Ich will euch ein wenig an meinen Überlegungen zum Anglizismus des Jahres teilhaben lassen. Dazu picke ich ein paar Kandidaten heraus und schaue, was sie so unternommen haben, um sich im Deutschen zu verbreiten. Beginnen will ich mit der App. Das Wort bezeichnet ein kleines, i.d.R. kostenpflichtiges (aber günstiges) Programm, meist für ein Handy, aber auch für den Computer. Disclaimer: Ich habe noch nie wissentlich eine App genutzt.
Die Bedeutung
app entstand als Kurzform für application ‘Anwendung’. Die englische Wikipedia leitet entsprechend auch von App auf Application software weiter, es gibt keine Differenzierung wie in der deutschen. Entsprechend der allgemeinen Ausgangsbedeutung nennen frühe Texte das, was der App Store verkauft, auch meist Programm. In den Textbeispielen der ersten generischen Verwendungen (s.u.) finden sich als Quasi-Synonyme Progrämmchen, Handyerweiterungen und kleines Programm. Hier ist also schon eine semantische Verengung eingetreten, es geht nicht um irgendein Programm, sondern um ein kleines, das nicht zur Grundfunktion eines Handys oder Computers zählt (Erweiterung). Soweit ich das einschätzen kann, ist diese semantische Entwicklung nichts eigenständig Deutsches, sondern im Englischen passiert und dann mit dem Wort zusammen entlehnt worden.
Was ich ganz interessant finde, sind Phänomene wie Facebook-App, wo man eigentlich nicht von Software sprechen kann und wo man auch nichts kaufen muss. Die optionale Komponente bleibt aber erhalten, und auch das Funktionsspektrum (von der Eieruhr zum Gesellschaftsspiel).
Es gibt noch einige Aspekte, die ich verfolgenswert finde, nämlich wie eng die Bindung an Apple-Produkte war und wann sie sich gelockert hat, welche Rolle Apple bei der Verbreitung gespielt hat etc. Auch ob der Kleine-Erweiterung-Aspekt im Englischen nur ein Teil von app ist, d.h. das Kurzwort auch das komplette Bedeutungsspektrum von application abdecken kann und auch tut, wüsste ich gerne. Dazu muss man aber in die Gebersprache gehen, und da fehlt mir momentan einfach die Zeit.
Das Alter
Natürlich gibt es deutsche Belege für App schon vor 2010, allerdings ist 2010 dann eine richtige Explosion zu beobachten. Um diesen Verlauf klarer zu sehen, habe ich einige Dinge unternommen:
Wikipedia:
App hat einen Eintrag, und zwar seit dem 26.11.2009. Davor verwies der Eintrag auf die Begriffserklärungsseite APP. Die erste Artikelversion nimmt noch recht eng Bezug auf Apps der Firma Apple. (Die allgemeinere Bedeutung ‘Programm’ wird vom Artikel Anwendungssoftware abgedeckt, auf den auch Application verweist.)
Da man den Familiennamen App immer rausrechnen muss, habe ich mich auf vier Zeitungen aus dem W‑Archiv beschränkt (Hamburger Morgenpost, Nürnberger Nachrichten, Braunschweiger Zeitung, Mannheimer Morgen – pro Halbjahr ab dem ersten Auftreten von App ca. 14,4 Mio Wörter), die Häufigkeitsentwicklung (in absoluten Zahlen) ist also sehr wacklig, zeigt aber nichts Unerwartetes:
Die ersten Belege sind immer auf den App-Store von Apple oder auf Google Apps bezogen und damit reine Produktnamenverwendungen. Erst im ersten Halbjahr 2009 taucht ein echter Beleg auf, im zweiten Halbjahr sind es 40, im ersten Halbjahr 2010 dann 105. (Leider gibt es für den Rest von 2010 noch keine Texte im Korpus.) Bei der niedrigen Gesamtzahl von Belegen ist das natürlich nicht wirklich belastbar.
Für die Suche nach dem frühesten Beleg bei Cosmas habe ich tapfer all die Familiennamen ab 2005 durchgescrollt und in der lektorierten Schriftsprache ausgemacht:
2006: Erstes Zitat:
Das Internet wird erwachsen 2006: So stellt Google mit Hilfe von Web‑2.0‑Technologien wie Ajax heute schon gehostete Büroanwendungen für Unternehmen unter dem Namen „Apps for Your Domain“ zur Verfügung (VDI Nachrichten, 29.09.2006, S. 9)
2008: Erste Verwendung in einem Eigennamen:
Das neue „iPhone 3G“ Apple-Chef Jobs verspricht: doppelte Leistung, halber Preis: Die Programme sollen über Apples Plattform „App Store“ vertrieben werden. (Nürnberger Zeitung, 12.06.2008, S. 40)
(Vom dem, was der App Store verkauft, ist als Programme die Rede.)
