Ich trage seit Urzeiten die Kindheitserinnerung mit mir herum, dass ich lange Zeit dachte, die Goten bei Asterix und die Goten hätten einen Sprachfehler, weil sie immer f statt s sagten. Wer’s nicht kennt: Die Goten “sprechen” in Frakturschrift. Das ist eine sogenannte “gebrochene Schrift”, die neben dem runden <s> auch das lange <ſ> besitzt. (Die Verteilung ist ganz grob: Silbenanfang und ‑mitte <ſ>, Silbenende <s>.) Nun habe ich eben einmal nach einem Beispiel gegooglet und entdeckt, dass die Erinnerung wohl falsch ist: In den Comics wird immer das <s> benutzt. Hier z.B. müsste das <ſ> in <marschieren>, <ist> und <Lust> stehen und auch hier ist es nirgends zu finden. Eine vom heutigen Standpunkt aus leserfreundliche Entscheidung.
Dass <ſ> und <f> sich in gebrochenen Schriften sehr ähnlich sehen, ist ja recht weit verbreitetes Wissen:
r gegen r!
Aber wusstet Ihr, dass es zwei Schreibungen von <r> gab? Schaut mal:
Das normale (blaue) <r> hat einen graden Strich, von dem ein kleiner abgeht, das andere (orange) <r> ist ein Häkchen. Entsprechend nennt man es auch “rundes r”. Seine Urheimat scheint sich nach dem <o> zu befinden (aber <Sorgfeltigkayt>!). Prinzipiell kann es auch nach einem normalen <r> auftreten, dieser Text hier macht das aber nicht. Ebenfalls möglich ist es nach anderen Buchstaben, die ähnlich dem <o> einen Bauch haben:
(Je nach Schriftart wäre <y> auch noch ein Kandidat.) In meinem Beispieltext ist das runde <r> bisher außer nach <o> nur noch nach <p> vorgekommen, allerdings nicht konsequent:
Im Gegensatz zu den beiden <s>-Varianten verzichten viele (vor allem spätere) Texte auf das runde <r> und da es sich viel weniger von seinem Geschwisterchen unterscheidet als das <ſ> vom <s>, ist es dort, wo es vorkommt, für heutige Leser viel schneller zu entziffern.
Wo wir grade beim Entziffern sind: Es gibt da noch so ein paar Tricks, die diese alten Texte drauf haben. Am häufigsten sind wohl zwei Abkürzungsstrategien: der Nasalstrich und der r‑Haken.
Der Nasalstrich
Der Nasalstrich ist ein Strich (manchmal auch eine Tilde), der anzeigt, dass man einen Nasal – also <n> oder <m> – weggelassen hat. Er wird über den vorhergehenden Buchstaben gesetzt, wie hier:
In den meisten Fällen ersetzt er ein <n> (morgen, nüchteren, essen, von, vergifftung) oder ab und an auch mal zwei (dann). Er kann aber auch für ein <d> in der Kombination <nd> stehen. Das ist fast nur bei <vn(n)d> ‘und’ der Fall:
Auch möglich ist, dass er eine ganze Endung ersetzt, also z.B. <en>. Dafür habe ich hier keine Beispiele, aber anderswo taucht es regelmäßig auf.
Den Nasalstrich habe ich noch vor wenigen Jahren in Aktion gesehen, und zwar auf handgeschriebenen Notenblättern im tiefsten Siebenbürgen. Dort waren <nn> und <mm> konsequent so abgekürzt.
Der r‑Haken
Gelegentlich verkürzte man auch <r>-haltige Elemente, also <r> + irgendeinen Vokal, indem man ein winziges Häkchen über den vorangehenden Buchstaben setzt. Besonders beliebt bei <der> oder <oder>:
Und ich bilde mir ein, dass der Minipunkt hier auch ein r‑Haken ist, also <vergifftung>:
<u> und <v>
Zuguterletzt noch etwas ganz enorm Nützliches: <u> und <v> sind in älteren Texten nicht so verteilt wie heute! Statt dessen lautet die Regel grob: Egal welcher der beiden Laute gemeint ist, am Wortanfang steht immer <v> und in der Wortmitte immer <u>. Daher in den Schnipseln oben <vnd> für und und<Vnmuot> für Unmut neben dem erwarteten <v[er]gifftūg> . Und umgekehrt <daruor> für davor neben dem erwarteten <auch>. Oder <Nachuolgentte> für Nachvolgende Nachfolgende:
Alles klar? Ich schenke euch noch zwei gemeine Kleinbuchstaben, und dann kann’s mit dem Lesen losgehen 😉
Lektüre
Ich habe natürlich etwas inhaltlich Spannendes ausgesucht: Es geht um die “Unkeuschheit” und darum, wer sie wann betreiben sollte. Ich vermute stark, dass Selbstbefriedigung gemeint ist:
Quelle: Alle Textbeispiele stammen aus Ordnung vnd Regiment wider die erschrocklichen kranckhaut der Pestilentz …, gedruckt 1533 in Regensburg (zum VD16-Eintrag).
Wieder sehr schön gemacht, bin froh über deinen Blog gestolpert zu sein 🙂
Aber inhatlich:
In Karin Schneiders (sehr empfehlenswertem!) Buch “Paläographie/Handschriftenkunde” weist sie darauf hin, dass das runde r im späteren 13. Jahrhundert sogar nach a auftauchte, wohl immer noch als Ligatur.
Sind deine Beispiele Drucke? Ich erkenne es nicht so genau… Dass dort irgendwann ein buntes mischen der Formen aufkam ist ja nicht verwundertlich — ich meine, sogar am Wortanfang schon rundes r gesehen zu haben…
Interessant finde ich in diesem Kontext aber auch das klein geschriebene Majuskel-r im Auslaut, dass wohl in karolingischen Schriften aufkam und vereinzelt bis ins späte 13. Jahrhundert auftauchen konnte (Schneider zeigt ein Beispiel aus dem ersten Viertel des 13. Jh., Cgm 5256, Bl. XXIra).
Hey, danke für das Lob!
Ja, die Vorlage ist ein Druck. (Steht auch in der Quellenangabe.)
Ich habe bewusst die Entstehungsgeschichte der ganzen Dinger ausgeblendet, weil’s dann zu umfangreich geworden wäre. (Und auch, weil ich mich da nicht sooo auskenne. Habe vor Ewigkeiten mal bei einem Workshop mitgemacht, aber es scheinen keine Schriftzeugnisse überlebt zu haben.)
Die Neuauflage des empfehlenswerten Buches ist bei uns “zur Erwerbung bestellt”, ich merk’s mir mal mental vor 🙂
Ich habe noch zwei schöne Links (auf Englisch):
— Zum runden r (mit vielen Beispielen)
— Verteilung von s und ſ in Antiqua
Vielen Dank für diesen sehr informativen und solide machten Blog!