ausrollen in Bezug auf Technik (z.B. ein Update) ist ein Kandidat für den Anglizismus des Jahres 2010, der von vielen Seiten als schon lang etabliert kritisiert wurde. Das ist hier besonders schwierig herauszubekommen, weil das Wort in einer anderen, weniger metaphorischen Bedeutung (Teppich, Teig), schon lange existiert. Wir haben es also mit einer Lehnbedeutung zu tun: Ein Aspekt des englischen to roll out, nämlich dieser technische/produktionsbezogene, wurde übernommen, aber einem deutschen Wort zugeschlagen. Das passiert oft bei Wörtern, die sich formal oder inhaltlich gleichen, hier ist beides der Fall.
Was kann man alles ausrollen?
Zunächst einmal stellt sich die Frage, was das Wort überhaupt heißt. Ich lag mit meiner Intuition z.B. ziemlich daneben bzw. hatte nur einen Teilaspekt erfasst. Glücklicherweise gibt es einen Wikipediaeintrag für Rollout (seit Juni 2004), aus dem sich die folgenden Bedeutungen destillieren lassen (fast wörtlich übernommen!):
teilw. synonym: Markteinführung, Einführung
- Flugzeugbau: erstmaliges Herausrollen des Flugzeugs aus seiner Baustätte (oft mit Festakt verbunden)
- Software 1: Veröffentlichen und Verteilen von Softwareprodukten auf entsprechende Clients (auch Software-Distribution) – wird durch zentrales Hosting zunehmend obsolet
- Software 2: organisatorische Projekt-Themen (z.B. Informationsdistribution über Organisationseinheiten, Marketing, Software- und Prozess-Training, Monitoring und Reporting über den Rollout-Verlauf)
- Hardware: Austausch sämtlicher Computerhardware bei einem Generationswechsel der Computer eines Unternehmens
1, 2 und 4 sind mir klar, aber … 3? Hä? Hinzugefügt wurde die entsprechende Passage im November 2006, leider ohne Erklärung in den Diskussionsseiten.
Das OED gibt für to roll out als eine von zahlreichen Bedeutungen (auch Teig und so …) an:
trans. orig. U.S. To introduce or launch (a new product, service, etc.).
Hier kommt also auch die Markteinführung vor. Der erste Beleg stammt von 1954 (General Motors, also indirekt noch Bezug zum physischen Rollvorgang), der erste mit (wahrscheinlich) Computerbezug ist von 1997.
Die flugzeugspezifische Bedeutung ist ebenfalls verzeichnet, allerdings nur beim Substantiv rollout, erstes Beispiel von 1947, als Herkunft werden die USA angegeben. Über Hardwareaustausch und die ominöse Sekundärbedeutung im Softwarebereich war nichts zu finden. Das sind also entweder sprachspezifische neue Bedeutungen, oder im Englischen gibt es sie zwar, sie haben es aber nicht ins Wörterbuch geschafft, was ich mir besonders bei Software 2 vorstellen kann (oder Software 2 ist Blödsinn, wer weiß …). Weiter habe ich mich aus Zeitgründen nicht umgesehen, Ergänzungen zum Englischen sind hochwillkommen!
Wenn Lexika und Wörterbücher mit Software 2 nicht helfen, tun es vielleicht Belege, dachte ich mir. Mal schauen, was bei Google News im letzten Jahr so herumschwirrte:
Software & Softwareupdates:
Wollen Unternehmen den Vertrieb über das Internet international ausrollen, stoßen sie schnell auf eine Fülle regional verschiedener Marktbedingungen. (November 2010)
Das iPhone Dev Team such zurzeit Tester, die Interesse daran haben, sich und ihre iDevices zu “opfern”. Die Testphase hat heute begonnen, sodass zum Wochenende die fertige Version ausrollen kann. (Dezember 2010)
Die am 22. Dezember 2010 ausgerollte Alpha der Laufzeitumgebung beinhaltet Schnittstellen (API), die sich an der im Oktober 2010 beschlossenen WAC-Spezifikation 1.0 orientieren. (Dezember 2010)
Wie bei Updates üblich, werden die neuen Versionen nach und nach an die Kunden ausgerollt. (Dezember 2010)
HTC hat das Android-Update 2.2 (Froyo) für sein Wildfire ausgerollt und es steht bereits teilweise zum Download zur Verfügung. (Dezember 2010)
Über die Systemeinstellungen kann geprüft werden, ob das Update bereits für die jeweiligen Nutzer ausgerollt wurde. (Dezember 2010)
Gute Nachrichten für alle Besitzer eines Samsung Wave S8500: Das Update auf bada 1.2 wird nun endlich Anfang 2011 ausgerollt. (Dezember 2010)
Ideen:
Aufgrund des Erfolgs soll das University Relations Programm in den kommenden Jahren global ausgerollt werden. (Dezember 2010)
Die Saftfabrik, die von Alexandra Podeanu, Ana Druga und Thomas Förster gegründet wurde, öffnete im Frühjahr des vergangenen Jahres ihre Pforten – zunächst als Service für Menschen in Berlin, später wurde das Konzept bundesweit ausgerollt. (Dezember 2010)
???
