Kristin hat nebenan im Schplock bereits einen ganz heißen Kandidaten für den Titel “Anglizismus des Jahres 2010” vorgestellt, die/das App. Mit ihrem ausführlichen Artikel hat sie die Messlatte für die bloggende Jury hoch angesetzt. Dann will ich mich heute dem zweiten Favouriten der Publikumsgunst widmen: leaken.
[Kristin und ich haben unsere Gedanken zu leaken zeitgleich veröffentlicht. Update 0 Uhr 21: Kristins Beitrag findet sich hier.]
Die Gedanken zu leaken — auch für alle folgenden Kandidaten — werden sich im Wesentlichen an den für die Wahl aufgestellten Hauptkriterien orientieren: Aktualität für eine breite Öffentlichkeit und dem Füllen einer lexikalischen Lücke in der deutschen Sprache. Darüber hinaus soll die Sprache und weniger die Gesellschaftskritik im Vordergrund stehen.
Packen wir’s an.
Was bedeutet leaken und woher kommt es?
Es wird niemanden überraschen: leaken ist im Jahr 2010 recht eindeutig mit dem Wirbel um die Veröffentlichungen geheimer Dokumenten der US-Diplomaten verbunden. So ist leaken im Deutschen in der Bedeutung ‘die Veröffentlichung geheimer Dokumente, die nicht zur Veröffentlichung freigegeben sind’ vom Namen des Enthüllungsportals WikiLeaks abgeleitet und tauchte letztes Jahr besonders in Verbindung mit Nachrichten über WikiLeaks auf. Aber ganz so neu ist es im Prinzip auch im Deutschen nicht unbedingt (dazu später mehr).
leaken kommt vom Englischen to leak, das anders als im Deutschen recht viele Bedeutungen hat: So kann Flüssigkeit auslaufen (water leaks through the whole of the container), Gas entweichen (the gas is leaking from the system), ein Gefäß (this bottle leaks) oder ein Dach können undicht sein (the roof is leaking). Durch metaphorische Erweiterung können auch Informationen durchsickern (information leaks to the public): hierbei kann der Fokus sowohl auf der ungewollten, als auch auf der bewussten Forcierung liegen. Um diese letzte Bedeutung soll es hier gehen, die wir ins Deutsche übernommen haben. Der Oxford English Dictionary gibt sie wie folgt wieder: to transpire or become known in spite of efforts at concealment, also als ‘bekannt werden werden trotz Bemühungen um Geheimhaltung’.
Der OED hält fest, dass es erstmals um 1420 belegt, aber vermutlich wesentlich älter ist. Verwandtschaft besteht etymologisch mit dem Altnordischen leka ‘lecken, durchsickern’, dem Mittelhochdeutschen lëchen ‘austrocknen, tröpfeln’ und dem Mittelniederländischen leken ‘Wasser durchlassen’. Keine Browniepoints bekommt an dieser Stelle also, wer eine Verwandtschaft mit dem Hochdeutschen lecken wie in Der Kanister leckt ausmachen kann.
Wie aktuell ist leaken?
Eines der wichtigsten Kriterien für die Anglizismenwahl ist die Aktualität, die so definiert ist, dass Kandidaten “2010 zum ersten Mal verwendet worden oder wenigstens zum ersten Mal in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gelangt” sind (hier). Das ist bei der Bedeutung leaken im Zusammenhang mit WikiLeaks zweifelsohne der Fall. Eine weitere Bedeutung, die leaken im Deutschen hat, nämlich das bewusste, aber inoffizielle Veröffentlichen, bezieht sich auf Musikstücke, Software und besonders Computerspiele, die ohne Zustimmung der jeweiligen Rechteinhaber vor ihrer eigentlichen Publikation im Netz bereitgestellt werden. Diese Bedeutung hat leaken, und vor allem sein Substantiv Leak, im Deutschen schon vergleichsweise lange, mindestens seit 2004.
In Ordnung, das mit der Aktualität ist so eine Sache. Gehen wir die Sache also anders an: Im Jahr 1998 spricht Heise Online von einem Memory Leak, also dem ungewollten oder unerklärlichen Verlust an Arbeitsspeicher durch den Browser Netscape. Ein recht frühes Verwendungsbeispiel von leaken in der Bedeutung von (durchsickernder) Veröffentlichung liefert die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) im April 2006, versehen mit den Fremdheitstags “”. In der Überschrift zum dortigen Artikel ist von einem Informationsleck die Rede (“Bush soll Informationsleck bewilligt haben”). Also zwar in einer durchsickernden Bedeutung, nicht aber die gänzlich unfreiwillige, und auch noch recht weit weg von der 2010er Neubewertung.
