Zum Unwort des Jahres

Von Anatol Stefanowitsch

Das Unwort des Jahres ist aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht meis­tens völ­lig unin­ter­es­sant: Die Jury um Horst Dieter Schloss­er betreibt damit auss­chließlich Poli­tik­er­schelte und Gesellschaft­skri­tik. Und auch damit bleibt die Jury typ­is­cher­weise eher ober­fläch­lich, weil sie sich stärk­er von aktuellen Ereignis­sen als von langfristi­gen Entwick­lun­gen bee­in­flussen lässt. Man sehe sich nur die „Unwörter“ der let­zten Jahre an: Ent­las­sung­spro­duk­tiv­ität, frei­willige Aus­reise, Herd­prämie, notlei­dende Banken, betrieb­srats­verseucht. Keins dieser Wörter spielt heute noch irgen­deine Rolle im poli­tis­chen Diskurs (wenn sie es über­haupt je getan haben).

Mit dem diesjähri­gen Unwort, alter­na­tiv­los, haben Horst Dieter Schloss­er und seine Mitjuroren aber aus mein­er Sicht ganz ordentliche Arbeit geleis­tet. Die Jury begrün­det die Entschei­dung wie folgt:

Das Wort sug­geriert sach­lich unangemessen, dass es bei einem Entschei­dung­sprozess von vorn­here­in keine Alter­na­tiv­en und damit auch keine Notwendigkeit der Diskus­sion und Argu­men­ta­tion gebe. Behaup­tun­gen dieser Art sind 2010 zu oft aufgestellt wor­den, sie dro­hen, die Poli­tikver­drossen­heit in der Bevölkerung zu ver­stärken. (Zitiert nach tagesschau.de)

Tat­säch­lich lässt sich nicht schon seit eini­gen Jahren eine Zunahme dieses Wortes im poli­tis­chen Diskurs beobacht­en, selb­st, wenn wir uns auf Bun­de­spoli­tik­er konzen­tri­eren: Schon 2008 haben sowohl Frank-Wal­ter Stein­meier als auch Wolf­gang Schäu­ble das Ret­tungspaket für die „notlei­den­den Banken“ als alter­na­tiv­los beze­ich­net. Im Jahr 2009 hat Angela Merkel es auf die Ver­staatlichung der Hypo­Re­alEstate und auf den Afghanistanein­satz angewen­det und auch Rain­er Arnold und Karl-Theodor Maria Niko­laus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Frei­herr von und zu Gut­ten­berg haben es in diesem Zusam­men­hang ver­wen­det. Außer­dem hat Annette Scha­van die Mod­u­lar­isierung von Stu­di­engän­gen nach dem Bologna-Mod­ell so bezeichnet.

In diesem Jahr dann waren unter anderem alter­na­tiv­los: die Rück­hol­ung von Atom­abfällen (Sylvia Kot­ting-Uhl), der Saal-Ver­weis von protestieren­den Bun­destagsab­ge­ord­neten der Linken (Volk­er Kaud­er), noch ein­mal der Afghanistanein­satz (Merkel), die Flugver­bote wegen der Aschewolke (Peter Ram­sauer), die Griechen­land­hil­fe (schon wieder Merkel), und die Rente mit 67 (Ursu­la von der Leyen).

Ob das Wort „die Poli­tikver­drossen­heit ver­stärkt“ mag ich nicht beurteilen, aber dass es die Funk­tion hat, Diskus­sion­sprozesse abzuschnei­den, scheint mir unstrittig.

Und ein Wort, dessen Zweck darin beste­ht, den Aus­tausch weit­er­er Worte zu ver­hin­dern, ist natür­lich im wahrsten Sinne des Wortes ein „Unwort“.

 

[Nach­trag (14:04 Uhr): Eben erst gel­ernt, dass die Idee der poli­tis­chen „Alter­na­tivlosigkeit“ schon vor über 30 Jahren und von kein­er gerin­geren als Mar­garet Thatch­er erfun­den wurde. Wikipedia FTW.]

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

20 Gedanken zu „Zum Unwort des Jahres

  1. Carsten (aus Hannover)

    Ist auch bei uns schon länger pop­u­lar. Die Agen­da 2010 und auch vor dem Regierungswechlsel 1998 schon einige neolib­erale Maß­nah­men waren mit TINA begründet.

