Nach App gibt’s nun eine zweite Betrachtung eines Anglizismus-des-Jahres Kandidaten, nämlich leaken. Gepostet wird zeitgleich mit suz, auf deren Bemerkungen zum Thema (edit: jetzt mit Link) ich sehr gespannt bin!
Entlehnungsdurcheinander: Wann, was, wie?
Mit leaken ist was ganz Lustiges passiert: Die lautliche Form gibt es im Deutschen schon eine ganze Weile. Als ursprüngliche Bedeutung würde ich für diese erste Entlehnung ansetzen: ‘etwas (bes. Software/Filme/…), das von seinen Urhebern nicht dazu bestimmt ist, (besonders über das Internet) an die Öffentlichkeit kommen lassen’.
Der früheste Beleg, den ich via Google News gefunden habe (2001), ist dieser, in dem die Fremdheit noch ziemlich deutlich ist und die Bedeutung des Wortes erklärt werden muss:
nVidia will das Leaken von Treibern unterbinden: nVidia hat heute in einer Ankündigung allen registrierten Entwicklern mitgeteilt, man wolle in Zukunft härter gegen ‘geleakte’ Treiber vorgehen. Leaken bedeutet das inoffizielle veröffentlichen von Software, die durch “Lücken” an die Öffentlichkeit gelangt ist. (04.06.2001)
In ebendieser Softwarebedeutung findet es sich dann auch 2004 ziemlich gut integriert:
Far Cry: Beta-Version geleakt? Internet-Gerüchten zufolge kursiert bereits wenige Tage nach Beginn des Beta-Tests eine illegal geleakte Version des Ego-Shooters Far Cry in diversen Online-Tauschbörsen. (16.01.2004)
Neben dieser Verwendung entstand aber auch ein zweiter Anwendungsbereich, bei dem es nicht um Software ging, die illegal verbreitet wurde, sondern um Informationen, die an die Öffentlichkeit getragen wurden, ohne dass das vorgesehen war.
Hier erfolgt die Informationsverbreitung nicht unbedingt über das Internet, sondern gerne auch ganz traditionell z.B. durch Weitergabe an die Medien. (Wobei das heute sicher auch oft per Mail geschieht.) Man könnte, um es im Entlehnungstypologievokabular auszudrücken, also von einem Fremdwort sprechen, das zunächst mit einer Bedeutungskomponente entlehnt wurde, zu einem späteren Zeitpunkt aber dann eine andere Komponente des Geberworts als zusätzliche Lehnbedeutung erhalten hat.
Das erste Informationsleak habe ich 2006 gefunden, auch als fremd gekennzeichnet:
Bush soll Informationsleck bewilligt haben […] Aber es ist eine peinliche Behauptung, dass der Präsident persönlich das «Leaken» von Geheimdienstinformationen angeordnet haben soll. (08.04.2006)
Dann werden 2007 Produktgerüchte und Nutzerdaten geleakt, 2008 werden Nahostgespräche nicht geleakt, aber ein Telefonat schon, 2009 Zensurlisten und Fotos. Die ganze Zeit gab es natürlich auch weitere Leakereien von Filmen und Software.
Außerdem gibt es erste Klagen über das böse Fremdwort:
Warum muß hier eigentlich ständig alles “leaken”?
Warum sickert das nicht einfach durch?
Dieses Dummdeutsch nervt einfach nur.
Als nächstes “liikt” oder “liegt” es wahrscheinlich noch. Ist das noch Generation Privatfernsehen oder schon PISA?.
2010 tritt dann Wikileaks erstmals richtig breit in Erscheinung und verfestigt dabei die Informationsleck-Bedeutung von leaken. Außerdem scheint das Wort auch eine leichte Bedeutungsverbesserung mitzumachen. Das Leaken von Software, Filmen und Musik wird tendenziell nicht als heroische Tat betrachtet (oder im klassischen Benutzerkreis des Wortes doch?), das von Informationen schon eher, wenn auch nicht einhellig.