Das wichtigste Modell dürfte die New Small Familiy werden, die in den nächsten Jahren dann auch auf die anderen Konzernmarken ausgerollt wird und noch unter dem Polo positioniert ist. (Dezember 2010, es geht um Autos)
Die Ideen (Konzept, Programm), die hier ausgerollt wurden, haben übrigens beide Internetbezug, im ersten Beispiel geht es um ein IT-Schulungsprogramm und im zweiten um ein Online-Startup. Synonym wäre hier wahrscheinlich ausgeweitet. Daran schließt sich das letzte Beispiel an: Hier wird ein Modell auf andere Marken ausgerollt – ausgeweitet würde perfekt passen. Ein Wortfindungsfehler? Oder eine neue Verwendungsweise? In Kombination mit der Ideen-Ausrollung wäre es schon vorstellbar.
Passt das unter die Software-2-Bedeutung? Ich kann’s nicht so recht zusammenbringen, aber wer weiß. Ich belasse es mal dabei. Lasst uns lieber mal überprüfen, ob das Wort wirklich schon ewig im Deutschen unterwegs ist.
Rollen wir alte Hüte aus?
Cosmas II: Zeitungssprache
Für diese Korpusrecherche habe ich etwas Neues ausprobiert, nämlich eine Kookkurenzanalyse bei Cosmas II. Dabei werden bei allen Funden (gesucht habe ich nach ausroll*, ausgerollt* und rollt* /+w5 aus) die umgebenden Wörter untersucht und es wird analysiert, mit welchen davon ausrollen besonders oft auftritt. Auf die alte Bedeutung weisen dabei z.B. Teig, Teppich, Schlauch, Plätzchen, ausstechen, bemehlt, Arbeitsfläche, Transparente, Plastikrasen hin. Kookkurenzen wie Software, Computer o.ä. treten nicht auf – wahrscheinlich zu neu und zu selten in Zeitungssprache.
In einem zweiten Schritt habe ich alle ausrollen-Texte in ein virtuelles Korpus umgewandelt und darin nach Update* gesucht. Und … 0 Treffer! Mit so wenig hatte ich dann noch nicht gerechnet! Ich habe eine ganze Menge weiterer Computerwörter ausprobiert, Software* lieferte schließlich einen für uns relevanten Treffer, und zwar 2008:
Schwerer scheint nach der Studie zu wiegen, dass das iPhone eine zweite Administrationsstruktur benötigt, wenn im Unternehmen Blackberrys benutzt werden. Lange: „Hat man beim Blackberry nur eine Anwendung für Softwareverteilung, Konfiguration und Ausrollen einer Endgeräte-Policy, so kommt Apple mit einem fragmentierten Strauß von Anwendungen daher.“ (VDI nachrichten, 08.08.2008, S. 13; Geduldsprobe für Geschäftskunden)
Die Verwendung kommt in einem Zitat vor, was meiner Meinung nach wichtig ist: Die Technikexpertin verwendet Ausrollen, die Journalisten generell tun es aber nicht. A propos: Was ist eigentlich eine Endgeräte-Policy? Leute? Ist das nicht irgendwie eine Art von Vereinbarung? (Wiki sagt Richtline.) Und das kann man ausrollen?
Google: Internetgebrauch
Hier ist wieder Vorsicht geboten, unter anderem wegen des kuriosen Suchmaschinenverhaltens: Sucht man bei Google News ohne Zeiteinschränkung, werden nur Ergebnisse für 2010/2011 gefunden, schränkt man aber z.B. auf 2009 ein, gibt es plötzlich doch auch da schon welche … *arg*
Ich habe dennoch ein bißchen in den früheren Jahren gewühlt. Vor 2003 war nichts zu finden (nur ausrollende Autos, aber im Motor-aus-Sinn), aber dann:
Der Knowledge-Base-Artikel 816930 beschreibt zudem diverse Work-arounds für Systeme, auf denen sich der Patch nicht sofort ausrollen lässt. (März 2003)
Neben dem HP-Top-Config-Tool werden in den nächsten Wochen FSC-PC-Ar-chitect-Schnittstellen, Erma, EDI/XML, Eshop und Lion “ausgerollt”, wie Dürst ankündigte. (Mai 2003)
2004 wird ein CMS-System ausgerollt, 2005 dann Images, Clients, eine Anwendung, ein ERP-System, moderne Technologien und eine Zugriffskontrolle. Auch in den folgenden Jahren gibt es immer Belege, da habe ich nicht mehr rumsortiert.
Das Wort ist also schon eine ganze Weile im Deutschen unterwegs, zumindest fachsprachlich, und taucht meist in IT-Texten, Pressemeldungen von Firmen etc. auf.