  2. Henning S.

    Um beurteilen zu kön­nen, ob das eine gute Wahl ist, müsste man ja wohl die Alter­na­tiv­en, sprich die Liste mit den anderen Vorschlä­gen ken­nen. Gibts die irgend­wo im Netz? Ich hab sie auf die Schnelle nicht gefun­den. Im übri­gen scheint mir “alter­na­tiv­los” das eher hölz­erne deutsche Pen­dant zum englis­chen “no brain­er” zu sein.

  3. Patrick Schulz

    Betr. neusprech.org
    Ich bin ja der Ansicht, dass dieses Blog (also neusprech.org, nicht das sprachlog…) und mehr noch sein Inhalt ein Grund dafür sein kön­nte, die Sprach­wis­senschaft an sich in Frage zu stellen…

  4. Gregor

    Wirkt Sprache auf Realität?
    Ich frage mich, ob eine Ein­bürgerung des Begriffs auch eine Insti­tu­tion­al­isierung der Funk­tion des Whistle­blow­ing nach sich ziehen würde, ver­bun­den mit einem Schutz für die heute krim­i­nal­isierten Täter. Wobei ein solch­er Schutz nur schw­er herzustellen sein dürfte.
    Wer heute “bläst”, der wird ver­mut­lich ent­lassen oder beru­flich kalt­gestellt und dürfte auch bei neuen Bewer­bun­gen schlechte Karten haben. Wenn der Per­son­alchef auf informellem Wege erfährt, wen er da vor sich hat, dann wird er sich gut über­legen, ob er so einen als Mitar­beit­er haben möchte.
    Eine Diskus­sion über das Phänomen sollte auch bewirken, dass poten­tiellen Whistle­blow­ern die Riskiken klar sind und sie sich einen “Plan B” ausdenken.

  5. Klaus Jarchow

    Orig­inell (im Aktu­al­itätssinn von ‘Wort des Jahres’) ist diese Wahl trotz­dem nicht: Als ‘TINA’ (‘there is no alter­na­tive’) geis­tert der Begriff im englis­chsprachi­gen Raum schon seit Anno Thatcher’s Zeit­en herum. Der Gegen­be­griff lautet ‘TATA’ (‘There are thou­sand alternatives’).

  6. Patrick Schulz

    @gregor
    Whistle­blow­er-Schutz bedeutet (so wie ich das ver­ste­he), dass ein Delin­quent, der als Wih­stle­blow­er offiziell anerkan­nt ist, bspw. rechtlichen Anspruch auf eine saftige Abfind­ung hat, wenn er ent­lassen wird.
    Ich kön­nte mir sehr gut vorstellen, dass man die vier Punk­te, die im dt. Wikipedi­aar­tikel über whistle­blow­er ste­hen, irgend­wie jus­ris­tisch kod­i­fizieren und in den Geset­zes­tex­ten ver­ankern kön­nte. Es gibt auch irgend­wo eine e‑Petition dazu, allerd­ings ist die argu­men­ta­tiv so schwach aufge­baut, dass ich meine Mitze­ich­nung verwähre.

  7. Jens Müller

    TINA
    Ja, dieses Mem wurde anfangs oft noch ref­eren­ziert, wenn von “alter­na­tiv­los” die Rede war. Aber mit der Wahl zum UdJ gibt es ja ein etabliertes deutsches Mem.

  8. Mueller

    > Herd­prämie, notlei­dende Banken, betrieb­srats­verseucht. Keins dieser Wörter spielt heute noch irgen­deine Rolle im poli­tis­chen Diskurs
    >
    Natür­lich — schon deshalb, weil PR-bewusste Leute sie nach der (i. d. R. berechtigten) Denun­zi­a­tion vermeiden.