Google News ist textgrößenmäßig keine ausgewogene Quelle, daher kann man leider keine Verläufe nachzeichnen bzw. Zunahmen messen. Und für Cosmas II ist das Wort zu neu. Die Computerspiel-etc.-Bedeutung ist hier aus stilistischen Gründen eher nicht zu erwarten (und auch nicht zu entdecken). Die Informationsbedeutung findet sich ab 1995 gelegentlich mal für leak, immer als Fremdkörper gekennzeichnet und erläutert, wie hier (das sind schon fast alle Beispiele, die es gibt)1:
- Es sei ein unbeabsichtigter “leak” gewesen, es sei demnach … (Die Presse, 30.09.1995, Ressort: Ausland/Seite Drei; Courage in der Politik)
- Noch etwas raffinierter ist die häufigste Methode der Beeinflussung, die gezielte Indiskretion. Solche “Leaks” haben in Washington verschiedene Funktionen: […] Mit “Leaks” können aber auch “schlechte” Nachrichten vorweggenommen und entschärft werden. (Zürcher Tagesanzeiger, 14.03.1998, S. 5, Ressort: Ausland; Wie man die Medien zähmt)
- Welche Voraussetzungen müssen moderne Politik-Berater als Spin Doctors haben? Laut Plasser: “Hohes Quellenprestige” durch die Nähe zur Macht, wie es seinerzeit Karl Krammer im Kabinett Franz Vranitzkys ausnützte; eine gute Gesprächsbasis zu Journalisten; Zugang zu Hintergrundinformationen; großes Talent für taktische “leaks”, also dafür, bestimmte Informationen gezielt durchsickern zu lassen. (Die Presse, 22.01.1999, Ressort: Ausland/Seite Drei; Wenn Spin Doctors scheitern)
- Auch dabei ging es um das, was in Washington als »leak« (Leck) bezeichnet wird: die Weitergabe von Geheim-Informationen an unbefugte Dritte nämlich. […] Beispiel: Wer geheime Regierungs-Informationen an Medienvertreter preisgebe, werde gefeuert. Oder: »Wenn es in meinem Team einen ‚leaker’ (Lancierer) gibt, will ich wissen, wer es ist. (Nürnberger Nachrichten, 08.04.2006; Bush gerät immer stärker selbst ins Visier)
Schließlich tritt 2009 Wikileaks auf den Plan, in einem einzigen Beleg:
Dass der Name an Wikipedia erinnert, ist kein Zufall. Wie bei dem großen Mitmach-Lexikon kann jeder etwas veröffentlichen. Es geht aber nicht um das Wissen der Welt, sondern um geheime Dokumente — daher das “leaks” im Namen, das für undichte Stellen steht. (Rhein-Zeitung, 28.11.2009; Geheimes landet im Internet)
2010 wird ebenfalls einmal über Wikileaks berichtet. Aber das Verb lässt sich weit und breit nicht blicken. Ob das für die zweite Hälfte von 2010 anders wird?
Meine Einschätzung für leaken in der Informationsbedeutung: Das Wort ist schon eine Weile im deutschen Sprachraum unterwegs (mindestens seit 2007), hat es aber nie so richtig zu größerer Bekanntheit gebracht, bis es schließlich einen enormen Frequenzschub über Wikileaks bekam. (Gegründet 2006, die aufsehenerregendsten Veröffentlichungen waren im Herbst 2010 und fanden ein breites Medienecho.) Es ist so neu, dass es sich in der Zeitungssprache (die nur den Zeitraum vor “Cablegate” erfasst) noch nicht niedergeschlagen hat.