Ngram Viewer & Google Books
Natürlich musste ich auch damit ein bißchen rumspielen … Viel Hoffnung hatte ich nicht, denn ausrollen kann nunmal alles heißen, aber die folgende Entwicklung ist vielleicht wenigstens ein kleines bißchen erhellend:
Man sieht, dass rollout 2002 erstmals einigermaßen frequent (Mindestanzeigezahl sind 40 Belege) in Büchern auftaucht, und zwar kleingeschrieben, also noch als Fremdwort oder vielleicht sogar Zitat. ausrollen/ausgerollt scheinen leicht zuzunehmen, aber das hat ziemlich sicher null Aussagekraft, vielleicht sind da ja einfach nur ein paar Backbücher erschienen. Aber: Das mit Großschreibung schon einigermaßen integrierte Rollout macht eine steile Karriere, die 2007 beginnt und sich 2008 fortsetzt. Da scheint sich das Konzept in Marketingbüchern niedergeschlagen zu haben.
Die Buchsuche findet für 2008 115 Treffer. Wenn man in diesen nun zusätzlich nach ausrollen/ausgerollt sucht, verringert sich die Zahl auf 12, aber immerhin! Mal schauen, was passiert, wenn man weiter zurückgeht:
2007 wurden Teilprojekte ausgerollt, 2006 Innovation (eine Übersetzung, bei der der englische Text direkt daneben steht!), 2005 gibt ganze vier Bücher, 2004 und 2003 je eins, 2002 zwei. Weiter zurückliegende Ergebnisse gibt es bei dieser Suche nicht, ich will aber nichts ausschließen, immerhin habe ich mir nur die Bücher angeschaut, in denen zusätzlich zum Verb auch noch das Substantiv Rollout vorkommt.
Das Verb tauchte also ab 2002 gelegentlich in Büchern auf, und bis etwas in einem Buch landet, dauert es normalerweise eine Weile. Ich würde daher auch hier denen zustimmen, die das Wort schon für älter halten.
Semantische Lücke?
In der Fachsprache scheint es einen gewissen Bedarf zu geben, aber ob sich das jemals ausweitet? Als harten Konkurrenten in der Gunst der Allgemeinheit würde ich rauskommen betrachten, das sich wunderbar auf Software (und vieles mehr, auch Hardware) beziehen lässt:
Opera 10.60 Beta ist heute rausgekommen (Quelle)
Für Remember 11 ist (endlich) der englische Patch rausgekommen! (Quelle)
Ebenfalls gut dabei ist das stilistisch etwas höhere erscheinen. ausrollen bietet den Vorteil, dass nicht das Produkt, sondern der Produzent (und damit die Firma, die sich selbst natürlich ins Gespräch bringen will) als Subjekt auftritt. Das Produkt kann trotzdem noch ausgedrückt werden, es wandert in die Objektsposition:
Das Update ist rausgekommen.
Opera hat das Update ausgerollt.
Diesen Effekt kann man aber auch mit rausgebracht erreichen:
Auch T‑Mobile UK hat nun Android 2.1 rausgebracht (Quelle)
Es gibt also ganz brauchbare und vor allem verbreitete Synonyme. Diese haben zwar oft eine etwas allgemeinere Semantik, aber die wird ja durch das ausgerollte Ding dann disambiguiert. Ich würde daher insgesamt schätzen, dass ausrollen als Lückenfüller nicht sooo viel Potenzial hat.
Was ich allerdings für beobachtenswert halte, sind die oben erwähnten Fälle, in denen es ‘ausweiten’ bedeuten könnte. Vielleicht vollzieht sich da grade eine kleine semantische Verschiebung oder Ausdehnung.
[Überblick über alle bereits von der Jury diskutierten Kandidaten mit Links]
Kleine Anmerkung: Am 11.01.2011, 9:40 Uhr, wurde die Übersetzung im Wikipedia-Artikel zu Rollout von herausrollen zu ausrollen geändert (Hmmm … Einfluss der Anglizismuswahl?). Nur eine Minute später wurde diese Änderung rückgängig gemacht. Wiederum eine Minute später wurde ausrollen als Ergänzung hinzugefügt, so dass herausrollen und ausrollen als deutsche Entsprechungen zu Rollout stehen (wie das zwischen einem Substantiv und Verben funktionieren soll, weiß wohl nur Wikipedia — dort leistet man sich unter “In anderen Sprachen” auch den etwas peinlichen Link auf die englische Wikipedia, wo Rollout als eine Phase im Poker-Spiel erklärt wird). Diese Änderung ist aber noch nicht “durch”, sie ist nur unter “Ungesichtete Änderungen” zu sehen. Ich finde allerdings für herausrollen mit Update/Software/Patch so gut wie gar keine sinnvollen Treffer.
Ja, der Link zu Poker wurde schon mehrmals manuell entfernt und dann von einem Bot wieder neu gesetzt, kurios.
Wegen der Verben: Könnte mir höchstens vorstellen, dass Substantivierungen gemeint sind. Aber habe mich auch über den Wortartwechsel gewundert.
herausrollen tauchte 2005 auf, als “wörtlich übersetzt: herausrollen”. Das wurde im August 2006 ersetzt durch “dtsch.: herausrollen”. In der Folgezeit wurde dann nur noch “dtsch.” zu “deutsch”. Wirkt so, als sei hier nach einer möglichst wörtlichen Entsprechung gesucht worden, nicht nach einem deutschen Synonym.
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