  9. dirk

    Ein­sicht
    Die Alter­na­tivlosigkeit begleit­ete auch die rot­grüne Agen­da 2010, ins­beson­dere die Hartz -‘Refor­men’. Ich stieß bei der Auswer­tung über­re­gionaler Tageszeitun­gen ab 2003 auf zwei Wörter, die nahezu über­all als Paar auf­trat­en, vor allem dann, wenn ablehnende Stim­men berück­sichtigt wur­den: “notwendig & unverzicht­bar”. Nach 2006 erschienen sie sel­tener, auch ihre Syn­onyme, bis zu jenen weni­gen Tagen der Bankenkrise im Herb­st 2008, da selb­st die FAZ für einen Augen­blick den Kap­i­tal­is­mus am Ende sah. Dann begann der Auf­stieg des Adjek­tivs “alter­na­tiv­los” — von der Presse nun aber kri­tisch beäugt, als undemokratisch durch­schaut. Ein Jour­nal­ist ver­sicherte mir neulich, dass ihm im Spiegel der von oben verkün­de­ten Alter­na­tivlosigkeit die eigene Ver­wen­dung von “notwendig und unverzicht­bar” nun pein­lich sei. Das scheint mir ein erhe­blich­er Fortschritt.

  10. Michael Khan

    @K. Jar­chow, @A.S
    @A.S:

    Man sehe sich nur die „Unwörter“ der let­zten Jahre an: Ent­las­sung­spro­duk­tiv­ität, frei­willige Aus­reise, Herd­prämie, notlei­dende Banken, betrieb­srats­verseucht. Keins dieser Wörter spielt heute noch irgen­deine Rolle im poli­tis­chen Diskurs (wenn sie es über­haupt je getan haben).

    Nun wer­den ja die Unworter­nen­ner für sich in Anspruch nehmen, dass diese Begriffe eben deswe­gen in der versenkung ver­schwun­den sind, weil sie sie als Unworte gebrand­markt haben und sich deswe­gen nie­mand mehr traute, sie zu ver­wen­den. Ob dies wirk­lich so ist, entzieht sich mein­er Ken­nt­nis — es erscheint mir eher unwahrschein­lich, aber es dürfte schwierig sein, eine solche Behaup­tung zu widerlegen.
    @Klaus Jarchow:

    TATA — There are thou­sand alternatives

    Ich weiß nicht, wer den Begriff geprägt hat, aber wenn er wirk­lich so lautet, dann wäre ein sehr schönes Beispiel für das oft zu beobach­t­ende Phänomen, dass Wen­dun­gen und Begriffe aus einem deutschen Kon­text ins Englis­che über­tra­gen wer­den, wobei auf­grund man­gel­nder Sprachkom­pe­tenz ein Fehler einge­baut wird.
    “thou­sand” bedarf im Englis­chen eines unbes­timmten Artikels oder eines Zahlworts: “a thou­sand” oder “one/two/three … thou­sand”. Gle­ich­es gilt für dozen, hun­dred, mil­lion etc.. Oder aber man sagt: “There are thou­sands of alternatives”.
    “There are thou­sand alter­na­tives” ist nur Germlish. Eben­so wie das neulich in einem anderen scilogs-Blog zu lesende, graus­liche “Which wall will be next to fall and how will it change our live?” (sic!).

  11. Herzi

    Alter­na­tiv­los
    Das Wort fand ich den Moment schon Scheisse, als ich das das erstemal von unseren Poli­tik­ern gehört habe! Das hätte mMn gle­ich für 5 Jahre gewählt wer­den können!

  12. Frankenfurter

    Unwort — TINA vs. TATA
    Zur Ihrem Nach­trag: Das haben Gerd, Ang­ie und Mag­gi gemein­sam. Alle drei sind TINA’s!
    Die ehe­ma­lige Pre­mier­min­is­terin von Großbri­tan­nien, Mag­a­ret Thatch­er, hat während ihrer lan­gen Amt­szeit (1979–1990) so oft “There Is No Alter­na­tive” gesagt, daß die Abkürzung zu einem ihrer Spitz­na­men wurde. Gegen die Killer­phrase mark­tlib­eraler Poli­tik rufen die Kri­tik­er aus dem linken Lager ihr TATA! ent­ge­gen — There Are Thou­sands of Alternatives!
    Jeden­falls tun sie das, solange sie nicht selb­st Entschei­dungs­ge­walt haben. Hät­ten sie das Rud­er in der Hand, müssten auch sie Alter­na­tiv­en auss­chließen oder los wer­den. Dann wür­den wom­öglich aus den TATA’s von heute, die TINA’s von morgen.

  13. Norbert Jansen

    Mein Kom­men­tar
    Habe gestern hier einen Kom­men­tar geschrieben. Warum erscheint der nicht?
    [Kann ich nicht sagen, in der Warteschlange sehe ich keine Kom­mentare mehr! — A.S.]

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