Ein das Wort bekräftigender Faktor könnte sein, dass sich die ältere leaken-Bedeutung stark auf Internet bezieht, die neuere stark auf Informationen und die ganz neue beides vereint: Informationen, die über das Internet (nämlich die Homepage von Wikileaks) geleakt werden. Aber ich spekuliere wild!
leaken stopft ein semantisches Leck
Damit sind wir beim Bedarf für das Wort. Der Nutzen liegt für mich ziemlich klar auf der Hand: Es beschreibt die unerlaubte Informationsweitergabe verhältnismäßig neutral, wie das verraten zum Beispiel nicht kann. durchsickern lassen finde ich ziemlich schön und semantisch nah dran, transportiert aber nach meiner Einschätzung nicht die nötige Durchschlagkraft und Brisanz. jemandem etwas zuspielen verlangt nach einem Empfänger, während hier eine breite und diffuse Öffentlichkeit das Ziel ist. leaken füllt damit eine semantische Lücke.
Integration: Es spielt so schön mit
Verschiedenerorts wurde leaken für seine wunderbare Integrationsfähigkeit gelobt: Es flektiert (ich leake, du leakst, sie leakte) und bildet ein Partizip/Adjektiv (geleakt). Aber: Das ist kein Hexenwerk. Im Gegenteil: Anders kann man Verben gar nicht ins Deutsche entlehnen. Egal wie fremd das Verb, es wird sofort angepasst. Würde man to contemplate entlehnen (ungeachtet der Tatsache, dass wir kontemplieren schon haben), dann hieße es eben contemplaten, gecontemplated, … Also würde ich dafür keinen Bonus vergeben. (Ebensowenig wie der App für ihre Fähigkeit, Komposita zu bilden.)
Auch die Valenz haben wir, wie recht erwartbar, mitentlehnt: Während das etymologisch verwandte deutsche lecken ‘undicht sein’2 nur intransitiv sein kann, das heißt kein Objekt bekommen kann (Der Wasserhahn leckt Dreckwasser), geht es bei leaken eben darum, was preisgegeben wird und entsprechend kann man Dokumente leaken, Informationen leaken, Geheimnisse leaken und generell richtig aktiv werden.
Im Englischen kann die undicht-Bedeutung transitiv sein, muss aber nicht:
My kitchen sink leaks everytime I put ice in it ‘Mein Spülbecken leckt jedes Mal, wenn ich Eis reintue’ (Quelle)
But if the baby leaks, you have to wash all of your bedding. ‘Aber wenn das Baby “ausläuft”, musst du dein ganzes Bettzeug waschen’ (Quelle)
Grounded Chinese coal ship leaks oil ‘Auf Grund gelaufenes chinesisches Kohleschiff verliert Öl’ (Quelle)
Die weitergeben-Bedeutung ist hingegen, soweit ich das überblicke, immer transitiv, bei intransitiver Verwendung läge (wie beim Baby) Inkontinenz vor:
Assange’s informer leaked this footage ‘Assanges Informant leakte dieses Filmmaterial’ (Quelle)
Gesamturteil?
Ich finde leaken sympathisch, es hat Potenzial. Aber ob es das auch wirklich entfalten wird? Das, liebe Sprecherinnen und Sprecher, liegt an euch …
Fußnoten:
1 Eine andere Bedeutung hat Leaking, das zwischen 2007 und 2009 oft in Zusammenhang mit Amokprävention auftriff und bedeutet, dass der Täter selbst im Vorfeld Hinweise auf seine Tat gibt. Zwei willkürliche Beispiele:
- ROBERTZ: Bevor eine Gewaltphantasie komplett in die Realität umgesetzt wird, gibt es viele Warnsignale. Phantasieinhalte tauchen in Geschichten, Bildern, Aufzeichnungen, Gesprächen und so weiter auf. Wenn keine deutlich negative Reaktion auf ein solches “Leaking” erfolgt, kann sich der Täter dadurch noch bestätigt fühlen. (Mannheimer Morgen, 19.04.2007; Wissen; “Es gibt viele Warnsignale”)
- Beim Leaking lässt der Täter seine Pläne im Vorfeld durchsickern, zum Beispiel im Internet oder in Briefen. Ein Projekt der Freien Universität Berlin untersucht, anhand welcher Kriterien ernstzunehmende Drohungen zu erkennen sind. (Braunschweiger Zeitung, 14.03.2009)
2 Haha, das ist auch entlehnt! Aus dem Niederdeutschen, eine Ableitung von Leck.
Sehr cooler Beitrag.