Machen wir einen Sprung ins Jahr 2010. WikiLeaks, 2006 gegründet, betritt die größere Weltbühne. Da die Nachrichtenlage für 2010 recht unübersichtlich ist, gehen wir mal zu Wikipedia. Aufschlussreich ist nämlich der Versionsverlauf des Wikipediaeintrags zu Leak (zu leaken gibt es noch keinen Wiktionaryeintrag, spannend!). Die Urversion aus dem April 2006 dreht sich um Computerspiele und Software, deren inoffizielle Veröffentlichungen (Leaks) häufig instabil und voller Bugs sind. Im November 2008 werden auch “geheime Dokumente von Organisationen” mit in die Definition aufgenommen, der Fokus liegt aber weiterhin auf technischen Programmen. Im März 2010 erweitern die Wikipedianer den Eintrag um Musik, die oft ungewollt geleakt wird.
Und am 7. April 2010 wird’s spannend: Ein Leak kann jetzt laut Wikipedia auch “interne Dokumente von Firmen, geheime Verträge, vertrauliche Verhandlungspapiere oder ähnliches” betreffen. Das ist nicht erstaunlich, denn am 5. April 2010 hatte WikiLeaks das berühmt gewordene Video eines Luftangriffs auf Bagdad im Jahr 2007 veröffentlicht und sich damit mit einem Schlag in den Fokus der Weltöffentlichkeit katapultiert.
Wenn also leaken (bzw. Leak) so neu nicht ist, so ist es in der Bedeutung, die wir für das Jahr 2010 diskutieren. Und was vorher ein Wort aus dem Vokabular von Geeks oder Internetfreaks war, wurde mit einer neuen Bedeutungsschattierung und fast über Nacht Teil des Vokabulars einer ganzen Sprachgemeinschaft.
Füllt leaken eine lexikalische Lücke?
Natürlich. Die deutschen Entsprechungen, mit denen leaken vermutlich am ehesten synonym wäre (oder was Anglizismenjäger als synonym erachten würden), etwa durchsickern, durchsickern lassen oder verraten, haben nicht den gleichen Fokus auf einer intentionalen, forcierten, aber letztlich von wichtigen Menschen oder Organisationen ungewollten Veröffentlichung (besonders nicht bei durchsickern, welches eher passive und zufällige Veröffentlichungen bezeichnet). Verraten hat darüber hinaus noch weiterreichende Bedeutungsnuancen von neckischer Plauderei (Soll ich dir mal was verraten?) bis zu böswilliger Wirtschaftskiminalität (Er verriet Betriebsinterna an die Konkurrenz.). Durchsickern lassen hat eventuell noch eher den Aspekt der Absichtlichkeit, wie in Er ließ durchsickern, dass die Partei sich uneins sei. Dennoch: (durch)sickern ist in der Reichweite von anderer Qualität als leaken. Wenn ich etwas durchsickern lasse oder eine Information durchsickert, nehme ich in Kauf, dass die Welt davon erfährt. Wenn etwas geleakt wird, dann mit der Absicht, es der Welt mitzuteilen.
So erfüllt leaken sogar gleich zwei Ausprägungen des zweiten Kriteriums: denn einerseits erweitert es die recht spezielle Bedeutung, die Leak/leaken bisher hatte (und macht sie für eine breite Öffentlichkeit “nutzbar”) und liefert ein Lexem für einen Zustand, der bisher nur umständlich umschrieben werden konnte. Die Definition für leaken ist wohl das offensichtlichste Beispiel.
Lehnwortrelevante morphologische Überlegungen?
An leaken zeigt sich sehr schön, wie wohl sich Fremdwörter und insbesondere Anglizismen in der deutschen Sprache fühlen dürfen. Wir haben den Infinitiv leaken und gaben ihm sogar vergleichsweise flott das Partizip geleakt, das Adjektiv geleakt(e/r/s), die Präteritumform leakte/n, ein Substantiv Leak und dessen Plural Leaks. Nicht nur grammatisch und syntaktisch ist die Einbürgerung erfolgreich verlaufen: Auch die Aussprache stellt niemanden vor ein größeres Hindernis, leaken passt hervorragend zum phonologischen Inventar der deutschen Sprache, auch wenn einige einwenden würden, dass es graphemisch erst mal nicht ganz nach Deutsch aussehen will.
