht besitzt. Auch Betonungsmuster können sich verändern, es können unter fremdem Einfluss neue Regeln eingeführt werden (wie z.B. die Auslautverhärtung). Die Satzstellung kann umgebaut werden (z.B. von Verb vor Objekt zu Objekt vor Verb) und auf Wortebene ist es sogar möglich, dass Flexionsendungen übernommen werden.
Die vierte Stufe ist die, die den intensivsten Kontakt voraussetzt. Hier ist Zweisprachigkeit unter den Sprechern der Nehmersprache weit verbreitet und es gibt eine Menge begünstigende soziale Faktoren.
- lexikalisch: ist dann fast nichts mehr ausgeschlossen, es wird ganz massiv entlehnt.
- strukturell: ist auch alles möglich. Die Nehmersprache kann sich typologisch komplett verändern und ich zähle jetzt lieber keine Beispiele auf, weil ich dazu zu viel erklären müsste. Aber glaubt mir: Es kann ganz, ganz krass werden.
Die Hierarchie berücksichtigt also, wie gut die Sprecher die Gebersprache beherrschen. Je mehr Zweisprachigkeit, desto leichter sind fremde Bestandteile integrierbar, auch wenn sie eher kompliziert einzubeziehen sind. Wichtig ist aber, dass der starke Kontakt zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für tiefgreifende strukturelle Entlehnung ist.
Thomason (2003:689) führt zum Beispiel das Montana Salish (USA) an, dessen Mini-Sprechergemeinschaft (ca. 70 Leute) komplett zweisprachig ist, schon seit dem 19. Jahrhundert Kontakt zum Englischen hat und einem enormen Anpassungsdruck ausgesetzt ist: Zu siebzigst kann man ja wirtschaftlich und politisch nicht viel ausrichten. Trotzdem ist der Einfluss des Englischen auf die Sprache sehr gering, es finden sich gerade mal ein paar Lehnwörter.
Der Fall Deutsch
Will man das Deutsche auf einer solchen Hierarchie einordnen, dann stellt sich wahrscheinlich schnell Ernüchterung ein: Mit entlehntem Basiswortschatz ist noch nichts, ganz zu schweigen von härteren Sachen. Wir bedienen uns bevorzugt bei Substantiven (App, Whistleblower) und Verben (leaken, liken), zu Adjektiven sagen wir auch nicht nein, aber das ist schon etwas seltener. Strukturell zeigt sich ebenfalls nichts Spannendes. Man könnte höchstens ein bißchen über die Pluralmorphologie sprechen, wo wir den s-Plural ziemlich erfolgreich einsetzen – aber ob das wirklich allein dem Englischen geschuldet ist, ist noch nicht abschließend geklärt.
Verglichen mit anderen Sprachen hat das Deutsche momentan einfach keinen besonders ausgeprägten Sprachkontakt. Die meisten Muttersprachler wachsen einsprachig auf. Die Beherrschung des Englischen nimmt zwar zu, spielt aber doch bei weitem keine so große Rolle wie für stärkere strukturelle Veränderungen nötig.
Kurz und gut: Wir sind ziemlich langweilig. Und kein bißchen in “Gefahr”.
Deutsch anderswo
Wie Deutsch aussehen könnte, wenn es wirklich starkem Sprachkontakt unterworfen wäre, kann man sich aber trotzdem sehr gut vorstellen, und zwar indem man sich deutsche Sprachinseln anschaut. Das sind Sprechergemeinschaften, die nicht mit dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet (D, A, CH) verbunden sind. Ich habe da mal für ein Referat eine Karte gebastelt, basierend auf Angaben aus Riehl (2004):
Die kursiv gesetzten Länder in Europa beherbergen sogenannte “Grenzminderheiten”, die durch Grenzänderungen heute von einer anderen Sprache überdacht werden, geografisch aber an das geschlossene deutsche Sprachgebiet angrenzen. In den restlichen Ländern gibt es überall deutsche Sprachinseln, teilweise habe ich die Bevölkerungsgruppen oder Sprachbezeichnungen angefügt.
Jede dieser Sprachinseln hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Faktoren und Kontaktsprachen, sodass man eine Vielzahl von Phänomenen beobachten kann. (Alle folgenden Beispiele nach Riehl 2004.)
So hat das Ungarische eine ganze Menge von Kasus wie zum Beispiel den Illativ mit der Bedeutung ‘in etwas hinein’. Im Ungarndeutschen hat man das übernommen, hat aber gleichzeitig auch noch die ursprüngliche, deutsche Struktur beibehalten, sodass Sätze entstanden wie
Tuars naj a Suppába. ‘Tu es in die Suppe hinein (wörtl. Tu’s rein die Suppe-hinein)’
Im Pennsylvania Dutch hat sich nach dem Muster des englischen to be X‑ing eine Verlaufsform gebildet:
Er ist in die Schtadt an gehe nau. (engl. Vorbild: He is going to town now.)
Und das Walserdeutsche hat durch italienischen Einfluss Personalpronomen entwickelt, die nach dem Verb stehen und mit ihm verschmelzen. (Im Italienischen nutzt man Personalpronomen nur zur Betonung und lässt sie normalerweise weg, man kann alle grammatischen Informationen einfach an der Konjugationsendung ablesen. Das wird hier quasi nachgebaut.)
finne=ber indsch em liskam ‘Wir treffen uns im (Hotel) Lyskamm (wörtl. Finden=wir uns im Lyskamm)’
Mehr spannende Beispiele gibt’s in der wirklich sehr zugänglichen und schön zu lesenden Einführung von Riehl (Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. Tübingen 2004).
Und der arme Anglizismus des Jahres?
Ja, ich will nicht behaupten, dass der völlig irrelevant und uninteressant sei und ich hatte eine Menge Spaß mit ihm. Aber – er ist halt doch nur ein Wort. Und eine Sprache ist nicht die Summe ihrer Wörter. Lange, lange, lange nicht.
Pingback: Geht euch mal bilden « Friedensfisch schwimmt weiter.
Das mit dem nachgestellten/verschmelzenden Personalpronomen überrascht jetzt nur bedingt, das hör ich in Bayern jeden Tag (gemma, pack ma’s, wia samma? guad samma, …). Geht also auch ohne Italien.
Danke für die Anmerkung 🙂
Ja, etwas Ähnliches gibt es im Deutschen durchaus auch ohne Sprachkontakt, allerdings nur dann, wenn das Personalpronomen sowieso schon nach dem Verb steht. Das heißt im Bairischen taucht es meines Wissens (ich habe allerdings nur ein sehr rudimentäres Wissen über Bairisch) zum Beispiel in Fragesätzen auf (Gemma no? aus einer Vorform wie Gehn mir no?), oder sonst in Konstruktionen, bei denen auch die standardsprachliche Sytax das Personalpronomen nachstellt.
Das Besondere am Walserdeutschen ist nun, dass diese nachgestellten Personalpronomen generalisiert wurden, auch auf Sätze, deren Satzstellung das ursprünglich nicht erlaubte, wie im Beispielsatz des Blogbeitrags. (Das ist ja ein normaler Aussagesatz, bei dem die Satzstellung im Standard Subjekt-Verb ist.)
Der Ansatz zur Klitisierung (also der Verschmelzung von Verb und Pronomen) ist im Deutschen also generell als Möglichkeit vorhanden, im Walserdeutschen konnte er aber, höchstwahrscheinlich durch den Sprachkontakt, wesentlich weiter vorangetrieben werden.
Naja, „mia samma ja ned naarisch“ gibt es schon auch, aber das Walserdeutsche macht das wohl tatsächlich systematischer. 😉