Und wir ergänzen uns doch ganz gut, oder?
Wobei ich die morphologische Integration eigentlich nicht ganz unwichtig finde, so für die 2010er Neubedeutung. Mein Eindruck im GoogleNews-Dschungel war, dass es vor WikiLeaks und besonders in den frühen 2000ern hauptsächlich als Substantiv Leak auftrat und wir dem Verb 2010 richtig flott eine einheimische Flektion verpasst haben. Mein Fokus lag also besonders deshalb auch darauf, weil es sich viel besser und schneller ins Inventar aufnehmen ließ bzw. aufgenommen wurde, als z.B. downloaden/downgeloadet — inklusive aller Rechtschreibversionen. Da waren wir uns doch bei leaken recht schnell einig.
Und ja, Assange’s informant leaked. wäre Inkontinenz.
(Die Valenz, damn, ich wusste ich hab was übersehen :D)
Zur Morphologie: Klar, die Tatsache, dass überhaupt ein Verb gebildet wurde, kann man als Integration sehen, besonders wenn man von einer einigermaßen selbständigen Derivation von Leak ausgeht. So gesehen wäre Leak durch die Ableitung erst relativ spät morphologisch akzeptiert worden, oder?
Mir ging’s nur um die Tatsache, dass die Flexion etc. automatisch drüberläuft, sobald man mal ein Verb hat. Eie komplexere Struktur wie downloaden führt natürlich zu Partizip-Problemen, die bei leaken wegen des schön einsilbigen Stamms nicht auftreten können, aber das ist dann ja nicht der Semantik/Funktion etc. geschuldet.
So, jetzt wandere ich kommentierenderweise zu Dir rüber!
Okay, stimmt: Wenn dem so sei, dass vor 2010 Leak zwar als Substantiv, aber weniger (relativ) als leaken akzeptiert war, dann ist das wirklich spannend, warum es dann 2010 so flott ging (was ja wieder ein Argument pro Aktualität wäre). Und mit der Komplexität hast du natürlich recht. Hat das hier auch was mit der Regelmäßigkeit zu tun? Oder dass das Verb doch recht nah an seinem vorhandenen Kognat dran ist, so morphophonologisch?
Vielleicht ist die linguistische Betrachtung in dem Fall für uns nicht so wahnsinnig interessant, weil ein uns bekannter (und unvermeidbarer) Prozess abläuft. Für die Öffentlichkeit ist es aber ein recht anschauliches Beispiel, wie integrationsfreudig wir in unserem Sprachgebrauch sind.
Ich denke, es hat mit der Betonungsstruktur zu tun und damit, dass down bei downloaden als eigenes Element segmentiert wird (vielleicht, weil man loaden gut an laden anschließen kann, oder wegen der Zweisilbigkeit, da MUSS ja dann irgendeine Art von Zusatzelement vorhanden sein).
Könnte natürlich auch vom äquivalenten runterladen beeinflusst sein, d.h. die Fälle mit ge vorne hatten das unanalysierte Wort als Muster, die, bei denen es nach down erst kommt, das deutsche Wort?
Auf jeden Fall verfolgenswert, ich merke mir das mal. (Gibts bestimmt schon Veröffentlichungen zu, ist ja doch recht auffällig.)
Wieso war leak- vor 2010 relativ weniger als Verb als als Substantiv akzeptiert? Woher kommt diese Schlussfolgerung? Formen wie geleakt findet man doch schon ab 2001.
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Wie immer ein schöner Beitrag!
(Und eine kleine Korrektur: Das Baby-leak-Zitat ist falsch verlinkt.)
Vielen Dank, hab’s gleich repariert! 🙂
Das Potenzial reicht sogar für Wortspiele: Das Dokument leakt seit gestern neben dem Drucker rum.
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