Das Verständnis wird auch niemanden überfordern, auch diejenigen nicht, die kein Englisch können. Wir erinnern uns: das letzte Argument ist einer der Lieblingsirrtümer der Sprachpfleger und Anglizismenjäger. Die semantische und zeitliche Nähe zu WikiLeaks haben es leaken natürlich denkbar einfach gemacht — verstehen wird es jeder, der im letzten Jahr nicht gerade in einem Schneehügel gelebt hat.
Potential und Überlebenschance?
Hoch. Das morphologische Potential haben Leak und leaken mit einer ganzen Reihe an Derivaten bewiesen. Und weil sie in unserer Mediengesellschaft offensichtlich eine besonders klaffende Lücke gefüllt haben, ist das Überleben des Lexems wohl höchstwahrscheinlich, auch wenn WikiLeaks oder Julian Assange hinter Gittern und Internetschranken verschwinden. Leak und leaken werden sich etablieren, jenseits von Plattformen und US-Depeschen oder Kriegsvideos.
Fazit: ganz heißer Anwärter auf den Titel.
Und wenn mir die Bemerkung erlaubt sei — sollte leaken gewinnen, ehrten wir nicht Julian Assange, WikiLeaks oder eine besonders auffällige Nachrichtenlage des Jahres. Die Wahl bliebe dem ursprünglichen Motto treu: weniger Gesellschaftskritik, mehr Sprache. Wir würden eine wirkliche Bereicherung der deutschen Sprache feiern, die — fantastisch! — auch noch recht gut auf den gewollten Zeitraum eingrenzt werden kann.
Sooo, da bin ich. Das Lesen hat sehr viel Spaß gemacht! Viel strukturierter als bei mir, ich sollte vielleicht mal versuchen, weniger organisch zu schreiben …
Bei lecken/leaken würde ich dann doch den Browniepunkt (Was ist denn das für ein garstiger Anglizismus? Irgendwas mit Pfadfindern, ne?) haben wollen, menno! Meine Quelle ist (wer hätte es gedacht) der Kluge, der für lecken drei Einträge hat, nämlich
1. mit der Zunge über etwas streichen
2. (auch löcken) mit den Füßen ausschlagen
3. Verweis auf leck (Adj.)
Ebenda findet sich dann
Der leckende Kanister ist also undicht und entsprechend leakt er, im gebersprachlichen Sinne.
Zwei Punkte haben mich ganz furrrrchtbar geärgert, weil ich sie nicht so elegant dargestellt habe wie du. *hmpf* Und zwar zum einen die Bemerkung, dass das Leaken in den Texten seinen Anfangszeiten oft absichtlich geschah, auch wenn man es nicht zugab. Das geht zwar aus meinen Zitaten hervor, aber nicht dass ich das bemerkt und verbalisiert hätte …
Punkt zwei: Der Aspekt des In-Kauf-Nehmens bei durchsickern lassen vs. die Intentionalität bei leaken. Habe ich nicht geschafft, in Worte zu fassen. ; )
Auch die Wikipediaversionsgeschichte gefällt mir sehr gut!
So, und womit machst du jetzt weiter? Ich gehe mich mal um entfr(eu|ie)nden kümmern …
Liegt’s jetzt an mir oder an der fortgeschrittenen Stunde? Wenn ich dich richtig interpretiere, dann hast du mich falsch interpretiert. Oder ich mich sehr missverständlich ausgedrückt. Keine Browniepunkte gab’s deshalb, weil die Verwandtschaft zwischen leaking container und leckender Kanister zu evident ist. Browniepoints sind eine gewisse Währung, besonders für Kinder, die für besondere Leistungen halt, äh, Browniepoints bekommen.
Ok, du hast aber heraus gestellt (sehr schön), dass sich die Bedeutung dahingehend geändert hat, dass es “heroischer” wurde, obgleich ich deine Frage bejahen würde, dass es in jenenwelchen Kreisen irgendwie immer schon ein bisschen heroisch war, ein Packet zu leaken.
So ein Parallelkommentar müssten wir noch mal machen, hat mir riesig Spaß gemacht (und mich gezwungen, mich wirklich hin zu setzen!!). Als nächstes kommt, hm, weiß noch gar nicht. entfrienden finde ich prinzipiell sehr spannend, aber das würde noch eine Weile dauern. Mal sehen. Vielleicht noch eine Antwort auf deine App-Vorstellung, da waren sehr spannende Punkte drin.