2009: Erste generische Verwendung mit Kennzeichnung des Fremdstatus (Anführungszeichen, Synonymangabe):
Von „Yps“ zu „Apps“: Jeden Tag macht der Technikkonzern Apple eine Million US-Dollar Umsatz mit einer digitalen Ware, die es gerade mal seit einem halben Jahr gibt. Nicht einmal ein deutsches Wort haben die Computerhersteller bisher dafür gefunden. Die Rede ist von Progrämmchen („Apps“) aus dem sogenannte „App Store“, einem virtuellen Verkaufsladen, der nur auf dem iPhone und über die Apple-Software iTunes aufgerufen werden kann. […] Wie einst die Zeitschrift „Yps“, geht’s beim iPhone schon längst nicht mehr um den Hauptzweck des Telefons, das Telefonieren, sondern um die Gimmicks. Da gibt es eher mittellustige Spaßbringer wie die Pupssimulation iFart (für 79 Cent) und das iShoot. Aber auch nützliche Handyerweiterungen sind haufenweise zu bekommen: Zum Beispiel die Radioabspielstation allRadio (79 Cent), die sich die Musik beliebiger Radiostationen aus aller Welt anstatt aus dem Äther aus dem Internet besorgt. Oder das Taxirufprogramm, das in allen Städten Deutschlands die Telefonnummer des örtlichen Taxiunternehmers kennt. Oder das Handy-verlegt-wiederfind-Programm Tracker (1,59 Euro). Die Phantasie der Programmierer aus aller Welt hat mittlerweile mehr als 10 000 „Apps“ herausgebracht. (Hannoversche Allgemeine, 06.02.2009, S. 6)
2009: Erste generische Verwendung ohne Kennzeichnung des Fremdstatus:
Telefonbücher in Variationen: Einen Schritt weiter geht Local.ch: Die Firma hat ihr Telefonbuch als App für das iPhone lanciert. Der Clou des kleinen Programms: Es greift auf das GPS-Ortungsgerät des iPhones zu und kann die Suche im Telefonbuch oder in den Gelben Seiten auf einen bestimmten Umkreis beschränken. (St. Galler Tagblatt, 08.04.2009, S. 10)
Google News
Google News habe ich als technikaffinere und gleichzeitig datierbare Quelle genutzt, und entsprechend findet sich auch wirklich frühere Belege: Der App Store im Juni 2007, Apps als Kurzbezeichnung des gesamten Dienstes Google Apps im September 2007. Die erste generische Nutzung findet sich im August 2008:
Die 999 US-Dollar-App: I Am Rich
Nutzlose Dekadenz
Statussymbole müssen nicht sinnvoll sein — sie stehen für sich. Darunter fällt auch die wohl teuerste iPhone-Software im App Store: ein Bild für 800 Euro.
[…]
Insgesamt lässt sich also feststellen, dass sich App ab dem 2. Halbjahr 2008 im Deutschen herumtreibt, aber erst Ende 2009 und dann so richtig 2010 ins Bewusstseit der breiteren Bevölkerung tritt.
Die Integration
App verhält sich, was seine Integration angeht, völlig normal: Es schreibt sich groß. Scherzhaft findet man auch manchmal <Äpp>, aber dem prognostiziere ich in naher Zukunft keinen Erfolg.
Das erste Stadium der Fremdheit, wo es viel in Anführungszeichen oder Klammern gesetzt wurde oder als sogenannte App bezeichnet wurde, scheint vorbei zu sein. Es hat ein Genus bekommen, das noch schwankt. Ich selbst kenne nur die App, es gibt aber auch das – 2008, 2011 – und (nach meinem oberflächlichen Eindruck wesentlich seltener) der – 2011. Das ist ganz typisch für den Beginn einer Entlehnung und bleibt manchmal auch, so z.B. bei Blog (der vs. das) und E‑Mail (die vs. das).
In der Flexion ist es unauffällig (die Apps, der s-Plural ist hier erwartbar). Was die Wortbildung angeht, so würde ich es als verhalten produktiv bezeichnen. Es gibt Komposita wie Lufthansa-App, Tagesschau-App, aber das sind spezifische Bezeichnungen für exakt eine App. Schon generelleren Charakter haben Bildungen wie Facebook-App, die eine ganze Reihe von Produkten umfasst. Auch eine genauere Eingrenzung der Funktion ist möglich, wie in Spiel-App oder Kalender-App. Auch als Erstglied gibt’s Bildungen, z.B. App-Blödsinn.
Bei den Ableitungen gibt es weniger, aber Okkasionalismen wie geappt treten auf, ebenso verappen. Mal sehen, ob sich da irgendwas festigt, mir fallen nicht so viele Konzepte ein, die sich da in ein Verb oder Adjektiv stecken lassen könnten, weil ja das Substantiv schon sehr weit gefasst ist.
So, nun muss ich leider Schluss machen – wenn ich so viel Zeit in jeden der Kandidaten stecke, habe ich erst in 15 Tagen eine Top-3-Liste und nicht morgen … Als nächstes geplant: leaken.
Sehr schöne Übersicht! Wenn Du so weitermachst, brauche ich ja nur noch auf Dich zu verweisen 😉
LG Michael
Die Messlatte ist jetzt aber hoch angesetzt… Darf ich mit leaken weiter machen? Da habe ich mich die letzten Tage auseinandergesetzt. 😉
Hmmmm, ich schreib grade was zu leaken und bin schon quasi fertig. Aber wenn Du magst, warte ich mit dem Posten, bis Du’s hast, dann besteht keine Beeinflussungsgefahr und es ist sicher witzig zu sehen, was wir unabhängig voneinander machen 🙂
(Ich habe z.B. keine Korpusdaten zum Gebrauch im Englischen und werde das aus Zeitgründen auch nicht mehr machen.)
@Messlatte: Ich werde sie für den Rest auch etwas senken …
Sehr schön, machen wir so.
Vorschlag: Zeitgleiche Veröffentlichung.. um Mitternacht? Oder morgen?
Mitternacht klingt gut!
Ich widme mich derweil dann mal entfr(ie|eu)nden.
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