Aaaah, ich dachte man kriegt keine Punkte, weil es falsch ist. War das nun ein kulturelles Missverständnis? Whatever, ich wandere ins Bett.
Parallelschreiben: Ja gerne! Muss ja auch nicht unbedingt beim Anglizismus des Jahres sein, wir können ja auch andere schöne Dinge munter beleuchten … (Mir schwebt eine Metawortwahl vor, bei der man unter allen existierenden Wortwahlen wählen muss … Oder was hältst Du vom alemannischen Wort des Jahres? Äh ja, Bett, schlafen, sorry.)
Witzigerweise würde ich jetzt intuitiv fast sagen, dass Browniepoints heute überwiegend ironisch/sarkastisch genutzt wird, zumindest kommts mir fast nur so unter. Aber ich habe ja keine Kinder und schon lange nichts mehr mit ihnen zu tun. Wäre mal eine interessante Untersuchung.
Alemannisches Wort des Jahres: nette Idee. Da bin ich zwar etwas weiter weg, aber ich habe am Wochenende ja genug Möglichkeiten, mich da linguistisch auf den neusten Stand zu bringen. Oder Futter sammeln für mein Projekt: Schimpfworte für alemannische Fußballfans ohne in Norddeutschland ein Stadionverbot zu riskieren.
Hmmm, Schimpfwort des Jahres klingt doch super! Wobei ne, dann schlagen wahrscheinlich alle einfach die Namen von negativ aufgefallenen Personen vor …
Wobei die Wahl zum Schimpfwort des Jahres 2011 für mich schon am 1. Januar um kurz nach Mitternacht entschieden war: Ein Heidelberger stellte sich mir als Badenser vor. Tz.
“Ein Heidelberger stellte sich mir als Badenser vor.”
Unverschämtheit! Zur Strafe muß er drei Tage lang in einer Wiederholungsschleife
http://www.youtube.com/watch?v=hd6lMfWH0aQ
anhören.
Vielen Dank für den schönen Artikel!
Eine Nebensächlickeit ist mir aufgefallen, das “Memory leak” hat mit dem hier besprochenen “leaken” eigentlich gar nichts zu tun. Bei einem Memory leak handelt es sich eher um einen Fachbegriff aus der Computerprogrammierung, im Deutschen wird es manchmal auch als “Speicherleck” bezeichnet. Es entsteht, wenn eine Software einen einmal addressierten und später nicht mehr benötigten Soeicherbereich nicht wieder wie vorgesehen freigibt. Dieser Speicherbereich kann dann nicht von anderen Programmen benutzt werden, bis der “leakende” Prozess beendet ist, was bei wiederholtem Aufruf der das Leak erzeugenden Routine zu “lustigen” Effekten führen kann, wenn der vorhandene Speicherplatz irgendwann erschöpft ist. Ungewollt ist das bestimmt, unerklärlich eigentlich nicht, es handelt sich einfach um einen Programmierfehler 🙂
@Martin Huhn: Sehr verlockendes Strafmaß. Heilsam.
@klappnase: Natürlich hat Memory Leak in diesem Kontext mit leaken aus 2010 recht wenig zu tun. Mir war die Herführung der Bedeutungsentwicklung wichtig (die Überleitung ist mir nicht so richtig geglückt). Und da hat man es 1998 mit dem klassischen Leck zu tun. Wäre es ein Memoryleck, hätte man vermutlich genau die gleiche Bedeutung erhalten, aber vermutlich war Memory damals noch nicht allgemein als deutsches Wort akzeptiert und begünstigte die Komposition mit Leak anstelle von Leck. Ganz klassisch findet die (eine) mangelnde Akzeptanz in der Schreibweise Ausdruck: Das Kompositum wurde (noch) auseinander geschrieben und — wenn ich mich recht entsinne — in Anführungszeichen gesetzt. Das geschieht häufig mit noch nicht völlig integrierten Lehnwörtern.
In Ordnung, es ist/war nicht unerklärlich. Jedenfalls nicht für Spezialisten (in dessen Kreisen es ja verwendet wurde). Aber aus Sicht des unbedarften Users sind mir solche Speicher(platz/leistungs)verluste immer unerklärlich! 😉
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